Leipzig - industrielle Leuchttürme und wachsende Armut

Blick in eine ostdeutsche Metropole

Einige der größten Protestdemonstrationen gegen Hartz IV fanden in den vergangenen Wochen in der sächsischen Messestadt Leipzig statt. Dort war auch der Bezug zu den Montagsdemonstrationen vor der Wende am deutlichsten, denn von der Leipziger Nikolaikirche waren die wöchentlichen Protestmärsche im Herbst 1989 ausgegangen.

Fast fünzehn Jahre später hat sich die Stadt stark verändert. Die Innenstadt ist herausgeputzt. Viele neue Geschäfte und Bürohäuser befinden sich jetzt neben den alten Patrizier-Villen aus der Gründerzeit und Gebäuden, die an die Zeit erinnern, als Johann Sebastian Bach Kantor in der Thomaskirche war und Johann Wolfgang von Goethe an der Leipziger Universität studierte. Der Hauptbahnhof wurde in ein dreistöckiges Einkaufszentrum mit Springbrunnen und "Erhol-Oasen" verwandelt.

Die Stadtverwaltung ist sehr darauf bedacht, Leipzig als Symbol des "Wirtschaftsaufschwungs Ost" darzustellen. In Hochglanzbroschüren wird die Ansiedlung "neuer zukunftsweisender Industrien" angepriesen. Vor allem die neuen Auto-Werke von Porsche und BMW werden als "industrielle Leuchttürme" gefeiert.

Doch nur wenige Straßenbahnstationen von der Innenstadt entfernt ändert sich das Bild dramatisch: Verwahrloste Häuser, völlig heruntergekommene Fassaden, triste Hinterhöfe. Hier sind Armut und Not regelrecht mit Händen zu greifen. An den geschlossenen und verbarrikadierten Geschäften und Büros kann man ablesen, wie viele Menschen nach der Wende versucht haben, sich selbstständig zu machen, und gescheitert sind.

Ganze Häuserblocks sind leer und verfallen. 100.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter sind seit der Wende in den Westen abgewandert, fast ein Fünftel der Stadtbevölkerung. Die offizielle Zahl der Arbeitslosen in Leipzig liegt bei knapp 20 Prozent. Doch in einigen Stadtvierteln übersteigt sie die Dreißig-Prozent-Marke deutlich, und in vielen Gebieten ist jeder zweite Jugendliche unter 25 Jahren arbeitslos.

Zwar ist die Arbeitslosigkeit im gesamten Osten fast doppelt so hoch wie im Westen, aber Leipzig hat auch für ostdeutsche Verhältnisse überdurchschnittlich viele Arbeitlose und liegt auch bei der Zahl der Sozialhilfeempfänger, der Obdachlosen und der Drogenabhängigen an vorderster Stelle.

Besuch im Erwerbslosenzentrum

"Worüber die Menschen hier vor allem erbost sind, ist die Behauptung von Herrn Clement, Hartz IV sei notwendig, um die Arbeitslosen zu zwingen, endlich Arbeit anzunehmen. Der Mann hat offensichtlich noch nicht begriffen, dass die Menschen hier verzweifelt nach Arbeit suchen, aber keine finden." Mit diesen Worten empfing uns Christian Lamß am Montagmorgen an seiner Bürotür.

Der 51-Jährige leitet das Leipziger Erwerbslosenzentrum (LEZ). Dabei handelt es sich nicht um eine Selbstinitiative von Betroffenen, sondern um ein professionelles Vermittlungs- und Betreuungsbüro für Arbeitslose, das zum Arbeitslosenverband Deutschland E.V. gehört und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband angeschlossen ist. Aus verschiedenen Zuschüssen beschäftigt das Erwerbslosenzentrum ein knappes Dutzend Betreuer und bietet neben Arbeitsvermittlung auch Weiterbildung, Schuldenberatung und Computertraining an.

Christian Lamß schildert die Wut und Empörung, aber auch die Verzweiflung vieler Betroffener, mit denen er täglich zu tun hat. "Ich glaube, in den Berliner Ministerien und im Kanzleramt hat keiner wirklich Ahnung, was hier los ist. Viele Menschen, die hier zu uns in die Einrichtung kommen, wissen nicht mehr ein noch aus und sind völlig verunsichert. Außerdem fühlen sie sich betrogen, und zwar nicht nur, weil diese Regierung, bevor sie dran kam, Arbeitsplätze und mehr soziale Gerechtigkeit versprochen hat, sondern auch ganz konkret.

In der Vergangenheit wurde immer wieder betont, man müsse Eigenvorsorge betreiben und fürs Alter vorsorgen. Nicht wenige haben das getan und eine Altersversicherung abgeschlossen. Und jetzt? - Jetzt bezeichnet diese Regierung eine solche Versicherung als Vermögen und verlangt, dass sie ausbezahlt und verbraucht wird, bevor man auch nur einen Cent Arbeitslosengeld II bekommt. Das ist in höchstem Maße ungerecht."

Manchmal kämen Leute in sein Büro, die nur wissen wollten, ob das wirklich stimme und es gar nicht glauben könnten, berichtet Lamß. "Ich sehe hier nicht nur den lauten Protest auf der Straße jeden Montag und die Tränen bei Gesprächen über Schuldenberatung. Ich sehe auch den stummen Protest derer, die bei einer persönlichen Beratung starr vor sich hinblicken und fassungslos sind."

Auf die Frage, ob künftige Bezieher von Arbeitslosengeld II tatsächlich gezwungen werden könnten, aus einer größeren Wohnung in eine kleinere umzuziehen, antwortete Lamß: "Viele Details dieses Gesetzes sind noch nicht bekannt, denn die Ausführungsbestimmungen liegen im einzelnen noch nicht vor. Daher kommt ja auch die Unsicherheit bei den Betroffenen und manchmal auch bei den Beratern. Dass Minister Clement hier mit Brachialgewalt ein Gesetz durchsetzen will, das nicht nur unsozial sondern noch dazu völlig unausgereift und unfertig ist, macht die ganze Sache noch schlimmer.

Was die Wohnungsfrage angeht, sind bestimmte Größenordnungen vorgegeben. Wenn ich es richtig im Kopf habe für Einzelpersonen 40 qm, für zwei Personen 60 qm usw. Das kann sicherlich bedeuten, dass der eine oder andere verpflichtet wird, seine Wohnung zu wechseln. Vor allem wenn Familien auseinander brechen oder Partner sich schon getrennt haben, aber einer noch in einer großen Wohnung lebt. Entscheiden wird das der jeweils zuständige Sachbearbeiter, und welcher Spielraum für solche Entscheidungen bestehen wird, ist eben noch unklar."

Dann bestätigte Christian Lamß, dass auch er die Nachricht gelesen habe, wonach die Wohnungsbaugesellschaft im Stadtteil Grünau - einer Plattenbausiedlung vergleichbar mit Berlin-Marzahn - nach bekannt werden von Hartz IV ihr bereits beschlossenes Abrissprogramm gestoppt habe, weil sie damit rechne, dass unter den neuen Bedingungen billiger Wohnraum gebraucht werde. Diese Entscheidung einer Wohnungsbaugesellschaft, "die übrigens vom früheren Leipziger SPD-Bürgermeister Hinrich Lehmann-Grube geleitet wird", mache deutlich, was von den Beschwichtigungen des Wirtschaftsministers zu halten sei, der immer wieder behaupte, es werde in den Diskussion über Hartz IV maßlos übertrieben und Angst geschürt.

Auf die Leipziger Montagsdemonstrationen angesprochen, erklärte Lamß, das "Aktionsbündnis: Soziale Gerechtigkeit - Stoppt den Sozialabbau", in dem er mitarbeite, habe bereits im Juni eine Demonstration für den 30. August geplant und angemeldet. Ursprünglich sei geplant gewesen, mit dieser Demonstration die Proteste gegen Hartz IV zu beginnen. Doch dann seien Einzelheiten über das Gesetzesvorhaben bekannt geworden und auf derart starke Empörung gestoßen, dass - ähnlich wie in Magdeburg - die Montagsdemonstrationen viel früher begannen. "Wir wurden von den Ereignissen regelrecht überrollt", erklärte Lamß.

In der Beratungsstelle für Obdachlose

Nur wenige Straßen vom Erwerbslosenzentrum in Leipzig-Gohlis entfernt befindet sich eine Suppenküche für Obdachlose. Jeden Tag werden hier zwischen 50 und 70 Obdachlose mit einem warmen Essen versorgt, berichtet der zuständige Betreuer und erklärt uns, er dürfe keinerlei weitere Auskünfte geben. Eine Anweisung der Amtsleitung verbiete jeglichen unautorisierten Kontakt mit der Presse.

Auch die Leiterin der Beratungsstelle für Wohnungslose "Vier Wände", Constanze Klenk, spricht erst nach langer Rücksprache mit der Amtsleitung mit uns. Offensichtlich ist die Stadtverwaltung sehr bemüht, die soziale Misere zu verbergen. Die Dunkelziffer über die Zahl der Obdachlosen sei sehr groß. Ihre Beratungsstelle registriere etwa 100 bis 150 permanent Wohnungslose. Doch es gebe weit mehr in der Stadt. Viele fänden bei Freunden, Verwandten oder in Gartenlauben Unterschlupf oder lebten noch bei der Familie oder bei Partnern, von denen sie sich längst getrennt hätten.

Hauptursache für die Obdachlosigkeit seien Räumungsklagen wegen Mietschulden. Ob diese Entwicklung durch die Hatz-Gesetze noch schlimmer werde, wollte Frau Klenk nicht definitiv sagen. Die Einzelheiten und Auswirkungen der Neuregelungen seien noch nicht bekannt. "Aber besser wird es bestimmt nicht, so viel steht fest." Das ganze Pferd werde von hinten aufgezäumt. "Woher sollen denn die Arbeitsplätze kommen? In Wirklichkeit dienen die versprochenen 600.000 Ein-Euro-Jobs doch dazu, andere Arbeitsplätze, die heute noch höher entlohnt werden, abzuschaffen. Es geht immer weiter nach unten."

Sie staune manchmal über die Gelassenheit, mit der Minister Clement vor die Kameras trete und seine provozierenden Kommentare abgebe. "Ich glaube das kann man nur so erklären, dass der Mann kein Ahnung davon hat, was er anrichtet und wie die Menschen hier reagieren", sagte sie. "Es gibt so etwas wie Menschenwürde, und wenn man die zerstört, dann werden die Betroffenen unberechenbar. Ich weiß nicht, wie es weiter geht, aber es kann einem Angst und Bange werden."

Siehe auch:
60.000 demonstrieren in Leipzig
(1. September 2004)
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