Marxismus, Internationales Komitee und wissenschaftliche Perspektiven

Eine historische Analyse der Krise des US-Imperialismus

Teil 2

Am Wochenende vom 8. und 9. Januar fand in Ann Arbor, Michigan, eine nationale Mitgliederversammlung der amerikanischen Socialist Equality Party statt. Den einleitenden Bericht gab der nationale Sekretär der Partei, David North, der gleichzeitig Chefredakteur der World Socialist Web Site ist. Wir veröffentlichen hier den zweiten Teil des Berichts. Der dritte und letzte Teil erscheint morgen.

In dieser Woche vor genau zwanzig Jahren, im Januar 1985, reisten Delegierte der Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) zu dessen zehnten Kongress nach England. Es sollte der letzte Kongress des Internationalen Komitees unter dem Vorsitz der britischen Workers Revolutionary Party (WRP) sein, die von Gerry Healy, Cliff Slaughter und Michael Banda geleitet wurde.

Zu diesem Zeitpunkt war in der internationalen Bewegung seit über zehn Jahren eine Krise herangereift. Seit drei Jahren hatte die Führung der WRP Bemühungen unterdrückt, falsche philosophische Auffassungen und ernsthafte politische Fehler der politischen Linie des Internationalen Komitees zu diskutieren und zu untersuchen. Als sich das IKVI im Januar 1985 schließlich versammelte, war die gesamte Weltbewegung in gefährlicher Weise desorientiert - am schlimmsten die Workers Revolutionary Party. Der von Cliff Slaughter vorbereitete Perspektiventwurf bemühte sich, seinen Mangel an Analyse durch bombastische Rhetorik wett zu machen. Eine typische Behauptung lautete: "Die objektiven Gesetze des kapitalistischen Niedergangs wirken jetzt ungehindert. Sie sind durchgebrochen." Wäre dies der Fall gewesen, hätte dies eine in der Geschichte des Kapitalismus nie da gewesene Situation bedeutet, die Marx theoretisch und praktisch für unmöglich hielt.

Die Behauptung, die Gesetze des kapitalistischen Niedergangs wirkten "ungehindert", konnte nur bedeuten, dass erstens die Bourgeoise jeglichen subjektiven Widerstand gegen diesen Niedergang eingestellt hatte, und dass zweitens alle ausgleichenden Tendenzen, die sich auf natürliche Weise aus dem kapitalistischen Prozess selbst ergeben und die den Niedergang abschwächen oder umkehren, außer Kraft getreten waren. Anders ausgedrückt, dass die sozioökonomische Dialektik des Kapitalismus als welthistorisches System schlicht aufgehört hatte zu existieren.

In einer anderen Passage hieß es: "Die Wirklichkeit ist, dass die entscheidenden revolutionären Schlachten bereits im Gang sind." Als diese Worte aus Cliff Slaughters Feder flossen, gab es unmissverständlich Anzeichen, dass sich die Arbeiterklasse überall auf der Welt auf dem Rückzug befand. Wären die "entscheidenden revolutionären Schlachten" tatsächlich im Gang gewesen, hätte man eingestehen müssen, dass sie verloren waren.

Im selben Stil schrieb Slaughter, berauscht von seinen eigenen Worten: "Die unbesiegte Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten tritt gleichzeitig mit der Arbeiterklasse der übrigen Welt in Kämpfe revolutionären Charakters ein." In Wirklichkeit hatte die Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten, seit Reagan vier Jahre zuvor ins Weiße Haus eingezogen war, eine ungebrochene Reihe größerer Niederlagen erlitten. Durch Verrat entmutigt war die Streiktätigkeit auf das niedrigste Niveau seit Jahrzehnten gesunken.

Die Vorlage derartiger Passagen als ernsthaften Beitrag zur Erarbeitung revolutionärer Perspektiven war ein Ausdruck der theoretischen Verwirrung und des politischen Bankrotts der WRP-Führer.

Angesichts der außergewöhnlichen Geschichte der Führer der Workers Revolutionary Party, insbesondere Gerry Healys, war die Lage, in die sie geraten waren, zutiefst tragisch. Healy hatte sich über ein halbes Jahrhundert lang persönlich an der revolutionären sozialistischen Bewegung beteiligt. Als Unterstützer von James P. Cannon hatte er eine wichtige Rolle im internationalen Kampf gegen den pablistischen Revisionismus gespielt, der 1953 zur Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale führte. Im darauffolgenden Jahrzehnt widersetzte sich Healy der theoretischen und politischen Fahnenflucht der amerikanischen Socialist Workers Party (SWP) und ihren Plänen für eine prinzipienlose Wiedervereinigung mit der pablistischen Bewegung. Das Internationale Komitee verdankte sein Überleben unter extrem ungünstigen politischen Bedingungen hauptsächlich Healys unermüdlicher Verteidigung trotzkistischer Prinzipien. Ohne den von ihm geführten Kampf wäre die Workers League, die Vorläuferin der Socialist Equality Party, niemals entstanden.

Es war auch vorrangig Healys Anstrengungen zu verdanken, dass das Internationale Komitee - insbesondere nach der Spaltung mit der SWP 1963 - die Anzeichen einer wachsenden Wirtschaftskrise des Weltkapitalismus aufmerksam verfolgte. Im Gegensatz zu den Pablisten, deren opportunistische Politik ihr tiefes Vertrauen in die Stabilität des Nachkriegskapitalismus widerspiegelte, verfolgte das IKVI aufmerksam die wachsenden Anzeichen für ernsthafte Spannungen, die sich in den nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen finanziellen und monetären Grundlagen des Weltkapitalismus entwickelten. Daher verstand das Internationale Komitee die weitreichenden Auswirkungen der Entscheidungen, die 1971 von der Nixon-Administration getroffen wurden und die das "goldene Zeitalter" des Nachkriegskapitalismus abrupt beendeten.

Am Abend des 15. August 1971, einem Sonntag, kündigte Präsident Richard M. Nixon in einer nationalen Fernsehansprache eine Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen an, die der drastischen Verschlechterung der internationalen Handels- und Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten und dem wachsenden inflationären Druck entgegenwirken sollten. Er gab bekannt, dass die Vereinigten Staaten ihrer Verpflichtung nicht länger nachkommen würden, die von ihren internationalen Handelspartnern gehaltenen Dollar auf Anforderung in Gold umzutauschen. Diese Verpflichtung waren die Vereinigten Staaten im Rahmen des internationalen Währungssystems eingegangen, das nach der Bretton-Woods-Konferenz vom Juli 1944 errichtet worden war. Dieses Ereignis wurde von den Pablisten weitgehend ignoriert. Das Internationale Komitee dagegen erkannte darin die wichtigste ökonomische Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie bereitete den Boden für eine enorme Vertiefung der Weltwirtschaftkrise und eine Verschärfung internationaler Klassenkonflikte. Im Kern der Krise stand die Verschlechterung der internationalen Stellung des amerikanischen Kapitalismus.

Bei der Analyse dieser Entwicklung untersuchte das Internationale Komitee die Bedeutung des internationalen Wirtschaftssystems, dessen Grundlagen 1944, während der Endphase des Zweiten Weltkriegs, auf der Konferenz von Betton Woods gelegt worden waren. Außerhalb der Vereinigten Staaten lagen damals die alten bürgerlichen Mächte Europas in Trümmern. Die französische Bourgeoisie war politisch diskreditiert, ihr Finanzsystem zerschlagen. Das Hitler-Regime hatte den deutschen Kapitalismus in den Abgrund gestürzt, das ganze Land stand in Flammen. Die Kosten des Zweiten Weltkriegs, der dem Ersten im Abstand von nur zwanzig Jahren gefolgt war, hatten Großbritannien finanziell ruiniert. Überall in Europa war die Arbeiterklasse gegen den Faschismus und die imperialistische Barbarei in die Offensive gegangen. Es herrschte eine überwältigende Stimmung zugunsten einer revolutionären Abrechnung mit dem Kapitalismus. Ähnlich war die Lage in Japan, wo sich der Krieg rasch seinem schrecklichen Ausgang näherte. In ganz Asien, dem Nahen Osten und Afrika stieg die Flut der antiimperialistischen und antikolonialen Kämpfe.

Im Chaos des Krieges verblieben die Vereinigten Staaten als einziger großer Stützpunkt des Kapitalismus. Der Krieg hatte alle ihre internationalen kapitalistischen Konkurrenten zerrüttet. Die Vereinigten Staaten waren so in der Lage, den daniederliegenden Rivalen die Bedingungen der Weltwirtschaftsordnung zu diktieren, die sich aus der Asche des Krieges erheben sollte. Dabei verstand die herrschende Klase Amerikas sehr gut, dass ihr eigenes Schicksal vom Überleben des Kapitalismus in Europa abhing. Hätte die revolutionäre Welle, die nach dem Krieg über den europäischen Kontinent fegte, in den alten Zentren des Kapitalismus die Macht der Arbeiterklasse errichtet, wäre das Schicksal des amerikanischen Kapitalismus besiegelt gewesen. Daher beschloss die amerikanische herrschende Klasse in einer Serie weitsichtiger Entscheidungen, ihre enormen industriellen und finanziellen Mittel zu mobilisieren, um das kapitalistische Weltsystem zu stabilisieren und wieder aufzubauen. Bestandteil dieses ökonomischen Plans war der Aufbau eines neuen internationalen Währungssystems, das nach einem Jahrzehnt der Störung durch Depression und Krieg die notwendigen Mittel für die Neubelebung des Welthandels und den Wiederaufbau Europas und Japans zur Verfügung stellen würde.

Die Finanzkatastrophen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Vereinigen Staaten zur Überzeugung gebracht, dass sich die Ausdehnung des Welthandels und der Wiederaufbau des Weltkapitalismus nicht mit dem alten Goldstandard vereinbaren ließen, der eine starke Einschränkung des Kreditrahmens bedeutete. Aber was sollte als wichtigstes Mittel für Kredit und Handel an die Stelle des Goldes treten? Die Antwort lautete, der US-Dollar.

Die Regeln des 1947 gegründeten Internationalen Währungsfonds machten den Dollar zur wichtigsten internationalen Reservewährung - das heißt zur Währung, in welcher der Großteil des internationalen Handels abgerechnet wurde. Der Wert aller internationalen Währungen wurde am Dollar gemessen. Der Wert des Dollars selbst stand in einem festen Verhältnis zum Gold. 35 Dollar entsprachen einer Feinunze Gold.

Diese Vereinbarung stützte sich auf zwei wichtige Voraussetzungen. Erstens lagerte ein beträchtlicher Teil der weltweiten Goldreserven in Fort Knox in Kentucky. Und zweitens, was wichtiger war, garantierte die massive industrielle Überlegenheit der Vereinigen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg einen hohen Außenhandelsüberschuss. Dollars, die ins Ausland überwiesen oder dort investiert wurden, flossen wieder zurück, wenn andere Länder amerikanische Waren und Dienstleistungen kauften.

Auf diese Weise war das Nachkriegswährungssystem - ein Dollar-System, das im Gold verankert war - ein Ausdruck der globalen Überlegenheit der Vereinigten Staaten in den Angelegenheiten des internationalen Kapitalismus. Wenn man überhaupt von einem Zeitalter der amerikanischen Hegemonie sprechen kann, dann von dieser Periode, die durch das dollargestützte Weltwährungssystem von Bretton Woods gekennzeichnet war.

Das Bretton-Woods-System enthielt jedoch einen fatalen Widerspruch. Das erfolgreiche Funktionieren des Systems beruhte auf der Voraussetzung, dass die Außenhandels- und die Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten positiv blieben, obwohl diese Europa und Japan das Kapital zum Wiederaufbau ihrer Industrien zur Verfügung stellten und als Markt für deren Exporte dienten. Die Wiederbelebung der europäischen und japanischen Industrie musste aber unvermeidlich die einst unangefochtene Stellung der Vereinigten Staaten auf den Weltmärkten untergraben und ihre Handels- und Zahlungsbilanz beeinträchtigen. Die Akkumulation von Dollars im Ausland, die daraus resultierte und die schließlich den Wert der amerikanischen Goldreserven weit übersteigen sollte, musste die Lebensfähigkeit des Bretton-Woods-Systems in Frage stellen. Robert Triffin, ein europäischer Wirtschaftswissenschafter, machte Ende der 1950-er Jahre auf diesen Widerspruch aufmerksam. Mitte der 1960-er Jahre war es dann offensichtlich, dass das System unter wachsendem Druck stand. Die Krise wurde zusätzlich durch die Kosten des Vietnamkriegs und neuer Sozialprogramme verschärft, die die amerikanische herrschende Klasse unter dem Druck von Massenkämpfen zugestanden hatte und die einen zunehmenden finanziellen Druck auf den Haushalt ausübten.

Wie vom IKVI vorausgesehen, hatte der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems weitreichende wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Folgen. Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen wurden in einem Maße unterhöhlt, wie seit den 1930-er Jahren nicht mehr. Das alte System fester Wechselkurse wurde durch ein neues, unberechenbares System abgelöst, dass auf frei konvertierbaren Währungen beruhte und in dem der Wert jeder nationalen Währung durch den Markt bestimmt wurde. Für den Dollar, der nicht länger zu einem festen Kurs in Gold konvertierbar war, begann ein anhaltender Niedergang. Die Abwertung des Dollars hatte nahezu unmittelbar eine globale Preisinflation und einen Einbruch der Kurse an den Aktienmärkten zur Folge. 1973 war der Weltkapitalismus mit der gefährlichsten politischen und ökonomischen Krise seit den 1930-er Jahren konfrontiert.

Diese Entwicklungen bestätigten die Analyse der globalen Krise des Weltkapitalismus, die das Internationale erstellt hatte. Die 1970-er Jahre waren von einem revolutionären Aufschwung der Arbeiterklasse geprägt, die auf die Inflation reagierte, indem sie in die Offensive ging. Der britische Bergarbeiterstreik im Winter 1973-74 erzwang den Rücktritt der Tory-Regierung. Im April 1974 brach die faschistische Diktatur in Portugal zusammen, im Juli die Militärdiktatur von General Papadopoulos in Griechenland. Einen Monat später, im August 1974, trat Richard Nixon vom Präsidentenamt zurück. Und weniger als ein Jahr danach, im April-Mai 1974, endete der imperialistische Krieg in Vietnam und Kambodscha mit einer demütigenden Niederlage.

Aber dieser Aufschwung wurde durch die konterrevolutionäre Politik der stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien in der internationalen Arbeiterbewegung lahm gelegt. Selbst im Iran, wo der Streik der Ölarbeiter Ende 1978 entscheidend dazu beitrug, das Schah-Regime zu lähmen (das 1953 durch die CIA an die Macht gebracht worden war), verhinderte die Politik der Stalinisten eine siegreiche sozialistische Revolution. Stattdessen fiel die Macht in die Hände religiöser und nationalistischer Kräfte. Weil die Kämpfe der Arbeiterklasse verraten wurden, gewann der Imperialismus die nötige Zeit, um seine eigene konterrevolutionäre Strategie auszuarbeiten und zur Gegenoffensive überzugehen.

Als die politische Lage umschlug, versäumte es die britische Workers Revolutionary Party, die Lage neu einzuschätzen und ihre Praxis entsprechend zu verändern. Cliff Slaughter hatte die Sektionen des IKVI oft gewarnt: "Wenn Eure Perspektiven bestätigt worden sind, müsst Ihr sie neu überprüfen." Aber die WRP missachtete ihren eigenen Rat und erwies sich als unfähig, ihre Praxis der veränderten politischen Situation anzupassen. Als die Aussichten auf eine sozialistische Revolution verblassten, versuchte die WRP ihren organisatorischen Schwung zu erhalten, indem sie neue opportunistische Beziehungen zu Teilen der britischen Labour-Bürokratie und zu bürgerlich nationalen Bewegungen im Nahen Osten und Afrika anknüpfte. Sie wandte den Lehren aus dem langen Kampf des IKVI gegen den Revisionismus den Rücken zu und entwickelte eine politischeLinie, die mehr und mehr derjenigen der Pablisten ähnelte. Hinzu kam, dass sich die WRP einseitig auf ihre organisatorischen Aufgaben konzentrierte, so wie sie Healy verstand. Das hatte zur Folge, dass die Linie der britischen Sektion eine zunehmend nationalistische Ausrichtung annahm. Die Arbeit des IKVI als internationale Partei wurde in wachsendem Maße den nationalen "Parteiaufbauaktivitäten" der Workers Revolutionary Party untergeordnet.

Die Krise, die im Sommer und Herbst 1985 in der WRP ausbrach, war das unausweichliche Ergebnis dieses anhaltenden Rückzugs von trotzkistischen Prinzipien und der politischen Desorientierung, die sich aus diesem Verrat ergab. Die WRP legte mittlerweile größeren Wert auf ihre verschiedenen Bündnisse mit Bürokraten aus den Arbeiterorganisationen, bürgerlichen Nationalisten und kleinbürgerlichen Radikalen, als auf die freundschaftlichen Beziehungen zu ihren Gesinnungsgenossen im IKVI. Selbst noch im Herbst 1985, als sie mit dem Schiffbruch ihrer verheerenden Politik konfrontiert waren, prahlten WRP-Mitglieder schamlos mit ihren neuen Beziehungen zu verschiedenen antitrotzkistischen Tendenzen. Slaughter reichte seine Hand auf einer öffentlichen Versammlung in London demonstrativ Monty Johnstone, einem berüchtigten und widerlichen Vertreter der britischen Kommunistischen Partei.

Hinter diesem Vorgehen stand eine völlige Fehleinschätzung der internationalen politischen Lage. Es kam keinem WRP-Führer in den Sinn, dass die verschiedenen national-reformistischen und opportunistischen Organisationen, an die sie sich anbiederten, selbst kurz vor der Katastrophe standen. Nachdem die WRP jede systematische und ernsthafte internationale Perspektivarbeit aufgegeben hatte, war sie blind gegenüber den neuen Tendenzen in der kapitalistischen Weltwirtschaft und konnte ihre Auswirkungen auf die Entwicklung des internationalen Klassenkamps nicht verstehen.

Nach der Spaltung mit der Workers Revolutionary Party im Februar 1986 stand das Internationale Komitee vor zwei entscheidenden, zusammenhängenden theoretischen Aufgaben. Die erste bestand in einer detaillierten Analyse der Wurzeln des Verrats, den die WRP am Trotzkismus begangen hatte, und in der Beantwortung ihres Angriffs auf die Geschichte der Vierten Internationale, die zweite in der Wiederaufnahme der Perspektivarbeit, die von der WRP aufgegeben worden war. Die Kritik an der WRP und die erneute Würdigung der Geschichte der Vierten Internationale befähigte das Internationale Komitee, die bewusste historisch Verbindung zum gesamten programmatischen Erbe der trotzkistischen Bewegung bis zurück zur Gründung der Linken Opposition im Jahr 1923 wieder herzustellen. Die Wiederaufnahme einer systematischen internationalen Perspektivarbeit war nötig, um die Arbeit des IKVI in Übereinstimmung mit den objektiven Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Weltwirtschaft neu zu orientieren.

Auf dem Vierten Plenum des Internationalen Komitees im Juli 1987 wurde folgende Frage gestellt: Welche Entwicklungstendenzen der Weltwirtschaft und des internationalen Klassenkampfs finden im Internationalen Komitee ihren notwendigen Ausdruck? Historisch betrachtet besteht ein tiefgehender Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte des Kapitalismus im Weltmaßstab, deren Auswirkung auf das Wachstum der Arbeiterklasse als gesellschaftliche Kraft und den politischen Formen, in denen diese objektiven sozioökonomischen Tendenzen in der historischen Entwicklung der internationalen marxistischen Bewegung Ausdruck finden.

So war die Gründung der Ersten Internationale Mitte der 1860-er Jahre die politische Vorwegnahme des Auftretens des internationalen Proletariats auf der Grundlage der weltweiten Expansion von kapitalistischer Industrie und Handel. Aber dieser realeökonomische und soziale Prozess war noch zu wenig ausgereift, um die Anstrengungen der Ersten Internationale am Leben zu erhalten. Diese stellte ihre praktischen Aktivitäten Mitte der 1870-er Jahre ein. Doch innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten brachte das außerordentlich schnelle Wachstum der Industrie in Westeuropa und Nordamerika ein neues Industrieproletariat hervor, das dazu neigte, sich politisch unabhängig zu organisieren. Gleichzeitig bezog die Expansion des Kolonialsystems überall auf der Welt Massen in den Strudel der kapitalistischen Entwicklung ein.

Die Gründung der Zweiten Internationale im Jahr 1889 widerspiegelte dieses neue Stadium der kapitalistischen Entwicklung und die sich daraus ergebende Zunahme des Umfangs und der wirtschaftlichen Bedeutung der neuen industriellen Arbeiterklasse. Während des nächsten Vierteljahrhunderts war die Entwicklung der Zweiten Internationale mit der Expansion der kapitalistischen Industrie verbunden. Obwohl dieser Prozess seinem Wesen nach international war, äußerte er sich vorrangig im Wachstum gewaltiger nationaler Industrien und der Entstehung mächtiger nationaler Arbeiterorganisationen. Natürlich hielt die Zweite Internationale an der Perspektive der internationalen Arbeitersolidarität fest, aber die praktische Arbeit ihrer Sektionen war tief im Fundament der nationalen Industrie verwurzelt. Als die Zweite Internationale ins zweite Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts eintrat, war sie unfähig zu verstehen, in welchem Maße die wachsende militaristische Bedrohung durch den Imperialismus den Zerfall der Souveränität der nationalen Wirtschaft unter dem Druck der Weltwirtschaft widerspiegelte.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Zusammenbruch der Zweiten Internationale und die Entstehung der Dritten Internationale waren Äußerungen dieser grundlegenden Veränderung. Trotzki erklärte das so:

"Am 4. August 1914 hatte den nationalen Programmen unwiderruflich die letzte Stunde geschlagen. Die revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches dem Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des Höhepunkts und Zusammenbruchs des Kapitalismus entspricht. Ein internationales kommunistisches Programm ist auf keinen Fall eine Summe nationaler Programme oder eine Zusammenstellung deren gemeinsamer Züge. Ein internationales Programm muss unmittelbar aus der Analyse der Bedingungen und Tendenzen der Weltwirtschaft und des politischen Weltsystems als Ganzem hervorgehen, mit all ihren Verbindungen und Widersprüchen, d.h. mit der gegenseitigen antagonistischen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile. In der gegenwärtigen Epoche muss und kann die nationale Orientierung des Proletariats in noch viel größerem Maße als in der vergangenen nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt. Darin besteht der grundlegende und ursächliche Unterschied zwischen der Kommunistischen Internationale und allen Abarten des nationalen Sozialismus." (5)

Als Trotzki 1928 diese Worte schrieb, wurde innerhalb der Dritten Internationale die Auffassung bereits angegriffen, wonach die Weltwirtschaft die Hauptgrundlage für die Entwicklung der revolutionären Strategie bildet. Das stalinistische Programm des Sozialismus in einem Land war das exakte Gegenteil des Internationalismus, der im Oktober 1917 die strategische Grundlage für die Machteroberung durch die Bolschewistische Partei gebildet hatte. Die stalinistische Auffassung, laut der die Entwicklung der sowjetischen Nationalwirtschaft der vorrangige und entscheidende Faktor für den Erfolg des sozialistischen Projekts in der UdSSR war, stellte einen Rückfall in die nationalistische Sichtweise dar, die in der Zweiten Internationale vorgeherrscht hatte. Man muss anmerken, dass Stalins Perspektive in der Führung vieler Sektionen der Kommunistischen Internationale auf Resonanz stieß. Diese teilten seine Vorstellung, dass die unmittelbaren nationalen Bedingungen, denen die Arbeiterklasse in jedem Land gegenüberstand, den Ausgangspunkt er praktischen Aktivität bilden sollten.

Zu jenen, die Stalins nationalistische Orientierung verteidigten und sich bemühten, sie theoretisch und politisch zu rechtfertigen, gehörte auch Antonio Gramsci. "Die Entwicklungstendenz geht sicher in Richtung Internationalismus," schrieb er. "Aber der Ausgangspunkt ist ‚national’ - und bei diesem Ausgangspunkt muss man beginnen." (6) Im Lichte der nachfolgenden Geschichte der italienischen Kommunistischen Partei, die nach dem Zusammenbruch des Mussolini-Regimes die Bourgeoisie und den italienischen Kapitalismus rettete und sich zu einer linksreformistischen nationalenPartei par excellence entwickelte, sind die politischen Implikationen von Gramscis Standpunkt klar geworden. Es überrascht nicht, dass sich die italienischen Stalinisten das Andenken Gramscis zu eigen machten, der 1930 infolge der Misshandlungen durch die Faschisten starb, und ihn als theoretischen Ideengeber ehrten.

Die Vierte Internationale wurde 1938 von Trotzki als Antwort auf die stalinistische Degeneration der Dritten gegründet. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte auf tragische Weise den Vorrang der Weltwirtschaft und Weltpolitik vor Augen. Paradoxerweise hatte aber die erneute Stabilisierung des Kapitalismus, die nach dem Krieg auf der Grundlage von Bretton Woods einsetzte, eine Neubelebung des nationalreformistischen Programms in der internationalen Arbeiterbewegung zur Folge.

Die Expansion des Welthandels, das Anwachsen des Bruttosozialprodukts der nationalen kapitalistischen Wirtschaften und selbst die außerordentliche Verbesserung des Lebensstandards in der Sowjetunion während der 1950-er und 1960-er Jahre verschafften den nationalen reformistischen Parteien, einschließlich der stalinistischen Organisationen, wieder Auftrieb. Aber so beeindruckend der Anstieg des Bruttosozialprodukts und selbst des Lebensstandards in dieser Zeit auch gewesen sein mag, erwies er sich lediglich als verlängerter Altweibersommer für den nationalen Reformismus. Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, das Einsetzen einer langen Wirtschaftskrise, gekennzeichnet durch wiederholte Inflationsschübe, Rezession, wachsende Arbeitslosigkeit, einen anhaltenden Rückgang der Rentabilität und den Übergang der Bourgeoisie, insbesondere der amerikanischen und der britischen, zu einer brutalen Offensive gegen die Arbeiterklasse, führten zum vollkommenen Versagen des nationalen Reformismus als tragfähige Politik.

Unter diesen Bedingungen begann das Internationale Komitee im Sommer 1987 die Arbeit an einem neuen Perspektivdokument. Um die Frage zu beantworten, die zu Beginn des Vierten Plenums gestellt worden war, studierte dasInternationale Komitee aufmerksam die neuen Formen der globalen kapitalistischen Produktion, die in den späten 1970-er und frühen 1980-er Jahren begünstigt durch Entwicklungen in der Computertechnologie sowie kostengünstige Kommunikations- und Transportmöglichkeiten entstanden waren. Die Entstehung des transnationalen Konzerns stellte einen qualitativen Fortschritt bei der globalen Integration der kapitalistischen Produktion und des Finanzwesens dar. Aufgrund dieser Entwicklung nahm der historische Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem Nationalstaatensystem, in dem der Kapitalismus historisch verankert ist und das weiterhin das Grundelement seiner politischen Organisation bildet, eine nie dagewesene Schärfe an.

Eine revolutionäre Lösung dieser Krise war nur auf der Grundlage des sozialistischen Internationalismus möglich, das heißt mittels der politischen und praktischen Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse. Keine der bestehenden, national orientierten Organisationen der Arbeiterklasse - stalinistische, sozialdemokratische und reformistische Gewerkschaften- konnte diese Krise lösen. Die endlosen Niederlagen, die diese Organisationen in der jüngsten Periode erlitten haben, ergaben sich unvermeidlich aus der völligen Ohnmacht ihrer nationalen Orientierung angesichts der neuen internationalen Organisationsformen des Kapitalismus. Nur das internationale Programm des Internationalen Komitees entsprach der Herausforderung, der die Arbeiterklasse aufgrund der globalen Integration des Kapitalismus gegenüberstand.

Wird fortgesetzt

Anmerkungen

5) Leo Trotzki, "Die Dritte Internationale nach Lenin", Essen 1993, S. 24-25

6) Antonio Gramsci, "Prison Notebooks", New York 1971, p. 240; aus dem Englischen

Siehe auch:
Marxismus Internationales Komitee und wissenschaftliche Perspektiven - Teil 1
(15. Januar 2005)
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