Die Ansichten der liberalen russischen Intellektuellen über den Kreml unter Jelzin und Putin

Die Märchen einer Kreml-Diggerin(*) von Jelena Tregubowa

Der politische Journalismus hat im postsowjetischen Russland Dutzende von Büchern hervorgebracht. Die meisten sind in einem langweiligen, schwülstigen Stil verfasst. Einige befassen sich mit den jüngsten Skandalen. Andere konzentrieren sich auf Angelegenheiten, die nur einem sehr kleinen Kreis von Menschen bekannt sind, wobei die Autoren nicht darauf aus sind ein allgemeines Bild oder eine Analyse der Ereignisse zu liefern, sondern vielmehr ihre "Insiderinformationen" zu "verkaufen" und damit Eindruck zu schinden.

Diese Bücher haben nur eine kurze Lebensdauer: in dem Augenblick, in dem die in ihnen berichteten Fakten einem größeren Lesepublikum bekannt geworden sind, verlieren sie ihren Wert.

In weiten Teilen bildet das Buch von Jelena Tregubowa keine Ausnahme von dieser Regel. Es ist jedoch insofern wertvoll, als es in einem lebendigen und frischen Stil geschrieben ist, einige Elemente enthält, die der Wahrheit recht nahe kommen und ab und zu einen kühnen und spöttischen Ton anschlägt.

Sogleich nach dem Erscheinen im letzten Herbst erreichte Tregubowas Buch einen Bekanntheitsgrad, der an die Publikation der Memoiren des ehemaligen Leibwächters von Jelzin, Alexander Korsakow erinnert.

Mit Ausnahme von ein paar Episoden enthalten die Märchen einer Kreml-Diggerin wenig Neues . Dieses Buch ist nicht wegen seiner schockierenden Enthüllungen so skandalumwittert, sondern weil es überhaupt erschienen ist. In Anbetracht der vollständigen Ausmerzung jeglicher Transparenz der politischen Vorgänge in Russland, dem vollständigen Fehlen öffentlicher politischer Debatten und dem künstlich erzeugten Mini-Persönlichkeitskult um Präsident Putin nimmt sich jede mehr oder wenig wahrheitsgetreue Darstellung wie eine Offenbarung aus.

Porträts der russischen Elite

Tregubowas Buch liefert keine Erzählung politischer Ereignisse. Es setzt sich vielmehr aus Porträts von Personen zusammen, zu denen sie persönlich Kontakt hatte.

Tregubowa geht auf Sergej Jastrsemskis ausgeprägten Hang zur Heuchelei ein, die er in seiner Funktion als Pressesprecher Jelzins reichlich bewiesen hat. Die Autorin beschreibt Jastrsemskis Fähigkeit, seinen Gesichtsausdruck entsprechend der jeweiligen Notwendigkeiten zu verändern. Wir erfahren Details über den früheren Vizepremierminister und Jelzins einstigen designierten "Nachfolger" Boris Nemzow und seine Neigung zu Überheblichkeit und Eigenliebe.

Walentin Jumaschew, einer der mächtigen Verschwörer von 1990 und Jelzin-Biograph wird als listiger Intrigant und gleichzeitig als schwacher und bemitleidenswerter Mensch geschildert.

Wir begegnen Boris Beresowkis früherem Geschäftspartner und dem Regierungschef unter Wladimir Putin, dem "eisernen" Alexander Woloschin, einem Kettenraucher, der viele Leute mit seinem byzantinischen bürokratischen Eifer nervt. Wir begegnen dem Gutmenschen unter den Oligarchen, Wladimir Jewtuschenkow. Wjatscheslaw Surkow, der frühere stellvertretende Chef des Präsidialamts, wird als ehemaliger literarischer Stümper enttarnt.

Tregubowa legt eine besondere Sympathie für Anatoli Tschubais an den Tag, den sie mehr als einmal als "Ritter in schimmernder Rüstung" tituliert und als "vollkommen selbstlosen Menschen". Gegen Ende des Buchs beginnt sie jedoch Zweifel an ihren eigenen früheren glühenden Lobpreisungen zu äußern. Diese und viele andere Skizzen in diesem Buch bestätigen, dass der Kreml keineswegs von großartigen Persönlichkeiten bewohnt wird, sondern vielmehr von Gnomen, die charakteristisch sind für eine Epoche des Niedergangs.

Was das betrifft, ist die Schlussfolgerung der Autorin ziemlich hart: "Von Anfang an bin ich an das Studium der Einwohner des Kreml herangegangen wie ein Zoologe oder ein Betrachter von einem UFO aus. Um etwas genauer zu sein - im Laufe all der Jahre im Kreml, fühlte ich mich wie eine Diggerin im Fantasylfilm, die in ein tiefes Loch hinabsteigt und in vollständiger Dunkelheit und bestialischem Gestank sich ihren Weg durch ein verwirrendes Labyrinth bahnt. Und das Quälendste ist dann schließlich der Kontakt mit den Einwohnern dieses Ortes. Äußerlich betrachtet erinnern sie irgendwie an Menschen, aber in Wirklichkeit sind sie keine Menschen, sondern irgendwie etwas Anderes, etwas, das biologisch nicht mit uns gekreuzt werden kann."

Dies sind die härtesten Urteile in Tregubowas Buch. Unglücklicherweise hält sie das Niveau dieser Kritik nicht durch. Sie schreibt einen großen Teil der Episoden des Buchs mit unverhohlenem Vergnügen daran, dass sie selbst ein Mitglied dieser "hohen Kreise" gewesen ist. In dem gleichen oben zitierten Vorwort verwässert sie ihre bissige Einschätzung durch das Eingeständnis, dass sie es sehr angenehm empfunden habe sich "unter diesen Wesen zu befinden, die ständig versuchen sich nicht nur gegenseitig zu verschlingen, sondern auch noch alle anderen um sich herum".

Tregubowas Haltung ist widersprüchlich, weil sie die dunkle Seite des "täglichen Lebens" der russischen Elite enthüllt und sich gleichzeitig als Teil derselben betrachtet.

Der Aufstieg Putins

Tregubowa räumt Putin einen besonderen Platz in ihrem Werk ein, denn das gesamte Buch ist als eine scharfe Kritik der Persönlichkeit des augenblicklichen russischen Präsidenten konzipiert.

Tregubowas Bekanntschaft mit Putin datiert zurück in den Mai 1997, als dieser als Chef des Zentralen Kontrollbüros des Präsidenten in seinem Moskauer Büro im Bezirk des Alten Platzes Journalisten zu einer Pressekonferenz hinter geschlossenen Türen versammelte. Zu dieser Zeit war Putin selbst dem Pressekorps des Kreml unbekannt. Die Autorin beschreibt ihn als "kleinen, langweiligen, geistlosen Mann", "der aus irgendeinem Grund nervös seine Backenknochen bewegt". Weiter heißt es in Tregubowas Porträt:

"Seine Augen waren nicht einfach farblos und indifferent - sie waren im Allgemeinen leer. Es war sogar unmöglich auszumachen, wohin er eigentlich guckte, als wenn sein Blick sich in Luft auflöste und sich über die Gesichter derer ausbreitete, die ihn umgaben. Perfekt sich mit den Wandfarben seines Büros deckend, vermittelte diese Person den anwesenden Gesprächspartnern den Eindruck, als sei er gar nicht da."

Diese Pressekonferenz sollte Putin als politisches Debut dienen. Er benutzte sie, um das politische Konzept darzulegen, das die Orientierungspunkte für sein späteres Handeln als Präsident liefern sollte.

Nachdem er das Chaos, das im Land herrschte und die Art und Weise beschrieben hatte, wie die regionalen Eliten außer Kontrolle gerieten, brachte Putin seine These vor, nach der "allein der KGB" in der Lage sei, "die Verwesung des Landes aufzuhalten." Unsere Organe, der FSB (Nationaler Sicherheitsdienst) oder vielmehr dessen Nachfolger, das Komitee für staatliche Sicherheit", sagte Putin, "waren nicht unmittelbar mit der kriminellen Welt verbunden, sondern mit Spionage und Gegenspionage beschäftigt und haben insofern einige Integrität bewahrt."

Wie Tregubowa bemerkt, ähnelte alles, was Putin sagte, "sehr einer Kriegserklärung. Das Kremlregime hatte sich entschieden, gegen alle Krieg zu führen, die in Wirklichkeit die Macht im Lande hatten."

Was jedoch sehr schnell klar wurde, war, dass Putins barsche Ankündigungen im Sande verliefen. Der Hauptgegenstand seiner Kritik, der durch und durch korrupte Gouverneur der Region Primorski Jewgeni Nasdratenko, wurde keineswegs bestraft. Stattdessen erhielt er nach einem Deal hinter der Kulissen einen hochangesehenen Posten in der Ministerialbürokratie des Kreml. Dafür musste er sein Gouverneursamt aufgeben. Tregubowa gibt zu, dass diese "durch und durch kriminelle Ethik", die der neue russische Präsident an den Tag legte, sie in Erstaunen versetzte. Putin ordnete persönlich die Einstellung aller strafrechtlichen Untersuchungen gegen Nasdratenko an.

Im Mai 1998 wurde Putin zunächst zum Vorsitzenden der Präsidialbehörde ernannt und im Juli des gleichen Jahres zum Leiter des FSB. Putins Aufstieg hatte mehrere Ursachen, einige davon nennt Tregubowa.

Damals kollidierte die Jelzin Regierung gerade mit einigen aufmüpfigen regionalen Führungsschichten und angriffslustigen Oligarchen. Während die Regierungen in verschiedenen russischen Regionen Großunternehmen Steuerstundungen erlaubten und die Auszahlung von Löhnen, Renten und Stipendien aussetzten, während die Oligarchen damit begannen Streiks und Demonstrationen von Bergarbeitern zu provozieren, um die Regierungspolitik in eine ihnen genehme Richtung zu lenken.

Putin selbst empfahl sich als jemanden, der in der Lage war, die Methoden und den Apparat des Geheimdiensts zu nutzen, um Druck auf die Gegner der Kremlmacht auszuüben. Auf diese Weise rückte er unter den möglichen Kandidaten für Jelzins Nachfolge an die erste Stelle. Um seine Wahl im März 2000 abzusichern, benutzte Putin in einem erbitterten politischen Kampf die gleichen offen undemokratischen Methoden, um seine Rivalen zu besiegen. Je mehr die diese undemokratische Politik und solche Methoden um sich griffen und die neue Kremlregierung beherrschten, desto unzufriedener wurde ein beträchtlicher Teil der liberalen demokratischen Intellektuellen mit ihr.

Das postsowjetische Regime verlangte bedingungslosen Gehorsam von den Massenmedien. Die Verteidigung der Rechte der Journalisten wurde zum Ausgangspunkt der Konflikte Tregobowas mit dem Kreml.

Tregobowa verurteilt Putins Regime wegen seiner autoritären Tendenzen und Angriffe auf die Meinungsfreiheit und kanzelt zugleich viele ihrer Kollegen als erbärmliche und rückgratlose Konformisten ab.

Auf welcher Grundlage tut sie das?

Viele der in Tregobowas Buch erzählten Episoden deuten darauf hin, dass ihre Ablehnung Putins hauptsächlich von ihrer Ansicht herrührt, dass er die kapitalistischen "Reformen" nicht kräftig genug vorangetrieben hat. Sie erweist sich in ihrem Buch als glühende Verfechterin der Marktwirtschaft, für die die Profitinteressen der neuen Spitzenunternehmer das Höchste sind. Für sie sind Gesellschaft und Nation nichts als die Kulisse, vor der sich der heilige Prozess der Bereicherung abspielt.

"Der einzige Weg, auf dem unser Land reformiert werden kann, ist - alle Sowjetfabriken müssen in die Luft gesprengt werden," schreibt sie.

Jelena Tregobowa ist eine typische Repräsentantin der Moskauer Journalistenelite, eine Verkörperung der Mittelklasse, von der manche glauben, dass sie sich in Russland herausbilde. Sie war als Kremlkorrespondentin bei der Regierung akkreditiert und arbeitete vier Jahre lang für die angesehensten Zeitungen des Landes Kommersant, Russkij Telegraf und Iswestija. Als relativ junge Frau, sie war erst 30, als ihr Buch erschien, sog sie den "Geist der neunziger Jahre" in sich auf, eine Zeit, in der die liberaldemokratischen Auffassungen und Illusionen tiefe. Wurzeln schlugen.

Tregobowas Buch deckt die gesamte Periode der nachsowjetischen Geschichte Russlands ab, in der der Kreml von einer breiten Schicht liberaler Intellektueller als Träger all ihrer Hoffnungen angesehen wurde - der Hoffnungen, dass sich Russland im Geist einer westlichen demokratischen Marktwirtschaft entwickeln würde. Eine Zeitlang ertrug diese Schicht Jelzins absurde Eskapaden, seine persönliche Unfähigkeit und Dummheit und die Bösartigkeit seiner politischen Methoden. Sie glaubte nicht, dass die Methoden des Präsidenten den Veränderungsprozess beeinträchtigten, maßen ihm wenig Bedeutung zu und amüsierten sich gelegentlich über ihn.

Da sie sich selbst mit dem Kreml identifiziert hatten, schlossen die liberalen Intellektuellen die Augen vor den vielen erschreckenden Dinge, die im Lande vor sich gingen. Zwischen den Erwartungen dieser Schicht und der tatsächlichen Kremlpolitik tat sich jedoch ein Abgrund auf. Dementsprechend kühlte ihr Verhältnis zu Jelzin ab.

In den letzten Jahren verschärfte sich der Konflikt zwischen den liberalen Intellektuellen und der Regierung. Außer der Frage der Pressefreiheit spielte dabei der Tschetschenienkrieg eine Rolle als Katalysator in diesem Prozess. Tregobowa sagt relativ wenig über diesen Krieg in ihrem Buch, aber sie drückt ihre Unzufriedenheit über die "Blut und Eisen" Politik im Nordkaukasus aus und beschreibt die Ereignisse in Tschetschenien als "den Krieg, den Putin brauchte, um die Wahl zu gewinnen".

Jelzin-Nostalgie

Auf Grund der Enttäuschung der liberalen Intellektuellen und die soziale Entfremdung, ist ein merkwürdiges neues Phänomen aufgetaucht: Eine Nostalgie der Jelzin-Ära. Diese Entwicklung ist bemerkenswert. Alle Schichten der Bevölkerung sind durch die dramatischen Ereignisse der letzten 15 Jahre aus der Bahn geworfen worden - der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Einführung der "Schocktherapie", die dramatische Zunahme der sozialen Ungleichheit. Ihnen wurde der Boden unter den Füßen weggezogen und sie wurden jeglicher Hoffnung auf eine sichere Zukunft beraubt. Das ist der Grund, weshalb eine starke psychologische Sehnsucht nach den "goldenen Jahren" entstanden ist, die der anschließenden Katastrophe vorangegangen sind.

Der Wunsch nach Rückkehr in die 70er Jahre, der letzten Periode, in der die sowjetische Arbeiterklasse eine gewisse Verbesserung ihrer Lebensumstände erreichen konnte, ist weit verbreitet. Andere sehnen sich nach Gorbatschows "Perestroika". So wie die 70er Jahre ein Gefühl allgemeinen Wohlergehens vermitteln, erinnert man sich an das Ende der 80er Jahre größtenteils als an eine Zeit wachsender gesellschaftlicher und politischer Hoffnungen.

In den 1990er Jahren behandelten die liberalen Intellektuellen solche Ansichten verächtlich als Überbleibsel von "Sowkowost" (ein Ausdruck der Geringschätzung für eine Person, die vermutlich die jüngsten historischen Entwicklungen in Russland nicht verstand und gefühlsmäßig in der Vergangenheit lebte). Sich selbst jedoch betrachteten sie als sicher vor derartig verachtenswerten Manifestationen der Schwäche.

Heute aber fühlt sich ein beträchtlicher Teil dieser Schicht, wenn nicht über Bord geworfen, dann zumindest ohne Ruder. Die Geschichte, so stellten sie fest, blieb weder 1991 (dem "Versagen des Kommunismus") stehen noch 1996 ("dem Sieg der Demokratie"), sondern setze sich vielmehr ihrer eigenen unerbittlichen Logik folgend fort. Enttäuscht von der Politik und den Methoden von Putins Regime entwickelt ein Teil der liberalen Intellektuellen eine Nostalgie für die Ära Jelzins.

Für Tregubowa begann die autoritäre Herrschaft mit Putin. Da sie die wirklichen Gründe für diese Entwicklung nicht versteht, ist sie gezwungen, sie in der Persönlichkeit des russischen Präsidenten zu suchen. Aber wenn alles vom Willen und von den Entscheidungen eines Mannes abhängt, dann könnte die bloße Korrektur der Ansichten dieser Person die Situation verändern. Am Ende läuft Tregubowas Perspektive auf den einfachen Wunsch hinaus, der "gute Putin" möge über den "bösen Putin" siegen. Das ist die Sackgasse, in die der russische Liberalismus geraten ist.

(*) Tregubova, Elena W.: Bajki kremlevskogo diggera. Moskva: Ad Magrginem, 2003

Das Buch ist bisher nicht auf deutsch erschienen. In Besprechungen in der deutschen Presse wird der Titel als " Märchen (oder Erzählungen) einer Kreml-Diggerin" übersetzt.

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