Russland: Feiern zum Kriegsende zeigen politische und soziale Spannungen

Obwohl der russische Präsident Wladimir Putin die Absicht hatte, die Feiern zum 60. Jahrestag des sowjetischen Siegs über Nazi-Deutschland zu einer Demonstration der Rolle Russlands in der Welt zu nutzen, brachte der Ablauf des Tages das Ausmaß der politischen und sozialen Spannungen ans Licht, die das Land gegenwärtig zerreißen.

In der Woche vor den Siegesfeiern wurde die Hauptsstadt in ein Heerlager verwandelt und das Zentrum Moskaus quasi in den Belagerungszustand versetzt. Fußgänger und Autos durften sich nur noch mit Sonderausweisen bewegen, wichtige U-Bahnstationen wurden geschlossen, und aus großen Einfallstraßen wurden Privatfahrzeuge abgeschleppt.

Beschäftigte in Bürohäusern der Innenstadt wurden aufgefordert, sich von Balkonen fern zu halten, wenn sie nicht zum Ziel für die vielen Hundert Scharfschützen auf den umliegenden Dächern werden wollten. Es wurde auch berichtet, Regierungsvertreter wollten alle Obdachlosen und alle, die keine Aufenthaltsgenehmigung für Moskau besitzen, aus der Stadt zu verbannen.

Diese außerordentlichen Sicherheitsmaßnahmen wurden mit dem Besuch von 50 ausländischen Staatsoberhäuptern und der Bedrohung durch tschetschenische Terroristen gerechtfertigt. Auf die Siegesfeierlichkeiten in Grosny war im vergangenen Jahr ein Bombenanschlag verübt worden, dem 32 Menschen, unter ihnen der Moskau-freundliche Präsident der Kaukasusrepublik, Achmad Kadyrow, zum Opfer fielen.

Die Bewohner Moskaus wurden aufgefordert, in ihren Wohnungen zu bleiben, oder, wenn möglich, die Stadt zu verlassen. Die Teilnahme an den Feierlichkeiten auf dem Roten Platz mit einer Militärparade und zahlreichen Musikgruppen aus vielen Ländern, Panzern aus der Sowjetära und einer Luftfahrtschau war nur mit einer besonderen Einladung möglich.

Die Moskauer Öffentlichkeit, die den Feiertag normalerweise auf den Straßen der Innenstadt begeht, wurde für den Jahrestag in die Parks und auf die Festplätze am Stadtrand verbannt. Diese geografische Trennung ist symptomatisch für die wachsende soziale Ungleichheit und die tiefe Kluft zwischen der arbeitenden Bevölkerung und der neuen herrschenden Elite.

Zwar war bei der offiziellen Feier auch die Teilnahme mehrerer Dutzend Veteranen eingeplant, vielen Überlebenden des Kriegs wurde aber der Zugang zum Roten Platz verwehrt. "An die Front brauchte ich keine Einladung", sagte ein 79-jähriger Veteran voller Verachtung, als er am Ort der Parade abgewiesen wurde, weil er nicht die notwendigen Papiere hatte.

Die Regierung Putin ist wegen der jüngsten Änderungen der Rentengesetze bei Rentnern und Weltkriegsteilnehmern weithin unbeliebt. Anfang des Jahres gingen Tausende Rentner in Moskau, St. Petersburg und anderen Städten auf die Straße, um gegen drastische Kürzungen von Sozialleistungen zu protestieren. Mit einem neuen Gesetz hat die Regierung Sozialleistungen aus Sachleistungen - wie freie Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel - in Geldleistungen verwandelt, deren Wert deutlich geringer ist.

Die Feier zur Erinnerung an den Sieg der UdSSR im Großen Patriotischen Krieg (wie der zweite Weltkrieg in Russland genannt wird) hat für Millionen Familien, die im Kampf gegen die Nazis enorme Opfer gebracht haben, nicht die gleiche Bedeutung wie für die russischen Kapitalisten und Ex-Bürokraten in Putins Umkreis.

Die Regierung Putin hat den Ablauf der Siegesfeier sorgfältig durchorganisiert, um der Sowjetunion und der russischen Nation die Reverenz zu erweisen. Auf der Feier vom 9. Mai waren Fahnen mit Hammer und Sichel, Portraits Lenins, rote Blumen schwenkende Veteranen und die Zurschaustellung der sowjetischen Militärmaschinerie allgegenwärtig.

Einfache Menschen mögen diese Symbole als Erinnerung an den Kampf des Sowjetvolkes gegen Hitler betrachten, der Putin-Regierung dienen sie dagegen als Mittel, den russischen Nationalismus zu fördern. Putin, ein Gegner der sozialistischen Traditionen der Revolution von 1917 und bekennender Antikommunist, versteht den sowjetischen Patriotismus der stalinistischen Bürokratie ganz richtig als eine Form des russischen Nationalismus.

Dieser Nationalismus bildete den Kern von Stalins Politik vom Aufbau des "Sozialismus in einem Lande". Der Kreml richtete die Feiern zum 9. Mai an diesen Traditionen aus und versuchte gleichzeitig, den Stolz und die Nostalgie, die viele einfache Russen für die Errungenschaften der sowjetischen Periode empfinden, für sich auszunutzen.

In Vorbereitung des Jahrestags gab es von der Regierung unterstützte Versuche, das Ansehen Stalins wieder zu beleben, was allerdings auf den Siegesfeiern auf dem Roten Platz nicht sichtbar war. In den Wochen vor dem 9. Mai tauchten Erinnerungsposter mit seinem Bild auf. Der "Siegeszug", der am Moskauer Bahnhof Belarussky ankam und den Weg siegreicher sowjetischer Soldaten von der Front nach Hause nachzeichnete, war mit einem riesigen Bildnis des Diktators auf der Lokomotive ausgestattet. Der Plan, eine Statue Stalins, Roosevelts und Churchills rechtzeitig zu den Feierlichkeiten am 9. Mai in Moskau zu enthüllen, wurde aus Angst vor der Opposition, die das hervorgerufen hätte, von Vertretern der Stadt wieder fallen gelassen.

In Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad, ist eine neue Statue der drei Unterzeichner des Jalta-Abkommens aufgestellt worden, um den Jahrestag zu feiern. Die örtliche Kommunistische Partei hat vorgeschlagen, den Namen der Stadt wieder in Stalingrad zu ändern. In Mirny, einer Stadt in der ostsibirischen Republik Jakutien, nahm ein neues Stalindenkmal den zentralen Platz bei den Festlichkeiten ein. Kommunalvertreter der Stadt Orel, einige hundert Kilometer von Moskau entfernt, haben kürzlich die Wiederherstellung beseitigter Stalin-Gedenkstätten in der Stadt gefordert und die Rückbenennung von Straßennamen zu Ehren Stalins, die nach der Auflösung der Sowjetunion geändert worden waren.

Putin selbst hat darauf geachtet, Stalin nicht zu direkt zu loben, und nannte ihn kürzlich in einem Interview mit einer deutschen Zeitung einen "Tyrannen". Ein offener Versuch des Kreml, Stalins Ansehen wieder herzustellen, wäre Wasser auf die Mühlen der Bush-Regierung, die Russland regelmäßig wegen der Unterhöhlung demokratischer Institutionen kritisiert.

Die Bemühungen, Stalin in Zusammenhang mit den 60-Jahrfeiern des Sieges über die Nazis zu rehabilitieren, verfälschen die Rolle vollkommen, die der Diktator im Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Die Sowjetunion triumphierte über den Faschismus trotz Stalins Verbrechen. Seine Vernichtung der besten Elemente der Oktoberrevolution von 1917 - darunter auch der begabtesten Militärführer der Sowjetunion -, sein Verrat an der deutschen und der spanischen Arbeiterklasse in der Zeit vor dem Ausbruch des Weltkriegs und seine Versuche, sich mit dem Nazi-Regime zu verständigen, hatten die UdSSR völlig unvorbereitet dem Angriff Hitlers ausgeliefert.

Putin spricht für den Teil der herrschenden Oligarchie Russlands, der der Meinung ist, dass die pro-amerikanische Orientierung des Kreml in den 1990er Jahren habe die nationalen Interessen des Landes und ihre eigene Macht und Privilegien untergraben. Die Wiederbelebung sowjetischer Symbolik im Zusammenhang mit dem "Großen Patriotischen Krieg" und die Wiederentdeckung Stalins zielen darauf ab, in der Bevölkerung Nationalismus zu wecken und sie davon zu überzeugen, dass der gesellschaftliche Zusammenbruch in Russland in den vergangenen fünfzehn Jahren die Folge des Verlustes des Großmachtstatus des Landes sei, und nicht eine Folge der Wiedereinführung des Kapitalismus.

Trotz aller Bemühungen des Kreml beleuchteten die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag die zunehmend unstabile Position der Putin-Regierung - innenpolitisch wie außenpolitisch. Diese Bemühungen wurden auch durch Bushs Besuch in der lettischen Hauptstadt unterlaufen, der in seiner Rede das gesamte Nachkriegsgebäude, das von Stalin, Roosevelt und Churchill 1945 in Jalta vereinbart worden war, als Beschwichtigung von Tyrannei verurteilte.

Bushs Bemerkungen, denen eine monatelange amerikanische Kritik an dem undemokratischen Charakter der Putin-Regierung vorausgegangen war, stellten eine offene Provokation dar. Der russische Präsident reagierte, indem er das Vorgehen der sowjetischen Armee auf dem Baltikum in Schutz nahm. "Unser Volk hat nicht nur seine Heimat verteidigt, sondern auch elf Länder in Europa befreit," sagte Putin. Am gleichen Tag wies Putin in einem Interview mit der wöchentlichen Nachrichtensendung 60 Minutes auf CBS die amerikanische Kritik an seiner Regierung mit dem Hinweis auf den antidemokratischen Charakter des amerikanischen Wahlmännergremiums und auf die Art und Weise zurück, in der Bush im Jahr 2000 vom Obersten Gerichtshof der USA ins Amt gehievt worden war.

In einem weiteren Affront gegen die Putin-Regierung traf sich Bush nach den Feiern vom 9. Mai mit Vertretern der so genannten demokratischen Opposition und Gegnern des Kreml-Regimes. Anschließend reiste er zu einem Treffen mit der proamerikanischen Regierung von Michail Saakaschwili nach Georgien weiter.

Der 60. Jahrestag wurde auch von diplomatischen Rückschlägen für die russische Regierung beeinträchtigt, die zeigen, dass die nachsowjetische Einflusssphäre Moskaus zerbröckelt. Die Präsidenten von Estland und Litauen boykottierten die Festlichkeiten, um ihre Westorientierung zu demonstrieren und anti-russischen Nationalismus im eigenen Land zu schüren.

Der georgische Präsident Saakaschwili lehnte die Einladung des Kreml ebenfalls ab, um gegen die Weigerung Moskaus zu protestieren, wie vereinbart einen Termin für die Schließung der russischen Militärbasen auf georgischem Territorium zu nennen. Auch der Führer von Aserbeidschan, Ilham Alijew, erschien nicht, weil sein Land immer noch im Streit mit Armenien über die Region Nagorni-Karabach liegt.

Die gespannten politischen Beziehungen in der traditionellen russischen Einflusssphäre fanden ihren klarsten Ausdruck am 8. Mai auf dem Gipfel der Führer der Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die nach dem Zusammenbruch der UdSSR aus den ehemaligen Sowjetrepubliken gebildet worden war. Das Schicksal der Organisation ist durch den wachsenden Einfluss der USA in den Ländern an Russlands Westgrenze und in Zentralasien in Frage gestellt.

Am Sonntag beschrieb Viktor Juschtschenko, der proamerikanische Präsident der Ukraine, der durch die von den USA unterstützte "orange Revolution" an die Macht gelangt ist, die GUS als von "geringem Wert", wenn sie nicht wesentlich reformiert werde, um die unterschiedliche politische Ausrichtung ihrer Mitgliedstaaten zu reflektieren. Die Ukraine und die GUS-Mitglieder Georgien und Moldawien streben die Mitgliedschaft in Nato und EU an. Moskau hat zwar erkennen lassen, dass es bereit ist, Initiativen zur Veränderungen der GUS zu ergreifen, um die wirtschaftliche Integration der Region zu stärken, der Block wird aber immer mehr als eine hauptsächlich dekorative Institution betrachtet.

Siehe auch:
Bratislava: Wachsende Spannungen zwischen Bush und Putin
(25. Februar 2005)
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