Ukraine: Juschtschenko entscheidet Machtkampf für sich

Unter starkem internationalen Druck hat das ukrainische Parlament am Mittwoch ein neues Wahlgesetz und eine Verfassungsänderung verabschiedet, die weitgehend den Forderungen der Opposition unter Wiktor Juschtschenko entsprechen. Das Gesetzespaket wurde von Präsident Leonid Kutschma noch im Plenarsaal unterzeichnet und ist damit rechtsgültig. Damit dürfte einer Wiederholung der Präsidentenwahl am 26. Dezember nichts mehr im Wege stehen. Der von den USA und der EU favorisierte Juschtschenko wird daraus aller Voraussicht nach als Sieger hervorgehen.

400 der 450 Abgeordneten stimmten dem von Kutschma und Juschtschenko unter Vermittlung der EU vereinbarten Kompromiss zu. Er sieht im einzelnen vor, dass die Stimmabgabe außerhalb des gemeldeten Wohnorts und per Briefwahl nicht mehr zulässig ist, wie dies die Opposition verlangt hatte. Die Verfassungsänderung, die die Macht des Präsidenten zugunsten des Parlaments beschneidet, wird erst im September in Kraft treten - und nicht, wie von Kutschma ursprünglich gefordert, sofort nach der Wahl. Das gibt dem Wahlsieger neun Monate Zeit, weitgehend unabhängig vom Parlament die Regierung zu ernennen und wichtige politische Weichenstellungen vorzunehmen.

Lediglich mit der Forderung nach dem sofortigen Rücktritt der gesamten Regierung und der vollständigen Auswechslung der Wahlkommission konnte sich die Opposition nicht durchsetzen. Präsident Kutschma hat zwar Regierungschef Wiktor Janukowitsch, der am 26. Dezember wieder gegen Juschtschenko antritt, bereits am Dienstag beurlaubt. Die Ressortminister bleiben dagegen im Amt. Bei der Wahlkommission werden der Vorsitzende Sergej Kiwalow sowie zwei Mitglieder, die als Parteigänger von Janukowitsch gelten, ausgewechselt. Die Anhänger der Opposition verfügen damit in der Wahlkommission über eine Mehrheit.

Juschtschenko feierte die Vereinbarung als vollen Erfolg. "Siebzehn Tage friedlicher ziviler Widerstand haben uns den Sieg gebracht," sagte er auf einer Siegesfeier seiner Anhänger im Zentrum der Hauptstadt. "Wir sind ein anderes Land; wir fühlen uns endlich als europäische Nation. All das haben wir ohne einen Tropfen Blut erreicht. Darauf bin ich äußerst stolz." Er rief die Demonstranten auf, die Blockade von Regierungsgebäuden aufzuheben.

Sein Gegner Janukowitsch verurteilte die Vereinbarung als "schleichenden Staatsstreich". In Kiew, sagte er, herrsche die "reine Willkür". Die Gegenstimmen im Parlament kamen aber nicht aus seinem Lager, das sich weitgehend hinter die von Präsident Kutschma unterstützte Vereinbarung stellte, sondern von den Anhängern der zweiten Oppositionsführerin Julia Timoschenko.

Timoschenko, die sich in den vergangenen Tagen wiederholt als Scharfmacherin betätigt hatte, ging die Kapitulation des Regierungslagers nicht weit genug. Sie warf Juschtschenko vor, er habe gegenüber Kutschma zu sehr nachgegeben, und kündigte eine Verfassungsklage an.

Die Ereignisse in Kiew haben scharfe Spannungen zwischen Washington und Moskau ausgelöst, die an die Zeiten des Kalten Krieges erinnern.

Der russische Präsident Putin hatte den Regierungskandidaten Janukowitsch unterstützt und ihm nach dem ursprünglichen, inzwischen annullierten Wahlgang zum Sieg gratuliert. Die USA und die EU hatten sich dagegen hinter Juschtschenko gestellt und dessen Kampagne propagandistisch und finanziell massiv unterstützt. Während der Krise der vergangenen Tage übten sie heftigen Druck aus, bis Präsident Kutschma schließlich umschwenkte, sich von Janukowitsch distanzierte und den Forderungen der Opposition nachgab.

Die Machtübernahme einer westorientierten Regierung in Kiew bedeutet eine schwere Niederlage für die russische Außenpolitik, die sich durch das aggressive Vorgehen der USA zunehmend unter Druck fühlt. Auf einem Treffen der OSZE, das am Dienstag in Bulgarien stattfand, kam es deshalb zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen dem amerikanischen Außenminister Colin Powell und seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow.

Lawrow beschuldigte die OSZE, die Hunderte Wahlbeobachter in die Ukraine geschickt hatte, sie habe die Wahlbeobachtung "in ein politisches Werkzeug" verwandelt.

Powell entgegnete, die OSZE habe sich nicht in den demokratischen Prozess eingemischt, sondern die internationale Gemeinschaft habe sich "zusammengeschlossen, um die Demokratie zu unterstützen". Er drohte Lawrow unverhohlen damit, Russland selbst zu destabilisieren. Er äußerte seine "Sorge über die Entwicklung innerhalb Russlands, insbesondere was die Pressefreiheit und die Rechtsstaatlichkeit betrifft", und warf Russland vor, dass es seine Truppen noch nicht aus Georgien und Moldawien abgezogen habe.

Präsident Putin hat die amerikanische Außenpolitik in den vergangenen Tagen wiederholt scharf angegriffen. Am Montag warnte er, Europa könnte erneut "in Völker für den Westen und Völker für den Osten" gespalten werden. Für Putin steht in der Ukraine viel auf dem Spiel. Das aggressive Vordringen der USA auf das einstige Gebiet der Sowjetunion droht Russland zunehmend politisch und wirtschaftlich zu isolieren.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die USA immer weiter auf deren ehemaliges Territorium vorgerückt. Sie haben Truppen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens stationiert und ihren Einfluss im Kaukasus und insbesondere in Georgien verstärkt, wo sie vor einem Jahr nach demselben Muster wie jetzt in der Ukraine einem US-freundlichen Regime an die Macht verhalfen. An der Ostsee haben sich die baltischen Staaten der Nato und der EU angeschlossen.

Gelangt nun auch in Kiew ein US-freundliches Regime an die Macht, droht Russland nicht nur den Zugang zu einer der wichtigsten Industrieregionen der ehemaligen Sowjetunion und die Kontrolle über die wichtigsten Exportrouten für sein Erdgas und Erdöl zu verlieren, auch Sewastopol, der Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte, liegt auf ukrainischem Gebiet. Nach der Ostsee, wo Russland über keinen eisfreien Hafen mehr verfügt, droht es damit militärisch auch vom Schwarzen Meer und vom Zugang zum Mittelmeer verdrängt zu werden.

Die Süddeutsche Zeitung erinnerte am Donnerstag daran, dass Präsident George Bush die Doktrin bekräftigt habe, "dass Washington nie wieder das Entstehen einer Macht zulassen werde, die Amerika wirtschaftlich, politisch oder gar militärisch gefährlich werden könnte". Die Zeitung warnte davor, dass das aggressive Vorgehen Washingtons zum blutigen Zerfall der Russischen Föderation führen könnte.

Sie schrieb: "Nun, da auch Kiew ins westlich Lager abzugleiten droht, konnte Putin nicht länger tatenlos zusehen. Verliert Moskau die Ukraine, geht jede Hoffnung auf einen Großmachtstatus verloren. Mehr noch: Die zentrifugalen Kräfte, die bereits das sowjetische Weltreich zerrissen haben, werde auf die buntscheckige Russische Föderation übergreifen: Kalmücken, Tataren und Baschkiren, aber auch Russen im fernen Osten warten schon lange auf größere Unabhängigkeit vom Kreml."

Nachdem die USA mit dem Krieg gegen den Irak bereits den Nahen Osten in ein blutiges Chaos gestürzt haben, drohen sie nun dasselbe auch mit der Ukraine und anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion zu tun. Die "Demokratie" dient dabei als reiner Vorwand. Juschtschenko und seine Partnerin Timoschenko entstammen derselben neureichen Elite wie Kutschma und Janukowitsch, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf Kosten der Bevölkerung schamlos bereichert hat. Sie sehen lediglich ihre Interessen an der Seite der USA und der EU besser aufgehoben als an der Seite Russlands.

An echter Demokratie, die von sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit nicht zu trennen ist, sind sie dagegen nicht interessiert. Sie lässt sich mit ihrem rechten, liberalen Wirtschaftsprogramm nicht vereinbaren. Das zeigt schon ihr Bestehen darauf, dass Juschtschenko als Präsident über dieselben autoritären Vollmachten verfügt, die sie unter Kutschma noch heftig bekämpft hatten.

Siehe auch:
Ukraine: Der Machtkampf schwelt weiter
(8. Dezember 2004)
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