60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg

In diesen Tagen erscheint die Mai/Juni-Ausgabe der Zeitschrift gleichheit , die wichtige Artikel der World Socialist Web Site in gedruckter Form zusammenfasst. Wir dokumentieren hier das Editorial der neuen Ausgabe.

Vor sechzig Jahren versank Berlin, die Hauptstadt von Hitlers "Tausendjährigem Reich", in Schutt und Asche. Der Diktator beging am 30. April Selbstmord und am 8. Mai unterzeichneten die Verantwortlichen des deutschen Generalstabs die bedingungslose Kapitulation. Damit endete das brutalste und verbrecherischste Regime, das die Menschheit je erlebt hat - ein Regime, das einen Angriffskrieg vom Zaun brach, der rund 70 Millionen Opfer kostete, das ganz Europa mit Repression und Unterdrückung überzog und das über sechs Millionen Juden und Roma systematisch ermordete.

Der Jahrestag des Kriegsendes findet großes öffentliches Interesse. Er wird durch eine Fülle von Fernsehdokumentationen, Filmen, Büchern und Veranstaltungen begleitet. Dieses Interesse ist unter anderem damit zu erklären, dass die Gewissheit, solche Ereignisse könnten sich nicht wiederholen, in jüngster Zeit schwer erschüttert worden ist.

In der Nachkriegsperiode hatte die weit verbreitete Überzeugung vorgeherrscht, Faschismus, Krieg und was ihnen vorausgegangen war - wirtschaftlicher Zusammenbruch, Massenarbeitslosigkeit und Massenelend - gehörten (zumindest in den industrialisierten Ländern) einer vergangenen Epoche an. Das ist nicht mehr der Fall. Die Massenarbeitslosigkeit ist bereits wieder da, die Weltwirtschaft ist in wachsendem Maße instabil, und spätestens seit dem Irakkrieg ist klar, dass die Großmächte und insbesondere die USA militärische Gewalt weder als legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen betrachten. Ein dritter Weltkrieg ist damit wieder zu einer realen Gefahr geworden.

Das politische Niveau der Beiträge zum Kriegsende ist in der Regel niedrig. Größtenteils handelt es sich um detaillierte Schilderungen einzelner Ereignisse und Episoden, um persönliche Erinnerungen oder um Biografien einzelner Nazi-Führer. Was fehlt ist ein historisches Verständnis des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs - ein Verständnis ihrer politischen und ideologischen Ursachen, ihrer sozialen Grundlage, ihrer historischen Funktion - aus dem sich Lehren ziehen und Schlussfolgerungen ableiten ließen.

Diese Oberflächlichkeit in der Debatte über das Kriegsende ist nicht nur das Ergebnis von jüngeren philosophischen Modetrends, wie des Postmodernismus, die jede Möglichkeit einer objektiven, systematischen Erkenntnis bestreiten. Sie ist vor allem die Folge einer allgemeinen Ratlosigkeit, die sich aus dem Scheitern der offiziellen politischen Vorstellungen der Nachkriegsperiode ergibt.

Die historische Funktion des Nationalsozialismus hatte darin bestanden, heruntergekommene Kleinbürger und Lumpenproletarier zu organisieren, um sie als Rammbock gegen die organisierte Arbeiterklasse einzusetzen und in den Dienst des deutschen Imperialismus zu stellen. Hitlers Kriegsziele - Reorganisation Europas unter deutscher Vorherrschaft und Expansion nach Osten - waren im Wesentlichen dieselben, die schon Kaiser Wilhelm im Ersten Weltkrieg verfolgt hatte. Und wie jene entsprachen sie den Expansionsgelüsten der deutschen Wirtschaft, deren volle Unterstützung sie genossen.

Unmittelbar nach Kriegsende war dieser Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Nationalsozialismus im allgemeinen Bewusstsein. Wirtschaftsführer wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Der Ruf nach einer Überwindung der kapitalistischen Ordnung war so allmächtig, dass er sogar einen Widerhall im Ahlener Programm der CDU fand. Die Rettung der bürgerlichen Ordnung erforderte eine andere Interpretation des Nationalsozialismus. Sie fand sich unter anderem in den Schriften von Hannah Arendt und der Frankfurter Schule.

Hannah Arendt erklärte den Nationalsozialismus nicht aus den internationalen Gegensätzen und Klassenkonflikten, die das gesellschaftliche Leben der Weimarer Republik beherrschten, sondern aus der Gegenüberstellung zweier abstrakter Prinzipien - von Totalitarismus und Demokratie. Die Frankfurter Schule versuchte ihrer Kritik des Nationalsozialismus zwar einen marxistischen Anstrich zu geben, lehnte aber die revolutionäre Rolle, die Marx der Arbeiterklasse zugeschrieben hatte, entschieden ab. "Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft", lautet ein Kernsatz in "Dialektik der Aufklärung", dem Schlüsselwerk von Max Horkheimer und Theodor Adorno.

Der Kampf gegen Krieg, Faschismus und Reaktion war demnach keine Klassenfrage; es ging nicht darum, die Arbeiterklasse zu mobilisieren, um die kapitalistische Ordnung zu beseitigen. Vielmehr fiel die Verteidigung der "Demokratie" als Aufgabe dem Staat zu. Er hatte dafür zu sorgen, dass die sozialen Gegensätze nicht ausuferten und den "sozialen Frieden" gefährdeten. Er hatte die "Demokratie" notfalls auch mit Mitteln der Repression gegen Bedrohungen von rechts - und vor allem von links - zu verteidigen. Diese Interpretation lieferte die Grundlage für die offizielle politische Ideologie der Nachkriegszeit, die von SPD und CDU gleichermaßen vertreten wurde - soziale Marktwirtschaft, Sozialpartnerschaft, wehrhafte Demokratie.

Solange die internationalen Beziehungen stabil blieben, die Wirtschaft wuchs und Deutschland seine globalen Interessen im Windschatten der USA wahrnehmen konnte, schien dies zu funktionieren und eine Garantie für halbwegs demokratische Verhältnisse zu bieten. Doch mit der Globalisierung von Produktion und Finanzmärken, dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Sowjetunion und schließlich dem Übergang der Vereinigen Staaten zu einer gewaltsamen, unilateralen Außenpolitik haben sich die inneren wie die äußeren Rahmenbedingungen grundlegend verändert. Eine tiefe politische Krise zieht sich quer durch alle politischen Lager.

Außenpolitisch strebt die Bundesrepublik wieder die Rolle einer Weltmacht an, die sich auch militärischer Mittel bedient. Ausgerechnet unter der Verantwortung von SPD und Grünen ist die Bundeswehr, bis zur Wiedervereinigung strikt auf Verteidigungsaufgaben beschränkt, wieder an zahlreiche Schauplätze des Weltgeschehens zurückgekehrt. Sie verteidigt - in den Worten von Verteidigungsminister Peter Struck - "unsere Freiheit am Hindukusch". Aber welche Strategie soll Deutschland verfolgen, welche Richtung soll es einschlagen? Darüber gibt es keine Übereinstimmung und heftige Auseinandersetzungen.

Der konservative Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz gelangt in einem neuen Buch über die deutsche Außenpolitik zum Schluss, dass es zu kurz gegriffen wäre, "die derzeitige Orientierungslosigkeit der Berliner Außenpolitik nur der rot-grünen Bundesregierung anzulasten". In Wirklichkeit seien alle Parteilager ratlos. Dann listet er die "großen Entscheidungsfragen" auf, die nach Antwort verlangen: "Wie gefährlich ist Amerika? Wie unentbehrlich? Kann aus der Europäischen Union eine neue Sicherheitsgemeinschaft werden? Oder sollten wir rasch auf ein ‚Kerneuropa’ zusteuern? Doch ist nicht auch Frankreich für uns ein Problemfall, darin den USA ähnlich? Soll die EU wie bisher uferlos erweitert werden - auch um die Türkei? Muss sich Deutschland wirklich in die unübersichtliche Krisenzone des Mittleren Ostens hineinstoßen lassen, wo überall die Pulverfässer herumstehen, wie einstmals auf dem Balkan der Jahrzehnte vor 1914? ... Überhaupt: Wie kann und wie soll Deutschland künftig seine wohlverstandenen Interessen definieren - national, europäisch, global?"

Im Innern haben die Folgen der Globalisierung, der EU-Osterweiterung und der verschärften internationalen Konkurrenz der Politik des sozialen Ausgleichs den Boden entzogen. Die Regierung Schröder-Fischer hat in den vergangenen sechs Jahren einen beispiellosen Sozialabbau durchgeführt und die Steuern für Unternehmen drastisch gesenkt. Die Unternehmen ihrerseits haben mit Hilfe der Gewerkschaften schmerzliche Einschnitte bei Löhnen und Arbeitszeiten durchgesetzt.

Das ist nicht ohne Wirkung geblieben. Die Produktionskosten sind in den letzten acht Jahren deutlich langsamer gewachsen als in den USA. Mit einem Weltmarktanteil von 10 Prozent steht Deutschland bei den Exporten an erster Stelle. Und trotzdem springt die Konjunktur nicht an. Die Hartz-Reformen haben sich trotz ihrer drastischen sozialen Auswirkungen als wirkungslos erwiesen. Die Vertreter der Wirtschaft verlangen weitergehende und drastischere Reformen, die sich mit den bisherigen Herrschaftsmethoden nicht durchsetzen lassen.

So fordert der Wirtschaftsberater Roland Berger die Senkung der Lohnnebenkosten von 42 unter 30 Prozent, eine Reduzierung der Gesamtsteuerbelastung für Unternehmen und Reiche von 40 auf maximal 25 Prozent sowie eine weitgehende Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur. Zu diesem Zweck schlägt er eine vorübergehende Außerkraftsetzung der Demokratie vor: "Am Anfang wird dies nicht gehen ohne eine Große Koalition", sagt er. Dazu müssten sich die Politiker vorher auf ein Programm einigen, "das sie in zwei Jahren durchziehen, und sich danach wieder getrennt zur Wahl stellen".

Die Konzepte der sozialen Marktwirtschaft, der Sozialpartnerschaft und der wehrhaften Demokratie, die offizielle Ideologen bisher als Lehren aus der Katastrophe des Dritten Reichs verkündet haben, sind offensichtlich gescheitert. Daher die Sprachlosigkeit in der Debatte über das Kriegsende. Daher auch die groteske Farce der Kapitalismus-Kritik, die der SPD-Vorsitzende Klaus Müntefering gegenwärtig vorführt. Mit dem Vorwurf, das Kapital werde seiner gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht, versucht er die Geister der Vergangenheit zu beschwören und die Seelen der gebeutelten Parteifunktionäre zu massieren, die seit Jahren den geballten Unmut der Bevölkerung zu spüren bekommen. Aber die Sozialpartnerschaft lässt sich nicht wieder beleben. Münteferings Vorwurf steht in krassem Gegensatz zu allem, was die SPD in den vergangnen sechs Jahren getan hat und auch weiterhin tun wird. Schließlich hat die rot-grüne Regierung all die Gesetze verabschiedet, deren Auswirkungen der SPD-Vorsitzende nun bitter beklagt. Münteferings Äußerungen sind Ausdruck der enormen Krise, in der sich die SPD und die gesamte bürgerliche Politik befinden.

Wie kann die Arbeiterklasse angesichts dieser Krise ihre sozialen und demokratischen Rechte verteidigen und einen Rückfall in Krieg und Barbarei verhindern?

Es gibt eine weit verbreitete Empörung und Ablehnung der gegenwärtigen Politik. Aber es wäre verfehlt zu glauben, ein spontaner Ausbruch dieser weitverbreiteten Empörung und Duck auf die Herrschenden werde die sozialen und politischen Probleme lösen. Eine Offensive der Arbeiterklasse muss theoretisch und politisch vorbereitet werden. Sie braucht eine unabhängige politische Orientierung. Sie erfordert ein Verständnis der internationalen Lage und der Lehren aus der Geschichte. Sie setzt eine Wiederbelebung der internationalen, sozialistischen Traditionen der marxistischen Arbeiterbewegung voraus, wie sie von der Vierten Internationale verteidigt wurden. Diese Aufgabe steht im Mittelpunkt der Arbeit der Partei für Soziale Gleichheit und ihres internationalen Organs, der World Socialist Web Site.

Siehe auch:
1. Mai 2005: 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges
(4. Mai 2005)
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