Vor der Präsidentenwahl:

Vereinigte Staaten gehen beispiellosen sozialen Konflikten entgegen

Dutzende Millionen Menschen werden am 2. November in einer politisch höchst angespannten Atmosphäre zu den US-Präsidentschaftswahlen gehen, nachdem in den vergangenen Tagen und Wochen bereits Millionen ihre Stimme abgegeben und damit für eine ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung im Vorfeld des eigentlichen Urnengangs gesorgt haben. Statistiken über Neuregistrierungen von Wählern, eingegangene Briefwahlunterlagen und vorgezogene Stimmabgaben lassen auf einen starken Anstieg bei der Wahlbeteiligung schließen. Sowohl in absoluten Zahlen als auch in Hinblick auf die prozentuelle Teilnahme registrierter Wähler wird eine Wahlbeteiligung erwartet, wie sie Amerika seit etwa 40 Jahren nicht mehr erlebt hat.

Umfragen deuten darauf hin, dass die Wahl am Dienstag ein Kopf-an-Kopf-Rennen wird, wie es in amerikanischen Präsidentenwahlen selten der Fall war, so dass ihr Ausgang nicht vorherzusagen ist. Unabhängig davon, wie am Ende das Ergebnis lautet, wird die Wahl jedoch nicht die wachsenden sozialen und politischen Spannungen in den Vereinigten Staaten lösen können.

Die Presse ist voll mit Kommentaren zu der scharfen Polarisierung, die sich in der Präsidentschaftswahl zeigt: Die Wahlveranstaltungen beider Seiten ziehen Mengen von Menschen an, die Beteiligung bei Briefwahl und vorgezogener Stimmabgabe hat sich verdoppelt, die Wählerregistrierung ist sprunghaft angestiegen, die weit verbreitete Abscheu gegen Bush und seine Politik nicht zu übersehen. Unterschwellig herrscht Sorge über mögliche individuelle Gewaltausbrüche oder gar größere Auseinandersetzungen in der Bevölkerung, insbesondere in Reaktion auf die beispiellosen Bestrebungen der Republikanischen Partei, die Wahlbeteiligung in Arbeiter- und Minderheitenvierteln gering zu halten.

Diese politische Polarisierung steht im seltsamen Missverhältnis zu den Differenzen, die die beiden Kandidaten untereinander erkennen lassen. Auch wenn es Meinungsverschiedenheiten über die Ursprünge des Irakkriegs gibt, versprechen Bush und Kerry doch einhellig, die US-Besatzung fortzusetzen und einen militärischen Sieg über den irakischen Widerstand zu erringen. Beide verpflichten sich zur Doktrin des unilateralen, präventiven US-Angriffs auf jedes Land, das als potenzielle Bedrohung betrachtet wird, und beide haben den Iran und Nordkorea als die wahrscheinlichen nächsten Ziele ausgemacht. Beide unterstützen ohne Vorbehalte die israelische Militärgewalt gegen die palästinensische Bevölkerung.

Die beiden Kandidaten sind in einigen Fragen der Innen- und Sozialpolitik aneinandergeraten, hauptsächlich in den Punkten Abtreibung, Stammzellenforschung und Gesundheitspolitik, aber einig sind sie sich in den Grundsätzen: der Verteidigung des Profitsystems und der Unterordnung der amerikanischen Gesellschaft unter die Interessen der Großkonzerne und Superreichen. Beide sind selbst Multimillionäre und Vertreter der Finanzoligarchie. Beide haben an der Eliteuniversität Yale studiert und waren sogar Mitglied in derselben exklusiven Studentenverbindung "Skull and Bones".

Kerry bezeichnet sich selbst als Kapitalisten (er ist mit der milliardenschweren Erbin des Heinz-Ketchup-Vermögens verheiratet) und hat sich ausdrücklich gegen die Umverteilung des Reichtums als sozialpolitisches Ziel ausgesprochen. Er hat eine ausgeglichene Haushaltsbilanz zur höchsten Priorität in der Innenpolitik erklärt und bekannt gegeben, dass er seine Versprechen hinsichtlich einer umfassenderen Gesundheitsversorgung und anderer Sozialreformen über Bord werfen wird, wenn sie dem Abbau des Haushaltsdefizits im Wege stehen sollten.

Angesichts der vergleichsweise kleinen inhaltlichen Differenzen zwischen der Demokratischen und der Republikanischen Partei liegt die Frage auf der Hand, woher eigentlich die enormen Spannungen über den Ausgang der Präsidentenwahl rühren.

Die weit verbreitete Opposition in der Bevölkerung gegen die Bush-Regierung führt kaum dazu, dass sich jemand für Kerry oder das Programm der Demokraten begeistert. Sie ist vielmehr ein Ausdruck dafür, dass von Seiten eines Großteils der arbeitenden Bevölkerung die Bush-Regierung als ein neues Phänomen in Amerika verstanden wird: Eine Regierung, die rückschrittlicher ist als alle bisherigen - eine Regierung, die sich in ihrer Herrschaft offen auf Angst und Einschüchterung stützt, Krieg auf der Grundlage von Lügen führt und die öffentlichen Kassen plündert, um der amerikanischen Wirtschaft Geschenke zu machen.

Der Charakter des republikanischen Wahlkampfes - Lügen, Verleumdungen, Provokationen, Manipulation - verletzt zutiefst die demokratischen Instinkte von Millionen arbeitenden Menschen. An die Macht kam diese Regierung durch Wahlbetrug und die antidemokratische Intervention des Obersten Gerichtshofs, der in der Wahlkrise des Jahres 2000 die Nachzählung von Stimmen im Bundesstaat Florida stoppte. Die Bedenken wachsen, dass es am 2. November zu noch unverhohleneren Angriffen auf demokratische Rechte kommen könnte.

Ein geografisches Abbild der Präsidentenwahl gibt Aufschluss über die sozialen Kräfte, die darin eine Rolle spielen. Bush bekommt die stärkste Unterstützung aus den Südstaaten, die immer noch das Zentrum von gesellschaftlichem Rückschritt, Armut und Rückständigkeit sind, und aus den krisengeschüttelten Agrar- und Bergbauregionen im Mittleren Westen und in den Rocky Mountains. Kerrys Unterstützer sitzen hauptsächlich in den städtischen Zentren des Nordostens, an den Great Lakes und der Pazifikküste - den traditionellen Industrie- und Finanzzentren, die am stärksten mit Bildung, Kultur und technischer Entwicklung in Verbindung gebracht werden.

Das politische Klima des vergangenen Jahrzehnts in den Vereinigten Staaten kann nur mit der Periode der amerikanischen Geschichte verglichen werden, die in den 1850-er Jahren dem Bürgerkrieg vorausging. Die letzten zehn Jahre waren von einem praktisch ununterbrochenen politischen Krieg zwischen den beiden großen Parteien geprägt, in dessen Verlauf unter anderem die Republikanische Kongressmehrheit 1995/96 die Verwaltung lahm legte und eine Reihe von Untersuchungen gegen die Clinton-Regierung stattfanden, die im Amtsenthebungsverfahren und Clintons Befragung durch den Senat 1998/99 gipfelten. Schließlich wurde im Jahre 2000 die Wahl gestohlen und ein Kandidat vom Obersten Gerichtshof als Präsident installiert, der landesweit deutlich weniger Stimmen bekommen hatte als sein Gegner. Die Wahl im Jahre 2004 droht diesen Konflikt auf eine höhere Stufe zu tragen.

Die Ursprünge dieser zunehmenden politischen Konflikte sind letztendlich in der gesellschaftlichen Struktur Amerikas zu finden - vor allem im enormen Anwachsen der sozialen Ungleichheit. Die Kluft zwischen der wohlhabenden Elite und der großen Masse der Bevölkerung hat in den vergangenen 25 Jahren ein erschreckendes Ausmaß angenommen.

Das oberste eine Prozent hat seinen Anteil am Reichtum der amerikanischen Gesellschaft verdoppeln können, von 20 Prozent in den späten 1970-er Jahren auf über 40 Prozent heute. Die 400 reichsten Einzelpersonen haben nach Angaben einer jüngst im Magazin Forbes erschienenen Liste ein Vermögen von insgesamt mehr als einer Billion US-Dollar aufgehäuft. Dies fällt zusammen mit einem Rekordniveau auf den Gebieten der Armut, Obdachlosigkeit, unsicheren Beschäftigungsverhältnisse, Verschuldung von Privathaushalten und Insolvenzen kleiner und mittelständischer Unternehmen.

Diese soziale Spaltung drückte sich bislang in einer politischen Polarisierung aus, die nicht klar entlang ökonomischer Linien verläuft, sondern sich vielmehr um kulturelle Fragen wie Abtreibung und homosexuelle Lebensgemeinschaften konzentriert. Die Verwirrung, die über solche Fragen herrscht - mittels derer ein Teil der Arbeiterklasse zur Unterstützung ultrarechter, unternehmerfreundlicher Elemente und damit gegen seine eigenen Interessen mobilisiert wird - verstärkt das zentrale und historische Problem der amerikanischen Arbeiterklasse: das Fehlen einer Tradition der Massenpolitik in der Arbeiterklasse und das Fehlen einer Massenpartei, die mit der Arbeiterklasse identifiziert wird.

Vom historischen Standpunkt aus sind sowohl die Demokraten als auch die Republikaner Parteien der amerikanischen Bourgeoisie als herrschender Klasse. Sie werben um die Stimmen der arbeitenden Bevölkerung, gehorchen aber der Wirtschaftselite. In den vergangenen 25 Jahren sind beide großen unternehmerfreundlichen Parteien scharf nach rechts gerückt.

Die amerikanische Politik hat die Form eines umfassenden sozialen Rückschritts angenommen, mit dem das reformistische Erbe des New Deal fortgefegt werden soll. Ein wesentliches Merkmal dieses Prozesses besteht in der massiven Umverteilung des Reichtums aus den Händen der Arbeiterklasse zu den reichsten Teilen der amerikanischen Gesellschaft.

Es ist unmöglich Massenunterstützung zu erhalten, wenn man offen die Ausplünderung der Vielen zugunsten einiger Weniger propagiert. Daher züchtet man sich eine soziale Basis für eine reaktionäre Politik, indem man das tatsächliche Wirtschaftsprogramm durch Appelle an politische Rückständigkeit und kulturelle Vorurteile verschleiert.

Dieser Prozess begann in den 1960-er Jahren unter Nixon, der die Republikanische Partei auf den Süden ausrichtete - der zuvor die Basis der Demokraten gewesen war - und offen den weißen Rassismus benutzte, um sich eine regionale Basis aufzubauen. Dabei hatten die Republikaner nichts Neues erfunden: Sie übernahmen einfach die Methoden der alten Südstaaten-Patriarchen - rassistischen Demokraten von Theodore Bilbo bis George Wallace, die die Arbeiterklasse entlang der Hautfarbe spalten wollten - und passten sie an die Zeit nach der Aufhebung der Jim-Crow-Rassendiskriminierung an.

Dies verbanden sie zunehmend mit einem Rückgriff auf den christlichen Fundamentalismus, um die politische Rückständigkeit zu fördern und der rechten Politik einen religiösen Anstrich zu verpassen. Die Agitation gegen Abtreibung und für Schulgebete wird seit neuestem durch Appelle an homophobe Bigotterie ergänzt. Bei den diesjährigen Wahlen versucht die Republikanische Partei Bushs Chancen auf einen Wahlerfolg zu stärken, indem sie in elf Bundesstaaten parallel zur Wahl Referenden stattfinden lässt, mit denen die Homoehe und selbst gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften verboten werden sollen. Diese Abstimmungen am 2. November zielen darauf, christliche Fundamentalisten und andere Religiös-Konservative an die Wahlurnen zu locken.

Es wäre allerdings falsch und irreführend zu glauben, dass jeder Bush-Wähler ein überzeugter Reaktionär ist. Viele kommen aus den Schichten der Arbeiterklasse, die von der wachsenden sozialen Unsicherheit besonders stark betroffen sind. (Die Bundesstaaten, in denen im Jahr 2000 Bush gewählt wurde, wiesen allgemein ein niedrigeres Durchschnittseinkommen auf als die Staaten, die an Gore gingen.)

Die Republikaner nutzen in ihrem Wahlkampf die politische Verwirrung dieser Wähler aus, indem sie in einer Reihe von Fragen falsche Appelle ausgeben. Sie können dies nur tun, weil es keine politische Kraft mit Masseneinfluss gibt, die auf ernsthafte Weise an die grundlegenderen sozialen Interessen appelliert.

Die Demokratische Partei vermeidet vorsichtig jede klare Hinwendung zu einer Klasse und präsentiert sich unveränderlich als die Partei, die für die "Mitte" spricht - ein absichtlich unklarer Begriff, der benutzt wird, um niemanden speziell zu meinen. Während sie sich auf den Gewerkschaftsapparat stützt, um in Arbeiterbezirken Einfluss und Stimmen zu erlangen, hat die Demokratische Partei den normalen Arbeitern nichts zu bieten. Denn das würde voraussetzen, dass sie mit ihrer eigenen Klasse bricht - denselben Multimillionären, die auch die Republikanische Partei kontrollieren und das Zweiparteiensystem benutzen, um jede echte Massenpartizipation im politischen Leben Amerikas zu verhindern.

Die Halbherzigkeit, Feigheit und unklare Haltung der Demokraten erklären weitgehend die Frage, die bei den Wahlen des Jahres 2004 ins Auge sticht: Wie es ist möglich, dass ein Präsident mit solch einer katastrophalen Bilanz wie Bush in den Umfragen am Vorabend der Wahlen mit seinem Gegner gleichauf liegt. Es handelt sich bei diesen Merkmalen nicht einfach nur um persönlich Charakterzüge Kerrys oder führender Demokraten im Kongress: Vielmehr sind sie ein Ausdruck des an sich verlogenen Wesens der Partei selbst, die sich zu Wahlzwecken auf ihre historische Verbindung zur Reformpolitik des New Deal und zur Bürgerrechtsbewegung beruft - und damit auf eine Politik, die sie schon lange nicht mehr vertritt.

Bedeutsam ist, dass die Demokraten gegen die Bush-Regierung keinen Wahlkampf als Partei geführt haben. Kerrys Wahlkampf ist nicht mit dem Ziel verbunden, eine Demokratische Mehrheit im Kongress zu erlangen. Obwohl in den Wahlen auch über 34 Senatssitze und über sämtliche 435 Kongressmandate entschieden wird, sind nur neun Sitze im Senat und wenige Dutzend im Repräsentantenhaus ernsthaft umkämpft. Die fortgesetzte Kontrolle über das Repräsentantenhaus wird den Republikanern einfach überlassen und die Demokratischen Kandidaten für die umkämpften Senatssitze führen einen rechten Wahlkampf, in dem sie ihre glühende Unterstützung für den Irakkrieg betonen und in vielen Fällen ihre bisherige Unterstützung für die Politik der Bush-Regierung herausstellen.

Welcher von den Kandidaten auch den Sieg davontragen mag, die beiden großen Parteien der Wirtschaft stehen vor einem politischen Dilemma.

Selbst wenn die Republikaner an der Regierung bleiben, haben die Wahlen deutlich gemacht, wie extrem begrenzt die soziale Basis für Bushs reaktionäre Politik ist. Das Land ist zutiefst gespalten und die Hälfte der Bevölkerung will den derzeitigen Präsidenten zu Kriegszeiten aus dem Amt jagen.

Wenn die Demokraten an die Macht kommen, werden sie gewonnen haben, weil sie - wenn auch nur sehr beschränkt - an eine Wählerschaft appellierten, die weit links von ihnen steht: Gegner des Irakkriegs, die größere soziale Gleichheit und eine Rücknahme von Bushs antidemokratischen Maßnahmen sowie ernsthafte soziale Reformen fordern. Eine Kerry-Regierung würde schnell mit den Erwartungen und Forderungen ihrer Wähler nach gesellschaftlicher Veränderung in Konflikt geraten, die zu erfüllen sie weder bereit noch in der Lage ist.

Eine weitgehende Infragestellung des sozialen und politischen Status Quo ist unvermeidlich, unabhängig davon, ob Bush oder Kerry im Weißen Haus sitzt.

Die Socialist Equality Party (SEP) hat in die Präsidenten- und Parlamentswahlen des Jahres 2004 eingegriffen, um ihr sozialistisches Programm einem größtmöglichen Kreis von Arbeitern und jungen Menschen vorzustellen. In jenen Gebieten, wo unsere Kandidaten auf dem Wahlzettel stehen - unsere Präsidentschaftskandidaten Bill Van Auken und Jim Lawrence in den Bundesstaaten Washington, Colorado, Minnesota, Iowa und New Jersey; unsere Kandidaten für Parlamentsmandate in den Bundesstaaten Illinois, Michigan und Maine - rufen wir dazu auf, der SEP die Stimme zu geben. In anderen Gebieten rufen wir dazu auf, wo immer möglich, die SEP-Kandidaten handschriftlich auf den Wahlzettel zu setzen.

In den elf Staaten, wo parallel zu den Wahlen ein Referendum gegen homosexuelle Ehen und Lebensgemeinschaften stattfindet, fordern wir die arbeitende Bevölkerung dazu auf, mit "Nein" gegen die Borniertheit und Bigotterie und für die Verteidigung demokratischer Rechte zu stimmen.

Doch der 2. November ist nur ein Tag in einem Kampf, der nach den Wahlen an Stärke gewinnen und sich enorm ausdehnen muss. Es wird Unterschiede im Tempo der Entwicklung geben, je nachdem welcher Kandidat, Bush oder Kerry, gewinnt. Aber die Arbeiterklasse wird mit der neuen Regierung in Konflikt geraten und die zentrale Frage in diesem Konflikt wird die nach der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse sein.

Die Arbeiterklasse muss mit den beiden Parteien des Big Business brechen und eine eigene, unabhängige politische Massenbewegung aufbauen, die sich auf ein sozialistisches Programm stützt und mit der sie für ihre eigenen Klasseninteressen kämpft. Die SEP verfolgte mit ihrem Wahlkampf das Ziel, ein solches Programm auszuarbeiten und es einem größtmöglichen Publikum vorzustellen - in den Vereinigten Staaten und international - um dieser Bewegung den Weg zu bereiten.

Siehe auch:
Der Krieg im Irak und die amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2004
(18. September 2004)
Wahlaufruf der SEP
( 31. Januar 2004)
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