Geiselnahme in Nordossetien endet mit Blutbad

Die Belagerung einer russischen Grundschule im nordossetischen Beslan endete am Freitag mit einem Blutbad, das über hundert Tote forderte.

Die Schule war am Mittwoch von einer islamistischen Gruppe besetzt worden. Etwa zwanzig Männer und Frauen stürmten sie während der Eröffnungsfeier des Schuljahres, nahmen die anwesenden Kinder und Eltern als Geiseln und trieben sie in die Turnhalle. Der Nachrichtenagentur Itar-Tass zufolge forderten sie die Freilassung von Kämpfern, die im Juni bei Angriffen auf Polizeiwachen in dem zwischen Tschetschenien und Nordossetien gelegenen Inguschetien festgenommen worden waren. Laut Angaben des nordossetischen Innenministers handelte es sich bei den Geiselnehmern um "Osseten, Inguschen, Tschetschenen und Russen".

Obwohl offizielle Stellen nur von 354 Geiseln sprachen, wurden bis zu 1.500 Erwachsene und Kinder festgehalten. Es begannen sofort Verhandlungen über ihre Freilassung. Am Donnerstag wurden auf Vermittlung des ehemaligen inguschetischen Präsidenten Ruslan Auschew 26 Frauen und einige der jüngsten Kinder freigelassen. Es folgte eine Vereinbarung über die Bergung der Leichen von zehn bis zwanzig männlichen Geiseln, die getötet worden waren.

Ab hier sind die Berichte unklar. Anscheinend jagten sich ein oder mehrere Geiselnehmer - möglicherweise eine sogenannte "schwarze Witwe" getöteter tschetschenischer Kämpfer - in der Turnhalle selbst in die Luft, in der die Geiseln ohne Essen und Trinken ausharren mussten. Die Turnhalle soll auch mit Sprengstoff vermint gewesen sein. Etwa dreißig Geiseln versuchten darauf zu fliehen und lösten eine Schießerei aus, die um 10 Uhr in einem Angriff russischer Spezialeinheiten, Hubschrauber, Panzer und gepanzerter Fahrzeuge gipfelte.

Eine Geisel, die sich im Haus befand, sagte aus, es habe eine Explosion gegeben und eine Wand sei eingebrochen. Laut anderen Berichten soll das Dach der Schule eingestürzt sein.

Erste Berichte über die Kämpfe meldeten sieben Tote und bis zu 250 teilweise schwer Verwundete, darunter 180 Kinder. Etwa fünf Geiselnehmer wurden getötet, doch weitere dreizehn verschanzten sich in einem benachbarten Gebäude und lieferten den russischen Truppen stundenlange Gefechte, so dass die Feuerwehr das brennende Schulgebäude nicht löschen konnte.

Ein britischer Fernsehreporter, der sich bei den russischen Truppen aufhielt, sagte, in der Turnhalle lägen mindestens hundert Tote. Diese Zahl wurde am Freitag Nachmittag von der Agentur Interfax bestätigt, die weit über hundert Toten und 400 Verletzte meldete, darunter mindestens hundert Kinder.

Um 11.15 Uhr hieß es, alle Geiseln hätten die Schule verlassen. Die meisten trugen nur Unterwäsche, weil sie anders die Hitze in der überfüllten Turnhalle nicht ausgehalten hätten. Viele bluteten aus Schusswunden.

Der Geiselnahme in Nordossetien waren mehrere Terroranschläge in Russland vorausgegangen, für die wahrscheinlich ebenfalls islamistische Gruppen verantwortlich sind. Am Abend des 24. August wurden zwei Passagierflugzeuge, die von Moskau nach Sotschi bzw. Rostow im Süden des Landes unterwegs waren, gesprengt. Alle Passagiere und die Besatzungen, insgesamt 89 Menschen, kamen dabei ums Leben. Kurz zuvor war auf eine Bushaltestelle in Moskau ein Anschlag verübt worden, bei dem drei Menschen verletzt wurden. Einige Tage später, am 31. August, sprengte sich eine Selbstmordattentäterin am Eingang der Moskauer Metro-Station "Rishskaja" in die Luft und riss neun weitere Menschen in den Tod.

Die Brutalität, die die Täter bei den Anschlägen an den Tag legten, und die Rücksichtslosigkeit, mit der sie gegen wehrlose Kinder vorgingen, haben in Russland und weltweit Schock und Empörung ausgelöst. Die kaltblütigen Morde an völlig unschuldigen Menschen lassen sich durch nichts rechtfertigen und sind entschieden zu verurteilen.

Solche Anschläge werden den Hass nur weiter anheizen und dienen reaktionären politischen Zielen. Außerdem werden sie von der verhängnisvollen Vorstellung geleitet, dass man mit Morden und Geiselnahmen den Kreml von seiner "Blut-und-Eisen"-Politik im Kaukasus abbringen könne. Das Verhalten dieser religiösen Radikalen bringt nicht die Interessen der Bevölkerung zum Ausdruck, sondern eher die Verzweiflung der lokalen nationalen Eliten, die keine wirkliche Unterstützung in der Bevölkerung besitzen und die gleichen Methoden wie ihre Gegner anwenden.

Doch die Hauptverantwortung für die im Nordkaukasus anhaltende Gewalt, die immer mehr auf das Territoriums des übrigen Russlands übergreift, liegt beim russischen Präsidenten und seiner Regierung. Die Gewalt, die in Beslan so schreckliche Blüten trieb, wurde von Wladimir Putin und seinem Vorgänger Boris Jelzin gesät. Der brutale Krieg, den der Kreml seit nunmehr zehn Jahren gegen Tschetschenien führt, fördert das Anwachsen separatistischer Bestrebungen, verstärkt die Verzweiflung der örtlichen Bevölkerung und treibt neue Schichten Jugendlicher auf die Seite des islamistischen Radikalismus und zu blutigen Selbstmordanschlägen.

Bereits im ersten, Ende 1994 von Jelzin entfesselten Tschetschenienkrieg, wurde ein bedeutender Teil der Kaukasusrepublik zerstört. Der zweite 1999 begonnene Krieg, dauert bis heute und richtet eine ständig größere Verwüstung an. Zehntausende haben in den beiden Kriegen ihr Leben verloren; es gibt keine Familie, die nicht Opfer zu beklagen hätte. Die Hauptstadt Grosny ist ein Trümmerfeld. Selbst Putin, der Grosny im Mai besuchte, nachdem sein Statthalter Achmad Kadyrow einem Bombenattentat zum Opfer gefallen war, musste zugeben, dass er vom Ausmaß der Zerstörungen überrascht sei.

Die jüngste Serie von Terroranschlägen erfolgte nicht zufällig in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Wahl, die Putin am 2. September in Tschetschenien abhalten ließ. Die Wahl war eine Farce. Putin ließ seinen Günstling Alu Alchanow mit großer Mehrheit zum tschetschenischen Präsidenten küren - nachdem alle anderen aussichtsreichen Bewerber ausgeschlossen und eine reguläre Durchführung der Wahl verunmöglicht worden war. Sogar die OSZE weigerte sich, Wahlbeobachter zu schicken, weil sie jede unabhängige Überprüfung für aussichtslos hielt. Hätte die tschetschenische Bevölkerung frei entscheiden können, hätte sie niemals einen Günstling des Kremls auf den Präsidentensessel verholfen.

Der Kreml verfolgt mit dem Tschetschenienkrieg sowohl innen- wie außenpolitische Ziele.

Im Innern dient er dazu, chauvinistische Stimmungen und eine Law-and-Order-Hysterie zu schüren, um von den sozialen Spannungen - der bitteren Armut breiter Bevölkerungsschichten und dem obszönen Reichtum der herrschenden Elite - abzulenken. Putins eigener Aufstieg ins Präsidentenamt war eng mit dem zweiten Tschetschenienkrieg verbunden. Bombenanschläge auf Wohnhäuser in Moskau und Wolgodonsk, die zahlreiche Opfer forderten, ermöglichten es ihm, sich als starken Mann darzustellen, den Russland benötige, um mit dem Chaos aufzuräumen. Er machte Tschetschenen für die Anschläge verantwortlich und überzog die Republik mit Krieg. Dabei gab es starke Hinweise, dass der russische Geheimdienst die Bomben selbst gelegt hatte.

Außenpolitisch verfolgt der Kreml in Tschetschenien das Ziel, Russlands Stellung als Großmacht zu bekräftigen, seine Verhandlungsposition gegenüber den imperialistischen Regierungen und den westlichen Banken zu stärken und auf diese Weise sein Recht auf Beteiligung an der Ausbeutung der russischen und kaukasischen Bevölkerung zu sichern.

Seit dem 11. September 2001 bemüht sich Putin, den Krieg in Tschetschenien als Teil des internationalen "Kriegs gegen den Terror" darzustellen. Auch bei der Geiselnahme in Nordossetien sprach er von "Verbindungen zu Al Qaeda", obwohl es dafür keine Beweise gibt und der Konflikt offensichtlich hausgemacht ist.

Als Gegenleistung für Putins kooperative Haltung im Afghanistan- und Irakkrieg hat die amerikanische Regierung diese Darstellung akzeptiert und Putins Tschetschenienpolitik unterstützt. Die deutsche und die französische Regierung wiederum umwerben Putin als Verbündeten für eine Allianz, die als Gegengewicht zu den USA dienen kann, und unterstützen deshalb ebenfalls seine Tschetschenienpolitik.

Bundeskanzler Gerhard Schröder, der während der jüngsten Wahlfarce in Grosny gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac in Putins Urlaubsdomizil am Schwarzen Meer weilte, lobte die Wahl ausdrücklich. "Soweit ich das übersehen kann, kann ich empfindliche Störungen der Wahlen nicht feststellen", sagte er und versprach, die deutschen Geheimdienste würden ihre russische Kollegen im Kampf gegen den "tschetschenischen Terrorismus" unterstützen. Putin zahlte in barer Münze zurück. Er sagte eine Erhöhung der jährlichen russischen Ölförderung von 421 auf 450 Millionen Tonnen zu. Der internationale Ölpreis ging darauf deutlich zurück.

Die katastrophalen Folgen der Politik Putins im Kaukasus sind eine Anklage gegen die Politik aller führenden imperialistischen Mächte. Geopolitische Ziele, die Interessen der transnationalen Konzerne und der Zugang zu den Rohstoffreserven und Absatzmärkten stehen bei ihnen an erster Stelle, und nicht die Bedürfnisse und Rechte der einfachen Bevölkerung.

Siehe auch:
Die politischen und historischen Fragen im Zusammenhang mit Russlands Angriff auf Tschetschenien
(20. Januar 2000)
Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien
( 9. September 2003)
Das Referendum in Tschetschenien: Eine Abstimmung vor Gewehrläufen
( 4. April 2003)
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