Visa-Affäre: Kampagne und Realität

Seit mehreren Monaten geistert die sogenannte Visa-Affäre durch die deutschen Schlagzeilen. Sie begann mit Anschuldigungen gegen den ehemaligen Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer (Die Grünen), er habe sein Amt zu privaten Geschäftszwecken missbraucht, steigerte sich dann zum Vorwurf, Volmer habe durch einen vor fünf Jahren erlassenen Visa-Erlass die Einreise von Zwangsprostituierten und Schwarzarbeitern aus der Ukraine begünstigt, und gipfelte schließlich in Rücktrittsforderungen an Außenminister Joschka Fischer (Die Grünen).

Mittlerweile beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss des Bundestags mit den Vorwürfen. Er soll klären, ob die Visapolitik des Außenministeriums die massenhafte Schleusung von Migranten nach Deutschland und Europa, die Zwangsprostitution von Frauen aus Osteuropa und die illegale Schwarzarbeit von Ausländern begünstigt habe.

Wie dies in der deutschen Politik oft der Fall ist, dient die zum Skandal aufgebauschte Visa-Frage als Kulisse, hinter der ganz andere Fragen ausgefochten werden, in die das Publikum möglichst wenig Einblick erhalten soll. Es geht um innenpolitische wie um außenpolitische Ziele. Dabei lässt sich nur schwer feststellen, wer welche Strippen zieht, welche Pläne verfolgt und welche Intrigen schmiedet.

Sicher ist, dass nicht nur die Oppositionsparteien daran interessiert sind, Fischer zu Fall zu bringen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit das vorzeitige Ende der rot-grünen Koalition in Berlin bedeuten würde. Auch innerhalb der SPD gibt es starke Tendenzen, die die Zusammenarbeit mit den Grünen gerne beenden und eine große Koalition mit der Union eingehen möchten. Auf diese Weise würde die Opposition im Parlament auf eine kleine Minderheit reduziert und die Regierung hätte freie Hand, trotz des wachsenden Unmuts in der Bevölkerung "unpopuläre" Maßnahmen durchzuführen.

Außenpolitisch gibt es quer durch die Parteien Widerspruch zum Kurs von Schröder und Fischer, die sich von Washington abgrenzen und sich um ein enges Verhältnis zu Moskau bemühen. Auch hier könnte das Ende der rot-grünen Koalition einen Kurswechsel einleiten. Manches deutet darauf hin, dass zumindest ein Teil der Munition, die Magazine wie Stern und Spiegel gegen das Auswärtige Amt abgefeuert haben, aus dem Innenministerium von Otto Schily (SPD) stammt, der sowohl als Grünenfresser wie als Amerikafreund gilt.

Die Grünen ihrerseits sind unfähig, der Visa-Kampagne ernsthaft entgegenzutreten. Volmer trat am 11. Februar von seinen politischen Ämtern zurück - offiziell nicht wegen der Visa-Affäre, sondern wegen seiner Lobbytätigkeit für die privatisierte Bundesdruckerei, für die er seine im Außenministerium gewonnenen internationalen Verbindungen nutzte. Fischer selbst hielt sich lange Zeit bedeckt, um schließlich reumütig "Fehler" einzuräumen.

Thema dieses Artikels sind aber nicht die Intrigen, die sich um die Visa-Affäre spinnen, sondern die in Medien und Politik weitgehend unwidersprochene Behauptung, Zwangsprostitution und sklavenhalterische Ausbeutung von Ausländern ohne Aufenthaltsstatus seien das Ergebnis einer erleichterten Visa-Vergabe durch das Außenministerium. Sie erweist sich bei näherem Hinsehen als unhaltbar. Eine noch restriktivere Ausländerpolitik, wie sie von den Unionsparteien gefordert wird, würde den Menschenhandel mit jungen Frauen aus Osteuropa oder die illegale Immigration nicht begrenzen, sondern eher noch verstärken.

Die Widerlegung dieser Behauptung ist umso notwendiger, als im Rahmen der Visa-Affäre systematisch gegen Ausländer und Immigranten gehetzt wird. Das geht so weit, dass speziell Ukrainer, die über die Visapraxis der Bundesregierung in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, als Schwerstkriminelle diffamiert werden.

Die Visa-Vergabe des Außenministeriums

Um das in der Regel langwierige Verfahren der Visa-Vergabe zu verkürzen, hatte 1995 bereits die Kohl-Regierung das "Carnet de Touriste" (CdT) eingeführt, eine Art Versicherung, durch die Kosten im Krankheitsfall sowie auch möglicherweise anfallende Kosten einer Abschiebung gedeckt werden. Das vom ADAC verkaufte CdT wurde an Stelle einer schriftlichen Einladung als Bonitätsnachweis akzeptiert, dass die Visa-Antragsteller sowohl ihren Aufenthalt als auch die Rückkehr in die Herkunftsländer finanzieren können.

Auf dieser Regelung aufbauend erließ dann die Regierung Schröder einige weitere leichte Vereinfachungen bei der Visa-Vergabe, die nun in der Kritik stehen.

Am 15. Oktober 1999 erging ein Erlass, bei Kurzzeitvisa in der Regel auf eine weitere Prüfung von Reisemitteln, Reisezweck und Rückkehrbereitschaft zu verzichten. Am 3. Dezember 2000 trat der so genannte "Volmer-Erlass" in Kraft, der die Botschaften anwies, im Zweifelsfall für die Visumvergabe zu entscheiden. Und am 2. Mai 2001 wurden die Botschaften und Konsulate angewiesen, neben dem CdT des ADAC auch Reiseschutzpässe des Unternehmens "sorglos reisen" von Heinz Kübler zu akzeptieren.

Im Juni 2002 begannen Ermittlungen gegen Heinz Kübler wegen des Verdachts der Einschleusung von Migranten. Reiseschutzpässe von Küblers Unternehmen wurden daraufhin auf Anweisung des Auswärtigen Amtes nicht mehr anerkannt. Am 28. März 2003 schließlich stoppte das Auswärtige Amt die Kopplung der Visa-Vergabe an die Vorlage von Reiseschutzpässen vollständig.

Tatsächlich stieg die Zahl der in den Botschaften von Moskau, Minsk und Tirana ausgestellten Visa in den Jahren 2000 bis 2002 an, in der albanischen Hauptstadt Tirana etwa von 8.000 auf 19.000 pro Jahr. Den stärksten Anstieg aber verzeichnete die Botschaft in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wo sich die Zahl der Visa von 148.000 im Jahr 1999 auf knapp 300.000 im Jahr 2001 erhöhte. Bis zum Jahr 2004 ging sie dann allerdings wieder auf 70.000 zurück.

Die Unionsparteien versuchen nun, einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der vergebenen Visa und dem Menschenhandel mit osteuropäischen Frauen sowie deren Zwangsprostitution zu konstruieren. Der nordrhein-westfälische CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers bezeichnete die Visapolitik der Bundesregierung als "größte Menschenrechtsverletzung seit 1945". Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle sprach von einer Bagatellisierung des Menschenhandels durch die Bundesregierung und meinte, "bei der Visa-Affäre geht es doch nicht um einen Hühnerdiebstahl, sondern um handfestes Regierungsversagen zu Gunsten von Schwerstkriminalität". Der CSU-Bundestagsabgeordnete Michael Glos bezeichnete Joschka Fischer gar als "Zuhälter".

Doch die Vorwürfe haben sich mehr und mehr als haltlos erwiesen. So erklärte Eberhard Haake, Chef der dem Finanzmisterium unterstellten Fahndungseinheit "Finanzkontrolle Schwarzarbeit", gegenüber der Süddeutschen Zeitung : "Die Masse der Schwarzarbeit wird von Inländern geleistet. Was die illegalen Ausländer betrifft, gab es nie einen Massenandrang aus der Ukraine."

Trotz der verstärkten Kontrolldichte hat die Zahl der aufgedeckten illegalen Ausländerbeschäftigung in den letzen Jahren sogar leicht abgenommen. Auch in der Polizeilichen Kriminalstatistik, die akribisch die Staatsbürgerschaft der Tatverdächtigen festhält, findet sich keine Zunahme von Ukrainern. Deren Anteil an der Gesamtheit aller Straftaten liegt weiter im marginalen Bereich von unter 0,5 Prozent.

Hilfsorganisationen, die sich um Zwangsprostituierte kümmern, haben zudem in einem offenen Brief versichert, dass in den letzten Jahren nur eine einzige Ukrainerin bei ihnen um Hilfe nachgesucht hat. Bei dem polizeilich aufgedeckten Menschenhandel sank der Anteil ukrainischer Frauen an der Gesamtzahl ausländischer Opfer sogar von 20 Prozent im Jahr 1998 auf mittlerweile 8 Prozent.

Obwohl rund 1 Million Ukrainer von 1998 bis 2004 ein Besuchervisum für Deutschland erhalten haben, bleiben sie in allen einschlägigen Statistiken vollkommen irrelevant. Nicht zuletzt deshalb, weil für den Menschenhandel und Zwangsprostitution ein Visa-Antrag kontraproduktiv ist, da damit zwangsläufig persönliche Daten bei den Behörden hinterlassen werden. Für die Zwangsprostitution gilt zudem, dass die Illegalität der betroffenen Frauen die Abhängigkeit von den Zuhältern noch erhöht. Ihnen droht ohne Visum und Aufenthaltsgenehmigung die Abschiebung, sollten sie ihren Peinigern entkommen und sich bei den Behörden melden.

Ursachen des Menschenhandels

Die Kampagne von Union und FDP verschleiert bewusst die eigentlichen Ursachen des milliardenschweren Geschäfts des Menschenhandels.

Bereits im März letzten Jahres fasste Eleonore von Rothenhan, Geschäftsführerin der Hilfsorganisation Stopp dem Frauenhandel die tatsächlichen Gründe für den Menschenhandel mit Frauen aus Osteuropa fernab von jeder Visa-Vergabepolitik in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung zusammen: "Die Armut in Osteuropa, eine alte Nomenklatura, die mit den Menschenhändlern zusammenarbeitet und - so zynisch es klingen mag - geringere Transportkosten [als für Frauen aus Südostasien]."

Den betroffenen Frauen wird oftmals versprochen, sie bekämen in Westeuropa eine Anstellung als Kellnerin, als Pflegerin oder Hauswirtschafterin. Die dabei in Aussicht gestellten Wochenlöhne von rund 200 Euro haben auf diese Frauen aufgrund des dramatisch gesunkenen Lebensstandards in Osteuropa und den GUS-Staaten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine hohe Anziehungskraft. Dadurch geködert werden die Frauen illegal über die Grenze in Bordelle gebracht oder an deutsche Zuhälter verkauft.

Das gleiche Wohlstandsgefälle ist auch ursächlich für die illegale Ausländerbeschäftigung. Mitte der 1990er Jahre bestand ein Lohngefälle zwischen Deutschland und Polen von etwa 10 zu 1. Seither hat es sich nur unwesentlich verringert. Gegenüber den GUS-Staaten Ukraine, Russland und Weißrussland erreicht es einen Wert von etwa 50 zu 1. Der beispiellose wirtschaftliche Niedergang der osteuropäischen Staaten hat weite Teile der Bevölkerung in Elend und Hoffnungslosigkeit gestürzt. Die Migration nach Westeuropa, um dort Arbeit zu bekommen, ist oftmals der letzte Ausweg, um ein Auskommen zu finden.

Dafür wird dann sogar in Kauf genommen, ohne jede soziale Absicherung und rechtlos den Arbeitgebern ausgeliefert zu sein. Beschäftigung finden sie in den so genannten 3-D-Jobs (dirty, dangerous and demeaning, also schmutzig, gefährlich und erniedrigend).

Doch auch der informelle Arbeitsmarkt, auf dem die dem Elend entflohenen Menschen ihre Arbeitskraft anbieten müssen, ist in den letzten Jahren unter Druck geraten. Mittlerweile sind Stundenlöhne von 50 bis 80 Cent für illegal in Deutschland lebende Ausländer schon keine Ausnahme mehr. Der dadurch zu erwirtschaftende Profit geht in die Taschen deutscher Unternehmer, wie Eberhard Haake berichtet: "Zum überwiegenden Teil streichen Deutsche die Gewinne ein. Leistungen werden von Subunternehmen mit den üblichen Preisen berechnet, obwohl die Personalkosten viel niedriger waren."

Wer zudem nicht bereits vor der Migration über Kontakte in Deutschland verfügt, hat in der Regel keine Chance, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Die Visa-Vergabepolitik spielt dabei nur eine geringe Rolle, da die Kontaktpersonen auch die nötigen Mittel und Wege für die legale oder illegale Einreise bereitstellen. Die restriktive Visa-Vergabepolitik, die nach Rücknahme der Erlasse wieder praktiziert wird, befördert letztlich nur das skrupellose Geschäft kleiner Schleuserbanden, die migrationswillige Menschen gegen eine fürstliche Entlohnung über die Grenzen nach Westeuropa schmuggeln.

Menschenrechtsverletzungen durch das Migrationsregime

Die Menschenrechtsverletzungen, die der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers in der Visa-Vergabepolitik erblickt, sind viel eher dem Migrationsregime anzulasten, mit dem Deutschland und die EU jegliche legale Einreise nach Westeuropa nahezu unmöglich gemacht haben. Die Abschottung der Festung Europa kostet jedes Jahr Hunderte Migranten und Flüchtlingen das Leben. Das Flüchtlingshilfsnetzwerk United hat in den letzten zwölf Jahren etwa 5.000 Opfer des europäischen Migrations-Kontrollregimes aufgelistet, die Dunkelziffer dürfte noch um ein Vielfaches höher liegen.

Schaffen die Migranten den Grenzübertritt, werden sie im Inland von der Polizei weiter gejagt. Die Angst vor der Aufdeckung ihres Status als illegale Ausländer ohne Arbeitsgenehmigung macht sie zudem in jeder Hinsicht anfällig für die Ausbeutung durch Arbeitgeber und Wohnungsvermieter. Menschenhandel und Zwangsprostitution können ebenfalls nur auf dem Boden der Abschottungspolitik der EU gegenüber Migranten gedeihen, denn die illegale Schleusung der betroffenen Frauen treibt deren Preise in die Höhe.

Die Abschottung der Festung Europa ist auch unter der rot-grünen Bundesregierung weiter vorangetrieben worden. Die von Fischer und Volmer eingeführte vereinfachte Visa-Vergabepraxis bezeugt keine ausländerfreundliche Ideologie der Grünen, wie das Wochenmagazin Der Spiegel suggerieren will. Die Grünen haben sowohl das Zuwanderungsgesetz gebilligt, das erhebliche Verschlechterungen für Ausländer und Flüchtlinge mit sich bringt, als auch die massenhafte Abschiebung von Flüchtlingen. Die Asylbewerberzahlen sind unter Rot-Grün ebenso im freien Fall, wie die Anerkennungsquoten der Asylanträge.

Es ist auch bezeichnend, dass sich die Regierungskoalition auf die ausländerfeindliche Hetze der Union einlässt. Die Vorwürfe, durch die Visa-Politik sei Kriminalität nach Deutschland importiert worden, trifft bei Sozialdemokraten und Grünen auf keinen Widerspruch.

Selbst der in der Kritik stehende Fischer hat nur kleinlaut das Büßergewand angelegt und sich schuldbewusst gezeigt. Den Vorwürfen der Union, die Visa-Vergabe habe Zwangsprostitution, Menschenhandel und Schwarzarbeit befördert, hat auch er nichts entgegenzusetzen. Er bestätigt sie im Gegenteil noch.

Auf dem Parteitag der nordrhein-westfälischen Grünen in Köln sagte Fischer, dass in seiner Verantwortung zwei Erlasse durchgeführt wurden, "die dieses missbrauchsanfällige Instrument vor allen Dingen der Reiseschutzversicherung noch missbrauchsanfälliger gemacht haben". Im Interview mit der Frankfurter Rundschau fügte er hinzu, dass er "das Ausmaß des Visamissbrauchs" bei einem Besuch der deutschen Botschaft in Kiew im Jahr 2000 unterschätzt habe.

Das hinderte den nordrhein-westfälischen SPD-Vorsitzenden Harald Schartau nicht daran, Fischer im Tagesspiegel offen zu attackieren. Ins selbe Horn stieß der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD), der die Koalition mit den Grünen offen in Frage stellte. Schartau und Beck stimmten in das nationalistische Getöse der Union ein, dass durch die Visa-Vergabepraxis massenhaft "Fremde ins Land" gekommen wären, "die der Bevölkerung dann als Schwarzarbeiter die Arbeit wegnehmen".

Eine Lüge wird nicht wahrer, wenn man sie wiederholt. Die illegale Immigration und Schwarzarbeit von Ausländern wird nicht nur durch die restriktive Einwanderungspolitik Deutschlands mit verursacht, sie dient auch als Hebel, um allgemein die Löhne zu senken und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.

Siehe auch:
Parteitag der Grünen: Eine bürgerliche Mittelstandspartei
(9. Oktober 2004)
Volle demokratische und soziale Rechte für alle Flüchtlinge und Immigranten!
( 6. Mai 2004)
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