Montagsdemonstrationen in 140 Städten

Zum vierten Mal in Folge protestierten am vergangenen Montag wieder Zehntausende gegen die Sozialkürzungen der rot-grünen Bundesregierung. Allein in den drei Großstädten Leipzig, Magdeburg und Berlin gingen nach Angaben der Veranstalter 60.000 Menschen auf die Strasse. Dazu kamen Demonstrationen und Kundgebungen in insgesamt 140 mittleren und kleineren Städten.

Der Schwerpunkt der Proteste lag erneut in Ostdeutschland, wo die Zahl der Arbeitslosen mit 18,4 Prozent fast doppelt so hoch ist wie in den alten Bundesländern. Wie schon bei den früheren Protesten repräsentierten die Demonstranten einen Querschnitt der Bevölkerung - Rentner, Jugendliche und Arbeitslose, aber auch zahlreiche Arbeiter, Angestellte und Selbständige, die wissen, dass die Folgen der Hartz-IV-Gesetze früher oder später auch sie treffen werden. Viele waren mit ihrer ganzen Familie auf der Strasse.

Insbesondere die Ankündigung von Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement (SPD), es würden 600.000 staatlich subventionierte Ein-Euro-Jobs geschaffen, erhitzte die Gemüter. Viele Demonstranten werteten diese Ein-Euro-Jobs als Provokation. Damit würden keine neuen Arbeitsplätze geschaffen, sondern bestehende, die gegenwärtig noch nach Tarif bezahlt werden, in Billiglohnjobs verwandelt. In Leipzig trugen zwei Frauen ein Transparent mit der Aufschrift: "Was haben wir Ihnen getan Herr Clement, dass Sie uns so behandeln?"

In Magdeburg, der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt, wo die Protestwelle ihren Ausgang genommen hatte, war die Beteiligung dieses Mal nach Angaben der Organisatoren "etwas weniger als letzte Woche". Dafür fanden aber in vielen kleineren Städten im Umkreis ebenfalls Demonstrationen statt. Ein Team, das eine Erklärung der Partei für Soziale Gleichheit als Flugblatt verteilte, stieß auf großes Interesse an politischen Informationen und Diskussionen. Ein 39-jähriger Kraftfahrer, Vater einer vierköpfigen Familie, beteiligte sich spontan an der Verteilung des Flugblatts.

Obwohl die Regierung in den letzten Tagen immer wieder deutlich gemacht hat, dass sie zu keinerlei Zugeständnissen bereit ist, und dabei von allen großen Parteien, den Unternehmerverbänden, den Kirchen und den meisten DGB-Gewerkschaften unterstützt wird, gaben sich viele Demonstrationsteilnehmer der Illusion hin, man könne die Regierung über verstärkten Druck zum Rückzug zwingen.

Ein älterer Teilnehmer, der an der Organisation der Demonstration beteiligt war, betonte, dass der Druck von Seiten der Bevölkerung unbedingt noch weiter zunehmen müsse, "um dem Kapital die Grenzen aufzuzeigen". Ein pensionierter Maschinenbauer sagte, die Bewegung dürfe sich nicht zersplittern lassen und müsse so lange hart bleiben und sich ausweiten, bis die Reformen zurückgenommen würden. Die Bewegung müsse Kohls Versprechungen von 1989-1990 einfordern.

Ein Arbeiter, der 30 Jahre in einem Maschinenbaubetrieb tätig war und 1997 entlassen wurde, trug ein Schild: "Deutschland 2004: Der Sozialismus ist für CDU, SPD, FDP, Grüne und PDS verwirklicht. Die Bevölkerung wird ausgesperrt." Er schimpfte auf frühere SED-Bonzen, die nach der Wende ihre Karriere in den Betrieben fortgesetzt und Arbeiter entlassen hätten. Er habe dies am eigenen Leibe erfahren.

Ein seit 1992 arbeitsloser älterer Autoschlosser sagte, dass sich seine Hoffnungen nach der Wende nicht erfüllt hätten. Er habe Kohl und die Wiedervereinigung unterstützt und drei Jahre später die Entlassungsurkunde auf dem Tisch gehabt. Seitdem hangele er sich von einer Beschäftigungsmaßnahme zur nächsten. Den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei betrachtete er als utopisch.

Ein Rentner, Doktor der Ökonomie und früheres SED-Mitglied, der sein Leben lang in einem Chemiekombinat gearbeitet hat, sagte, er habe seine Kollegen schon 1989 vor den Folgen der Einführung des Kapitalismus gewarnt, sei jedoch auf taube Ohren gestoßen. Er habe 1989 an den Demonstrationen gegen die DDR-Regierung teilgenommen, weil er eine demokratischere DDR wollte. Er meinte, im Grunde müsste eine neue sozialistische Bewegung aufgebaut werden, hielt dies aber für unmöglich. Die PDS werde jedenfalls nicht zum Ausgangspunkt einer solchen Bewegung werden. Das wisse hier in Sachsen-Anhalt jeder, seit die PDS im berühmten "Magdeburger Modell" die rot-grüne Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Höppner unterstützt habe. Er wähle aber trotzdem die PDS, weil die anderen Parteien noch schlimmer seien.

Zwei Soziologiestudenten waren aus Hannover angereist, um die Demonstrationsbewegung im Osten zu unterstützen.

In Berlin fanden zwei getrennte Demonstrationszüge statt. Das Protestbündnis "Weg mit Hartz IV", in dem Attac und PDS den Ton angeben, marschierte zur Bundeszentrale der Grünen - offensichtlich um die im Berliner Senat regierenden Parteien SPD und PDS zu entlasten. Die Initiative "Montags gegen 2010", die von der maoistischen MLPD beeinflusst ist, zog vor die SPD-Zentrale.

Auch in Leipzig war es in der vergangenen Woche im Organisationskomitee der Demonstration zu Meinungsverschiedenheiten gekommen. Das Aktionsbündnis "Soziale Gerechtigkeit - Stoppt den Sozialabbau" hatte den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine als Sprecher für die Abschlusskundgebung am kommenden Montag eingeladen. Der bisherige Veranstalter der Demonstrationen, das "Sozialforum Leipzig", lehnte das ab.

Gegenüber der WSWS erklärte der Forumsprecher Winfried Helbig: "Die Einladung Lafontaines war erstens nicht mit dem Sozialforum abgesprochen, und zweitens widerspricht sie unseren Prinzipien. Wir haben immer gesagt, dass wir parteipolitisch unabhängig sind und keine Parteivertreter und Spitzenpolitiker hier wollen. Da bildet auch Lafontaine keine Ausnahme." Helbig betonte, die Montagsdemonstrationen seien als Bürgerforum entstanden, und es sollten vor allem Betroffene zu Wort kommen.

An diesem Montag machten viele Teilnehmer während des Rundgangs durch die historische Innenstadt Leipzigs ihrer Wut und Empörung über die unsoziale Politik der Regierung Schröder Luft. Zwar fanden Sprechchöre wie "Schröder, Merkel, Hundt - treibt es nicht zu bunt" oder "Clement in die Produktion - aber nur für Billiglohn" nur wenig Widerhall, doch die Anzahl der Plakate und Transparente mit der Aufschrift "Schröder muss weg!" hatten gegenüber letztem Montag deutlich zugenommen. Auf die Frage, durch wen Schröder ersetzt werden solle, wenn er zum Rücktritt gezwungen werde, antworteten zwei Frauen, die ein entsprechendes Transparent trugen: "Es gibt heute niemanden, der unsere Interessen vertritt - die CDU nicht und die FDP erst recht nicht. Aber Schröder muss weg."

Peter Otto (54) trug ein Plakat mit der Aufschrift: "1989-2004 - Wir sind das Volk - Verrat!" Gegenüber der WSWS sagte er: "Wir werden jetzt schon zum zweiten Mal verraten und verkauft. Erst hat Kohl blühende Landschaften versprochen und dann Schröder Arbeitsplätze und soziale Gerechtigkeit. Eigentlich sollte die Politik vom Volk ausgehen, aber auch wenn wir rufen ‚Wir sind das Volk!', uns fragt keiner."

Otto berichtete, er habe in der DDR jahrelang in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) gearbeitet. Gleich nach der Wende habe er die Initiative ergriffen und sich selbstständig gemacht. Sein ganzes Geld habe er in eigene Maschinen investiert und nicht selten 12 oder 15 Stunden und mehr täglich gearbeitet. Aber gegen die Konkurrenz der Großbetriebe und die Seilschaften in den Stadtverwaltungen habe er keine Chance gehabt. Seit vier Jahren sei er nun arbeitslos. "Was mich am meisten ärgert, ist die Frechheit, mit der einig Politiker behaupten, wir seien faul und arbeitsscheu. Das ist wirklich die Höhe" empörte sich Otto.

Auch auf der abschließenden Kundgebung sprachen mehrere Arbeitslose, die direkt von den Sparmaßnahmen betroffen sind. Ein Legastheniker schilderte, mit welcher Arroganz die Behörden auf seine Behinderung reagierten, und eine fast blinde Frau klagte die Regierung an, es sei eine Schande, wie sie mit den Schwächsten in der Gesellschaft umgehe.

Götz Rubisch, ein Arbeitsloser aus Halle, rief unter dem Beifall der Demonstranten: "Was haben wir denn verbrochen, dass man uns mit Armut bestraft? Sind wir nicht mehr als einen Euro in der Stunde wert? Ist es zuviel, was wir fordern? Wir wollen doch nicht mehr, als von unserer eigenen Hände Arbeit in Würde leben." Dann erinnerte er an die Propaganda, mit der vor 15 Jahren der Westen und vor allem die USA in rosiges Licht getaucht worden seien. "Was wurde uns nicht alles vorgelogen. Aber jetzt wissen wir, was Kapitalismus ist und dass in den USA viele Menschen zwei oder sogar drei Jobs haben müssen und nicht selten 14 Stunden arbeiten, um sich und ihre Familie mit meist schlechtem Essen zu ernähren."

Zum Abschluss sprach Christa Czech, eine ältere Leipzigerin, die im vergangenen Jahr einen Brief an die Bundesregierung - in Form einer "Eingabe", wie es zu DDR-Zeiten üblich war -geschrieben hatte. Ihr Brief begann mit den Worten: "Im Namen aller, deren Stimme nicht gehört wird oder die längst resignieren, möchte ich mich aus großer Sorge um unser Land in die Politik einmischen." Für sie stelle sich die Situation folgendermaßen dar: "Ein Viertel der Deutschen teilen sich drei Viertel der vorhandenen Finanzen. Dagegen müssen sich drei Viertel der Deutschen das verbleibende Viertel des Geldes teilen. Das kann doch nicht wahr sein! Vor der letzten Bundestagswahl wurde uns mehr soziale Gerechtigkeit mit der SPD versprochen. Doch was ist davon geblieben? Nur leere Worthülsen!"

Sie warnte davor, dass durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe immer mehr Menschen in bittere Armut und Not bis hin zum Selbstmord getrieben würden und forderte, dass auch die Großverdiener "alle ohne Ausnahme" an der Finanzierung der Sozialsysteme beteiligt werden müssten.

Siehe auch:
Große Koalition für Hartz IV
(21. August 2004)
Die Montagsdemonstrationen: 1989 und heute
( 20. August 2004)
Proteste gegen Hartz IV weiten sich aus
( 18. August 2004)
Wie weiter im Kampf gegen Hartz IV?
( 14. August 2004)
Die PDS und Hartz IV
( 13. August 2004)
Was will Lafontaine?
( 12. August 2004)
Loading