Neue EU-Kommission im Zeichen des Wirtschaftsliberalismus

Als der neue Präsident der Europäischen Kommission, Jose Manuel Barroso, Anfang August die Zusammensetzung seiner Kommission bekannt gab, achteten die meisten Kommentare sorgfältig darauf, wie viel Gewicht den jeweiligen Vertretern des "alten", bzw. "neuen" Europa - wie es im Jargon von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld heißt - beigemessen wurde.

Die Presse der Vereinigten Staaten und Großbritanniens war zufrieden, weil sie Hinweise auf einen verminderten Einfluss der französisch-deutschen Achse auf die europäischen Angelegenheiten zu erkennen glaubten; besonders freuten sie sich über die deutliche Spitze gegen Frankreich.

Zweifellos war in Barrosos Zusammenstellung der neuen Kommission eine solche Verschiebung der politischen Beziehungen innerhalb Europas erkennbar. Barroso selbst verdankt seine Position der Akzeptanz, die er in Washington, London und bei andern, US-freundlichen Regierungen in Europa genießt - besonders bei den osteuropäischen Neuzugängen. Er war im Juni ernannt worden, nachdem der von Deutschland und Frankreich favorisierte belgische Premierminister Guy Verhofstadt abgelehnt worden war.

Verhofstadt hatte sich auf die Seite Frankreichs und Deutschlands gestellt, als diese es ablehnten, den US-Krieg gegen den Irak zu unterstützen. Barroso dagegen hatte unmittelbar vor dem Irakkrieg den Azorengipfel ausgerichtet, auf dem Präsident George W. Bush, der britische Premier Tony Blair und der italienische Staatschef Silvio Berlusconi versucht hatten, eine Unterstützung der amerikanischen Aggression durch die Vereinten Nationen zu erreichen. Bush gratulierte Barroso sogar telefonisch zu seiner Ernennung.

Als Barroso die Kommission zusammenstellte, versuchte er sicherlich, alle Seiten zufrieden zu stellen und sein Versprechen einzulösen, die europäische Spaltung über die Irakkrise zu kitten und wieder bessere Beziehungen zu den USA herzustellen. Dennoch hat seine Ernennung ohne Zweifel jene Regierungen gestärkt, die als engere Verbündete Washingtons gelten, und dies auf Kosten von Deutschland und Frankreich.

Der Schlüsselposten des Handelskommissars, der für die Koordinierung der europäischen Handelspolitik zuständig ist und die diesbezüglichen Verhandlung in ihrem Namen führen muss, ging an den Briten Peter Mandelson. Der diskreditierte Ex-Minister, der in nur drei Jahren zweimal zurücktreten musste, ist einmal mehr auf die Bühne zurückgekehrt, weil er ein wichtige Blair-Berater ist und weil man auf ihn zählt, wenn es darum geht, bestimmte politische Ziele rücksichtslos durchzusetzen.

Blair hat sich öffentlich verpflichtet, irgendwann nach den Parlamentswahlen 2005 ein Referendum über die Ratifizierung der Europäischen Verfassung abzuhalten. Deshalb wird Mandelsons Aufgabe darin bestehen, sicherzustellen, dass die europäische Politik der von England favorisierten Richtung folgt, die sich stark auf die transatlantische Allianz stützt und auf Deregulierung und freie Marktwirtschaft ausgerichtet ist. Er sieht sein Ziel darin, nicht etwa die Wählerschaft, sondern Blairs Hintermänner in den Chefetagen der Konzerne und Banken davon zu überzeugen, dass es möglich ist, Europa mit ihren Interessen in Übereinstimmung zu bringen.

Barroso widersetzte sich der Forderung Deutschlands, einen "Superkommissar" einzusetzen, der für Industrie, Wettbewerbskontrolle, Steuern und Binnenmarkt zuständig sein sollte; Gerhard Schröder hatte für diesen Posten Günter Verheugen vorgesehen. Der deutsche Kommissar für Erweiterung erhielt stattdessen das Kommissariat für Industrie und Unternehmen, aber keine Vetovollmacht. Das Binnenmarkt-Ressort ging an Irlands früheren Finanzminister, Charles McCreevy. Die irische Wirtschaft ist bei amerikanischen Konzernen als Standort für Investitionen beliebt, und die irische Regierung ist ein treuer Bündnispartner Washingtons.

Eine noch krassere Brüskierung musste Frankreich hinnehmen. Paris hatte deutlich klargemacht, dass es auf die Schlüsselposition des europäischen Kommissars für Wettbewerbskontrolle rechne. Aber der französische Kommissar Jacques Barrot erhielt nur das Verkehrsressort.

Barrosos neue Wettbewerbskommissarin ist stattdessen Neelie Kroes-Smit aus den Niederlanden, eine rechte Wirtschaftsliberale, die in Holland die Privatisierung von Post und Telekommunikation durchgesetzt hatte.

Zur Beschwichtigung des verletzten Stolzes wurden Verheugen und Barrot zusammen mit Mandelson und zwei weiteren Kommissaren zu Vizepräsidenten erkoren. Aber diese Titel sind rein dekorativ.

Barroso berücksichtigte zudem mehrere Vertreter der neuen EU-Länder. Die Aufgabenbereiche Steuern und Zollunion wurde aus dem Binnenmarktressort herausgelöst und Ingrida Udre aus Lettland anvertraut, das schon vor fast zehn Jahren einen Tiefststeuersatz von 25 Prozent eingeführt hatte, während die Estin Siim Kallas die Aufsicht über die Verwaltung und die Betrugsbekämpfung erhielt. Polen, das größte der neuen Mitgliedsländer, erhielt die Verantwortung für die Regionalpolitik, und der Ungar Laszlo Kocacs das Ressort Energiepolitik.

Sicher gibt es taktischen Differenzen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten; aber der in vielen amerikanischen Zeitungen unterstellte Gegensatz existiert so nicht. Zum Beispiel begrüßte das Wall Street Journal den Aufstieg der US-freundlichen Europäer nicht nur wegen ihrer Bereitschaft, den US-Krieg im Irak zu unterstützen, sondern auch wegen ihrer "im Wesentlichen wirtschaftsfreundliche Politik". Ähnlich wurden Barroso, Kroes-Smit, Mandelson und McCreevy wegen ihrer "bisherigen Politik der freien Marktwirtschaft" gelobt. Das Wall Street Journal bezeichnete Barrosos Ernennung der Lettin Ingrida Udre als klare Botschaft an Paris und Berlin, "dass sie ihre Forderung nach einer europäischen Mindeststeuer vergessen können, mit der der Steuerwettbewerb aus dem Osten unterbunden werden soll".

Natürlich stimmt es, dass die Angriffe auf den Sozialstaat und die Aufhebung der Restriktionen für das Kapital in Großbritannien, Irland und Osteuropa schon sehr weit fortgeschritten sind. Es wäre jedoch lächerlich, Berlin und Paris als Bastionen der Wirtschaftsregulierung und sozialen Absicherung hinzustellen. Washington und seine Verbündeten sind möglicherweise mit dem Tempo unzufrieden, mit dem Frankreich und Deutschland ihre alten sozialstaatlichen Errungenschaften abbauen, aber sowohl Präsident Chirac als auch Kanzler Schröder sind entschlossen, ihr jeweiliges Kahlschlagsprogramm gegen die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse fortzusetzen.

Die Versuche der deutschen Regierung, als Teil ihrer "Agenda 2010" Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe anzugreifen und damit langjährige Errungenschaften abzuschaffen, haben besonders im verarmten Osten des Landes massenhafte Demonstrationen provoziert.

Barrosos neues Team stellt in Wirklichkeit eine Kriegserklärung an die Arbeiterklasse im Namen des europäischen und internationalen Kapitals dar. Es ist eine weitere Bestätigung dafür, dass das Kapital und seine Regierungen mit der Politik der Klassenkollaboration endgültig Schluss gemacht haben.

In allen europäischen Staaten werden Arbeiter in den kommenden Monaten mit einer immer heftigeren Offensive gegen ihren Lebensstandard konfrontiert sein. Alle Regierungen sind unabhängig von ihren jeweiligen politischen Farben entschlossen, ihre rechten Wirtschaftsprogramme und den Abbau demokratischer Grundrechte durchzusetzen.

Es ist unmöglich, dagegen mit der Forderung nach einer Rückkehr zu dem ehemaligen gesellschaftlichen und politischen Konsens zu kämpfen, der sich auf eine nationale Regulierung der Wirtschaft stützte. Ein solches nationales Programm würde nur dazu führen, Arbeiter in jedem Land gegeneinander aufzuhetzen, und so zum Versuch des Kapitals beitragen, zu teilen und zu herrschen.

Stattdessen muss die europäische Arbeiterklasse ihre eigene Strategie erarbeiten, um die Kontrolle über die global organisierte Produktion zu übernehmen und sie nach den Bedürfnissen der breiten Bevölkerungsmehrheit umzuformen. Im Zentrum eines solchen Kampfes steht die Perspektive, den Kontinent durch eine gemeinsame soziale und politische Offensive der Arbeiterklasse mit dem Ziel der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zu vereinen.

Siehe auch:
Lehren aus der Europawahl (Erklärung der Partei für Soziale Gleichheit)
(1. Juli 2004)
Trotz Verfassungseinigung dominieren in der Europäischen Union die Differenzen
( 24. Juni 2004)
Nein zur Europäischen Union - Ja zu den Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa (Erklärung der Socialist Equality Party Großbritannien)
( 18. Mai 2004)
Aufruf der Partei für Soziale Gleichheit zur Europawahl: Für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa
( 20. März 2004)
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