Ein entlarvender Kommentar der Süddeutschen Zeitung

Der Preis der ukrainischen Demokratie

"Triumph der Demokratie" hat die Süddeutsche Zeitung einen Kommentar zum Ausgang der ukrainischen Präsidentenwahl überschrieben. Der Autor, Thomas Urban, ist Europaspezialist der Zeitung. Er hat die orangene Opposition in Kiew seit Wochen in ebenso glühenden wie unkritischen Berichten begleitet. Doch in seinem jüngsten Kommentar, geschrieben im Taumel der Begeisterung, sagt er mehr über den Charakter der ukrainischen Demokratie, als ihm vielleicht lieb ist.

"Eines wird Juschtschenko sicher nicht leisten können: die Monopole der Industrieoligarchen schnell zu brechen," schreibt Urban. "Er wird behutsam vorgehen müssen, doch die Chancen, sie mittelfristig in eine Marktwirtschaft einzubinden, stehen gar nicht so schlecht. Denn die Oligarchen, die ihr Vermögen in den neunziger Jahren zum Teil mit kriminellen Methoden zusammengerafft haben, sind selber an Rechtssicherheit interessiert - und an Prestige: Sie wollen nämlich auch international als Teil der ukrainischen Elite anerkannt werden. [...] Der wilde Mafiakapitalismus will sich einen gediegenen Anstrich geben - und dies passt sich durchaus in das Programm zur Demokratisierung des Landes ein. Dass die meisten Oligarchen, sollten sie zu guten Steuerzahlern werden, ungeschoren davonkommen dürften, weil ihnen kaum kriminelles Handeln nachgewiesen werden kann, wird wohl ein Preis für den Neuanfang sein."

Das also ist die ukrainische Demokratie: Rechtssicherheit für die Oligarchen, die ihr Vermögen mit kriminellen Methoden zusammengerafft haben, und ein gediegener Anstrich für den wilden Mafiakapitalismus. Ausnahmsweise stimmen wir mit Urban überein. Darauf läuft die Demokratie von Wiktor Juschtschenko und Julia Timoschenko tatsächlich hinaus.

Demokratie bedeutet Volksherrschaft. Wirkliche Demokratie setzt voraus, dass breite Schichten der Bevölkerung ihren elementaren Interessen nicht nur der Form nach, sondern im wirklichen Leben Geltung verschaffen können. Die Befolgung bestimmter Formalien bei der Stimmabgabe (deren Einhaltung auch bei der Wiederholung der Wahl höchst fragwürdig war) reicht dazu nicht aus. Solange der gesellschaftliche Reichtum von einer winzigen, fabelhaft reichen Oberschicht kontrolliert wird, während die große Mehrheit mit einem Monatseinkommen von 30 bis 100 Euro auskommen muss, kann es keine wirkliche Demokratie geben.

Dass sich Demokratie und soziale Ungleichheit nicht vertragen, kann man seit zwanzig Jahren überall auf der Welt beobachten - nicht zuletzt in den USA, wo ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der sozialen Polarisierung der Gesellschaft und dem Angriff auf demokratische Grundrechte durch die Bush-Administration besteht. Wahlen sind zu einer Milliarden schweren Industrie verkommen, die die öffentliche Meinung systematisch manipuliert und jede ernsthafte Opposition gegen die herrschende Elite ausblendet. Die Pressefreiheit ist zur Freiheit finanzstarker Konzerne degeneriert, die Medien zu besitzen und nach Belieben zu beeinflussen. So nehmen sich die primitiven Methoden, mit denen die ukrainische Regierung die Medien gängelte, im Vergleich zur Medienmacht eines Rupert Murdoch oder Silvio Berlusconi wie ein Relikt aus der Steinzeit aus.

Die erste Voraussetzung für die Einführung demokratischer Verhältnisse, die den Namen verdienen, wäre genau das, was Urban kategorisch ausschließt. Sie bestünde darin, die Monopole der Industrie- und Finanzoligarchen zu brechen. Dazu müssten die unrechtmäßig erworbenen Vermögen eingezogen und für gesellschaftliche Aufgaben zur Verfügung gestellt werden - Altersversorgung, Bildung, Krankenversorgung, Sicherung von Arbeitsplätzen und Ausbau der Infrastruktur. Eine solche Perspektive würde die Kluft zwischen dem Osten und dem Westen des Landes, die die Ukraine zu zerreißen droht, rasch überwinden und die wirklichen gesellschaftlichen Widersprüche offen legen - den Gegensatz zwischen der neureichen Elite und der Masse der Bevölkerung.

Das ist das Letzte, was die sogenannte demokratische Opposition möchte. Das Juschtschenko-Lager würde den Ast absägen, auf dem es selbst sitzt. Die sogenannte orangene Revolution hat bei all ihrem pompösen Gehabe nichts umgewälzt. Sie hat lediglich eine Clique der besitzenden Elite durch eine andere ersetzt. Aus diesem Grund kann sie es sich, wie Urban ganz richtig bemerkt, nicht leisten, die Monopole der Industrieoligarchen zu brechen.

Seine demokratischen Ansprüche wird Juschtschenko als Präsident nicht lange aufrecht erhalten können. Schon jetzt fordert seine Mitstreiterin Julia Timoschenko lauthals, die präsidentialen Vollmachten beizubehalten, die sie in der Opposition so heftig bekämpft hatte. Wozu aber benötigt Juschtschenko diese Vollmachten, wenn nicht zum gleichen Zweck wie sein Vorgänger Kutschma: zur Niederhaltung jeglicher Opposition.

Siehe auch:
Der Machtkampf in der Ukraine und Amerikas Strategie der Vorherrschaft
(22. Dezember 2004)
Was haben die "Demokratiebewegungen" in Serbien und Georgien gebracht?
( 9. Dezember 2004)
Opposition made in USA
( 2. Dezember 2004)
Wofür stehen Juschtschenko und Janukowitsch?
( 1. Dezember 2004)
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