Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV

60.000 demonstrieren in Leipzig

Auch in der fünften Woche hielten die Protestdemonstrationen gegen die Sozialkürzungen im Rahmen der Hartz-IV-Gesetze an. In mehr als 200 Städten beteiligten sich am Montag erneut Zehntausende an den Demonstrationen und Kundgebungen. Während in den ostdeutschen Städten die Teilnehmerzahl mehrere Tausend erreichte, lag sie im Westen meist niedriger.

Die mit Abstand größte Demonstration fand in Leipzig statt. Dort zogen 60.000 Menschen von der Nikolaikirche zum Augustusplatz. In Magdeburg, wo die Proteste im Juli begonnen hatten, schwanken die Angaben über Teilnehmerzahlen zwischen 3.000 und 6.000. Sie waren damit deutlich niedriger als in den Wochen zuvor. In Berlin beteiligten sich nach Angaben der Veranstalter 15.000 Menschen.

Wie bereits in den vergangenen Wochen waren vor allem Betroffene auf der Strasse: Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Rentner, aber auch zahlreiche Arbeiter, Angestellte und Selbstständige, die befürchten, bald selbst arbeitslos zu werden.

In mehreren Städten kam es aufgrund von Auseinandersetzungen in den Organisationskomitees zur Spaltung der Demonstrationen. In Berlin gab es - wie bereits in der letzten Woche - zwei Demonstrationszüge, die aber beide zur SPD-Zentrale führten, wo zur selben Zeit der Parteivorstand tagte. Die eine wurde von einem Bündnis aus PDS, Attac und einigen Gewerkschaftern organisiert und versammelte sich vor dem Roten Rathaus. Die andere begann am Berliner Alexanderplatz und war von einem Bündnis organisiert, in dem die maoistische MLPD den Ton angibt. Auch in Frankfurt am Main und vielen anderen westdeutschen Städten war das Ziel der Protestmärsche die jeweilige SPD-Landes- oder Kreiszentrale.

In mehreren Städten verteilten Unterstützer der World Socialist Web Site eine politische Erklärung der Partei für Soziale Gleichheit (PSG), die auf den Zusammenhang zwischen Hartz IV und der internationalen Krise des Kapitalismus hinwies, vor der Illusion warnte, diese Krise ließe sich durch eine Rückkehr zur sozialdemokratischen Reformpolitik der 70er Jahre lösen, und zum Aufbau einer internationalen sozialistischen Arbeiterpartei aufrief. Dieses Flugblatt stieß auf großes Interesse.

Berlin

Auf der Roten-Rathaus-Demo in Berlin waren sehr verschiedene Menschen. Viele waren selbst von Hartz IV betroffen. Die Stimmung war sehr diskussionsfreudig. Immer wieder tauschten sich Demonstranten über ihre Situation aus und suchten nach Antworten. Illusionen in Gewerkschaften oder PDS traf man nur bei Wenigen an.

Deutlich wurde aber, dass sich die Demonstrationen - bleiben sie weiterhin ohne eine Perspektive - im Kreis drehen und tot laufen werden. Die Veranstalter waren sichtlich bemüht, jede ernsthafte politische Debatte zu unterdrücken. Die Redebeiträge waren - wie schon bei den früheren Demonstrationen - sehr platt und auf die Parole beschränkt: "Hartz IV muss weg!" Gewerkschafter beschränkten sich darauf, Trillerpfeifen zu verteilen.

Die Menschen, mit denen wir sprachen, hatten zwar kaum mehr Illusionen in die alten Parteien oder Bürokratien, konnten aber selten angeben, welche Lösung sie für die Probleme sehen. Gleichzeitig hatten sie ein klares Gerechtigkeitsempfinden und waren ehrlich über die Entwicklungen besorgt. Sehr viele Demonstrationsteilnehmer erklärten, man müsse die Probleme an der Wurzel packen und die bestehenden Eigentumsverhältnisse ändern.

Marinka K., eine 50-jährige arbeitslose Journalistin, die selbst von Hartz IV betroffen ist, sagte: "Die Reform ist ungerecht und schafft keine Arbeitsplätze. Das ist schlichtes Lohndumping. Das ganze Gesetz basiert auf Lügen. Meine Betreuerin beim Arbeitsamt hat allein für die Medienbranche 800 Leute zu betreuen, aber keine freien Stellen. Ich weiß nicht, wie man die Gesetze stoppen kann, aber ich denke man muss es versuchen."

Eva F., 56 Jahre alt, ist arbeitslose Einkaufsleiterin und ebenfalls direkt betroffen: "Ich will, dass sich etwas ändert, weil sich etwas ändern muss. Aber ich habe kein Rezept für eine Lösung. Es sollten sich alle zusammenschließen. Reichtum ist ja genügend da, wir leben in einem sehr reichen Land, er muss nur anders verteilt werden."

Max M., 49 Jahre alt, ist Arbeitsloser aus der IT-Branche: "Die spielen doch nur Demokratie, und wenn es nicht mehr geht, schießen sie wieder. Das haben sie immer gemacht. 1989 haben die Menschen zunächst gewusst, was sie wollten, wurden dann aber von den Westparteien bevormundet. Heute gibt es gar keine Alternative."

Udo Franzke, 50 Jahre alt, ist arbeitsloser Planungsingenieur: "Das kann so nicht weitergehen, dass sich die Lebensbedingungen mit Hartz IV für so viele Familien verschlechtern. Ab dem ersten Januar nächsten Jahres kann ich den Lebensweg meiner Kinder nicht mehr absichern."

Frankfurt am Main

In Frankfurt am Main distanzierte sich der örtliche DGB offen von den Protesten. DGB-Chef Harald Fiedler sagte der Frankfurter Rundschau am Freitag, der DGB und die hessische SPD seien "sicherlich nicht der richtige Ansprechpartner".

Die Demonstranten ließen sich davon aber nicht beeindrucken. Der Zug wurde unterwegs immer größer. Vor der SPD-Zentrale angekommen, riefen die Teilnehmer nicht mehr "Hartz muss weg", sondern "Schröder muss weg!" Die Rufe wurden noch lauter, als sich einige SPD-Funktionäre an den Fenstern zeigten.

Elise K., eine Teilnehmerin mittleren Alters, die einen auf drei Jahre befristeten Arbeitsvertrag hat, berichtete: "Ich gehe hier mit, weil ich selbst damit rechnen muss, in drei Jahren arbeitslos zu werden. Es hat überhaupt keinen Sinn zu warten, bis man selbst dran ist, denn dann ist es zu spät."

Sie arbeitet in der Betreuung arbeitsloser Jugendlicher, denen sie hilft, Ausbildungsplätze zu finden. Zu ihrer Meinung über die Regierung gefragt, sagte sie: "Für mich ist das ganz furchtbar, aber ich wähle überhaupt nicht mehr, denn es ist ja niemand wählbar. Es hat keinen Sinn, alle vier Jahre ein Kreuz zu machen, da kommt nichts bei rum. Die Politiker leben in Welten, wo sie einfach jeden Bezug zur Bevölkerung, zu den Arbeitslosen, den Jugendlichen und den ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern verloren haben. Es ist wirklich nur noch eine Welt des Kapitals."

Lafontaine in Leipzig

Hauptredner in Leipzig war der früher SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine. Als er zu Beginn der Demonstration vor der Nikolaikirche auftauchte, stürzten sich Reporter und Kamerateams in Scharen auf ihn. Wie auf Bestellung flog ein Ei, das allerdings sein Ziel knapp verfehlte und einen Kameramann traf. Dieser Vorfall wurde anschließend in allen Medienberichten benutzt, um zu behaupten, Lafontaine sei in Leipzig in derselben Art wie Kanzler Schröder wenige Tage zuvor beschimpft und mit Eiern beworfen worden.

Doch die Wirklichkeit war anders. Die wenigen Pfiffe, die zu hören waren, verstummten schnell, als Lafontaine seine bekannte Kritik an der Politik der rot-grünen Bundesregierung wiederholte.

Wie bereits bei früheren Gelegenheiten warf er der Regierung Wahlbetrug vor und erklärte, sie habe jegliches Vertrauen in der Bevölkerung verloren. Schröders Reformpolitik basiere auf "Täuschung und Lügen". Das beginne bereits mit der Wortwahl. Das Wort "Reformen" sei bisher immer mit gesellschaftlichen Verbesserungen in Verbindung gebracht worden. Doch die Bundesregierung strebe für die große Mehrheit nur Verschlechterungen an. "Wer unter Reformen letztlich nur Abbau des Kündigungsschutzes, Kürzung der Arbeitslosenhilfe und Kündigung von Solidarsystemen versteht, der soll das auch sagen!" rief Lafontaine.

Reformen seien nur mit und nicht gegen und auch nicht "über die Köpfe des Volkes hinweg" zu machen. Es sei falsch und dumm, die Last der Reformen den sozial Schwachen aufzubürden und all diejenigen zu schonen, die über große Einkommen und Vermögen verfügen. Unter dem Beifall der Demonstranten rief Lafontaine: "Wir sind ein Volk! - das heißt aber auch, dass alle - und ich meine wirklich alle - in die Sozialkassen einbezahlen müssen." Alles andere sei "blanker Zynismus".

Lafontaine forderte die Demonstranten auf, all denjenigen entgegenzutreten, die darauf abzielten, die Bevölkerung in Ost und West gegeneinander aufzuhetzen. Die Spaltung der Gesellschaft verlaufe "nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Arm und Reich."

Mit seiner Kritik an der "unsozialen und unverantwortlichen" Politik der Bundesregierung heizte Lafontaine die Stimmung unter den Demonstranten kräftig an. Doch was seine Rede kennzeichnete, war die Behauptung, die großen gesellschaftlichen Probleme von Massenarbeitslosigkeit und wachsender Verelendung großer Teile der Bevölkerung könnten überwunden werden, ohne das kapitalistische System in Frage zu stellen.

In seiner fast vierzigminütigen Rede sagte er kein Wort über die Auswirkungen der Globalisierung der Produktion und der internationalen Wirtschafskrise. Kein Wort auch darüber, dass dieselbe unsoziale Politik heute in jedem Land der Welt gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt wird.

Verborgen hinter seiner scharfen Kritik an der Schröder-Regierung wiederholte Lafontaine im Grunde dieselben Illusionen, die vor 15 Jahren, zur Zeit der Wende, über die Möglichkeit eines sozialen, humanen und friedlichen Kapitalismus verbreitet wurden. Doch die politische Wirklichkeit der vergangenen anderthalb Jahrzehnte, die nicht nur in Deutschland, sondern weltweit von steigender Arbeitslosigkeit, wachsender Not und Abbau demokratischer Rechte im Inneren und wachsendem Militarismus und Krieg in der Außenpolitik bestimmt waren, hat gerade diese Illusionen widerlegt.

Daher blieb Lafontaine vor den Demonstranten in Leipzig auch die Antwort auf eine wichtige Frage schuldig: Wenn eine andere Politik im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse möglich ist, warum hat er sie vor fünf Jahren nicht durchgesetzt? Er hatte als Bundesfinanzminister einen wichtigen Hebel der politischen Macht in der Hand und war der Vorsitzende der größten und einflussreichsten Partei. Er war es, der den Weg freimachte für eine Politik, die er nun wortgewaltig anklagt. Deshalb fehlte Lafontaine in Leipzig - trotz des Beifalls - die Glaubwürdigkeit.

Siehe auch:
Hartz IV und die internationale Krise des Kapitalismus
(28. August 2004)
Große Koalition für Hartz IV
( 21. August 2004)
Die Montagsdemonstrationen: 1989 und heute
( 20. August 2004)
Wie weiter im Kampf gegen Hartz IV?
( 14. August 2004)
Die PDS und Hartz IV
( 13. August 2004)
Was will Lafontaine?
( 12. August 2004)
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