SPD-Vorstand in NRW tritt geschlossen zurück

Drei Tage nach dem Wahldebakel bei den Landtagswahlen ist der Landesvorstand der nordrhein-westfälischen SPD geschlossen zurückgetreten. Der Landesvorsitzende Harald Schartau, der gleichzeitig das Amt des Arbeits- und Wirtschaftsministers bekleidete, wird bei der Wahl des neuen Vorstands am 9. Juli nicht mehr für den Vorsitz kandidieren.

Die SPD war bei der Landtagswahl vom 22. Mai von den Wählern mit nur 37 Prozent der Stimmen abgestraft worden und hatte ihr schlechtestes Ergebnis seit 1954 erzielt. Im Vergleich zur Bundestagswahl 1998, als in NRW noch über 5 Millionen Menschen die SPD wählten, verlor sie mehr als 2 Millionen Stimmen oder rund 40 Prozent.

Schartau hatte sich anfangs heftig gegen einen Rücktritt gesträubt. Am Wahlabend und am Tag nach der Wahl hatte er noch erklärt, ein Rücktritt käme für ihn überhaupt nicht in Frage. Es sei nicht seine Art, sich "vom Acker zu machen". Erst einmal Ruhe bewahren, aussitzen, war seine Devise. "Wir müssen uns mit Schnellanalysen und Schnellschlüssen zurückhalten und dürfen den Reformkurs nicht aus den Augen verlieren."

Von der Einsicht, dass das Wahlergebnis eine Absage der Bevölkerung an eben diesen "Reformkurs" war, an dessen Ausarbeitung er in der Hartz-Kommission maßgeblich mitgearbeitet hatte, war Schartau meilenweit entfernt. Die SPD hat überdurchschnittlich hohe Verluste vor allem bei ihrer Stammklientel hinnehmen müssen. Unter Arbeitern verlor sie landesweit etwa jede zehnte Stimme.

Sitzungsteilnehmer berichteten, Schartau habe nach der verlorenen Wahl im Landesvorstand erklärt, die Niederlage sei gar nicht so schwer. Er habe es als Erfolg bezeichnet, in Nordrhein-Westfalen auch einen Wahlkampf gegen die Grünen geführt zu haben.

Es bedurfte des Drucks des SPD-Bundesvorsitzenden Franz Müntefering, damit Schartau doch noch seinen Posten aufgab. Am Dienstag nach der Wahl soll Müntefering ihm in Berlin unmissverständlich klar gemacht haben, er solle abtreten. Einige Stunden vorher hatte schon der bisherige SPD-Landtagsfraktionschef Edgar Moron angekündigt, sich nicht wieder zur Wahl zu stellen. Seine Begründung richtete sich auch gegen Schartau: "Die NRW-SPD braucht jetzt einen Neuanfang."

Nach einer Sitzung des SPD-Landesvorstandes gab Schartau schließlich den Rücktritt des gesamten Gremiums bekannt. Sein einträgliches Abgeordneten-Mandat im Düsseldorfer Landtag (9.600 Euro im Monat) will er aber wahrnehmen.

Schartaus politische Laufbahn

Schartaus Abgehobenheit von den Wählern, speziell den Arbeitern, kommt nicht überraschend. Er blickt auf eine langjährige Karriere in der SPD- und IG-Metall-Bürokratie zurück, wo er stets auf dem rechten Flügel stand.

Nach einer Ausbildung zum Chemielaboranten 1968 bis 1971 besuchte er ein Jahr lang die Sozialakademie in Dortmund und arbeitete anschließend für ein Jahr als Personal-Sachbearbeiter bei der Mannesmann AG in Duisburg. Nach einem darauf folgenden Studium der Betriebswirtschaftslehre in Hamburg begann er im Alter von 24 Jahren seinen Aufstieg in der Gewerkschaftsbürokratie.

1977 wurde er hauptberuflicher Jugendsekretär beim DGB-Landesbezirk NRW, 1978 bis 1984 war er dann in der Jugendabteilung beim Vorstand der IG Metall in Frankfurt tätig. 1984 wechselte er auf den Posten des Dortmunder IG-Metall-Bezirkssekretärs, 1992 stieg er zum Leiter des IG-Metall-Bezirks Dortmund auf. Fünf Jahre später, 1997, leitete Schartau den IG-Metall-Bezirk Nordrhein-Westfalen.

Seine politische Laufbahn begann nach der Landtagswahl 2000, als er von NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement - ohne ein Landtagsmandat zu haben - zum Minister für Arbeit und Soziales ernannt wurde. Ende 2001 löste er Franz Müntefering als SPD-Vorsitzenden in Nordrhein-Westfalen ab.

Er wurde sogar als Erbe von Ministerpräsident Wolfgang Clement gehandelt. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder nach der wiedergewonnenen Bundestagswahl 2002 Clement als Minister für Wirtschaft und Arbeit in sein Kabinett holte, konnte Schartau dessen Nachfolge jedoch nicht antreten, da ein Landtagsmandat Voraussetzung für den Posten des Ministerpräsidenten ist. Somit wurde der damalige Finanzminister Peer Steinbrück zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Entschädigt wurde Schartau mit dem Doppelministerium für Wirtschaft und Arbeit.

Der Sohn eines Duisburger Stahlarbeiters stand in seinen Funktionen als Gewerkschaftsbürokrat und sozialdemokratischer Minister für eine äußerst rechte Politik.

Als Verantwortlicher der IG Metall in Dortmund und später in ganz NRW war er maßgeblich am Abbau von fast 100.000 Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie beteiligt. Allein zwischen 1986 und 1996 verlor jeder zweite Arbeiter in der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes seinen Arbeitsplatz. Schartau saß mit den Stahl-Chefs und Vertretern der NRW-Landesregierung an einem Tisch und arbeitete die Fusions- und Kürzungspläne aus, während die jeweiligen Betriebsräte die Belegschaften der einzelnen Standorte gegeneinander ausspielten.

Ein Jahr nachdem Krupp 1992 den Hoesch-Konzern übernommen und das Rheinhausener Krupp-Stahlwerk endgültig stillgelegt hatte, trat Schartau öffentlich für ein gemeinsames Stahlkonzept von Thyssen und dem fusionierten Krupp-Hoesch-Konzern ein und verkündete die Bereitschaft der IG Metall, "bei einem solchen Konzept mitzuarbeiten und auch zu überlegen, welchen Beitrag die Tarifpolitik leisten kann". (WAZ, 22. Dezember 1993)

1997 fusionierten Thyssen und Krupp-Hoesch schließlich, wie von Schartau gewünscht, zur Thyssen-Krupp-Stahl. Vier Jahre später ging in Dortmund der letzte Hochofen der Westfalenhütte aus, er wurde nach China verkauft. Von mehreren Zehntausend Stahlarbeitern sind in Dortmund 4.742 Beschäftigte in der Metallverarbeitung übrig geblieben. Fast jeder Fünfte in der Stadt ist arbeitslos.

Als der nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrends (SPD) 2001 eine Kampagne gegen türkische Einwohner lostrat, um eine Verschärfung des Ausländerrechts vorzubereiten, trat Schartau ihm zur Seite. Behrens forderte, den Türken müsse zur Pflicht gemacht werden, Deutsch zu lernen. Als Druckmittel drohte er die Kürzung von sozialen Hilfen (Wohngeld oder ähnliches) und im schlimmsten Fall die Ausweisung an.

Ebenso unterstützte Schartau schon im März 2002 den Vorschlag, die Bezugsdauer für ältere Arbeitslose herabzusetzen und bei der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe die Leistungen auf das bedeutend niedrigere Sozialhilfeniveau zu senken, der schließlich in das Hartz-IV-Gesetz Eingang fand. Der Vorschlag war vom damaligen Vorstandschef der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, Florian Gerster (SPD), vorgebracht worden.

Schartau sagte damals der Rheinischen Post, die Versicherten-Mentalität - "Ich habe eingezahlt, also kriege ich jetzt auch was raus" - müsse "um den Gedanken der Pflicht zur Gegenleistung" ergänzt werden. Langzeitarbeitslose müssten stärker als bisher für gemeinnützige Arbeiten herangezogen werden.

Zuvor hatte er in einem Interview mit der Berliner Zeitung vom 1. April 2001 behauptet, es gäbe "Leute, die haben in ihrem Leben nichts anderes gelernt, als vom Sozialamt ihre Unterstützung abzuholen". Schartau warb damals für erhöhten Druck auf Arbeitslose: "Der alte Gang der Dinge war: Es durfte bloß keine Zumutungen geben, etwa bei der Entfernung der Jobs oder bei der Bezahlung." Die Solidarkassen dürften nicht länger als reine Geldauszahlungsstellen angesehen werden, verlangte Schartau.

Wen überrascht es da noch, dass Bundeskanzler Schröder Schartau schließlich in die Hartz-Kommission berief, die drastische Kürzungen für Arbeitslose vorschlug.

Vom Bürokraten zur Unternehmensberaterin

Nun ist dieser steife, rechte Bürokrat abgetreten, doch ein Neuanfang, wie dies die nordrhein-westfälische SPD proklamiert, ist nicht zu erwarten. Zu Schartaus Nachfolger als SPD-Landesvorsitzender soll auf einem Sonderparteitag am 9. Juli der bisherige NRW-Finanzminister Jochen Dieckmann gewählt werden.

Dieckmann hat bei der Landtagswahl ebenso wie Innenminister Fritz Behrens, Verkehrsminister Axel Horstmann, Schulministerin Ute Schäfer und Fraktionschef Edgar Moron (alle SPD) sein Direktmandat verloren. Er ist aber, wie seine Ministerkollegen auch, über die Landeswahlliste wieder in den Landtag eingezogen. Dieckmann und die gesamte neue Parteiführung sollen zunächst nur für ein knappes Jahr, bis zum Frühjahr 2006, gewählt werden.

Die Wahl fiel auf Dieckmann, weil ihm zugetraut wird, die NRW-SPD zusammenzuhalten und einen völligen Zusammenbruch zu verhindern. Er selbst sieht sich in Übereinstimmung mit der gesamten SPD-Spitze als Übergangsvorsitzenden.

Dieckmann soll vor allem den Unmut der Parteibasis über die überraschend angekündigten Neuwahlen zum Bundestag auffangen und neutralisieren. Nach drei miserablen Wahlergebnissen in weniger als einem Jahr (Europawahl, Kommunalwahl und jetzt Landtagswahl) verspürt die Parteibasis wenig Lust, jetzt auch noch einen Bundestagswahlkampf zu führen. Schließlich bekommt sie auf der Straße den Unmut der Bevölkerung über die SPD-Politik in Bund und Land zu spüren.

Für die Partei-Führung stellt die SPD-Basis allerdings kein Problem dar. Diese ist nicht gewohnt, selbständig zu denken oder gar aufzubegehren. Auf die Frage eines Journalisten, ob eine vorgezogene Bundestagswahl sinnvoll sei, antwortete zum Beispiel Dieter Deuse von der Gelsenkirchener SPD: "Wir diskutieren gar nicht darüber. Wir stellen uns einfach darauf ein."

Die neue Hoffnung der SPD ist die neue Fraktionsvorsitzende, die scheidende Wissenschaftsministerin Hannelore Kraft. Die 43-jährige Bankkauffrau und Diplom-Ökonomin soll als Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2010 aufgebaut werden.

Die SPD vollzieht mit diesem "Neuanfang" einen weiteren Schritt nach rechts. Der Bürokrat geht, die Unternehmensberaterin kommt.

Die designierte Oppositionsführerin ist erst seit 1994 Mitglied der SPD. Nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Duisburg, einem einjährigem Aufenthalt in London und Auslandspraktika in Frankreich und der Schweiz arbeitete Kraft seit 1989 als Unternehmensberaterin und Projektleiterin bei der ZENIT GmbH (Zentrum für Innovation und Technik in NRW) in Mülheim an der Ruhr.

ZENIT ist eine Gesellschaft des Landes NRW, der Westdeutschen Landesbank (WestLB), die ebenfalls zum Großteil in Landesbesitz ist, sowie von regionalen Unternehmen. Als Leiterin des "Euro Info Centers" bei ZENIT war Kraft bis 2001 für die Information und Beratung von kleinen und mittleren Unternehmen über europäische Themen - z.B. Förderprogramme, EU-Datenbanken, Europäische Währungsunion (Euro), Öffentliches Auftragswesen - zuständig. Hier wurde die SPD auf die "junge durchsetzungsfähige Frau" aufmerksam und warb sie 1994 an. Ein Jahr später trat sie auch noch in die IG Metall ein.

Bereits sechs Jahre später, 2000, zog sie für die nordrhein-westfälische SPD in den Landtag ein und wurde nur ein Jahr später Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten. Seit November 2002 war Hannelore Kraft Ministerin für Wissenschaft und Forschung. In dieser Funktion hat sie den Kurs eingeleitet, den die neue CDU-FDP-Regierung unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) fortführen will.

Seit dem Sommersemester 2004 gibt es in NRW-Studienkonten, die für Studenten in einem Erststudium kostenlos sind, für alle anderen (übrigens auch für ein Erststudium über 60-Jähriger) 650 Euro pro Semester kosten. Das System ist in Kraft und kann von der neuen Regierung mit einem Federstrich auf alle Studierenden ausgedehnt werden.

Dies stände nicht im Widerspruch zu den Absichten von Hannelore Kraft. In beinahe jeder Rede, die sie als Ministerin hielt, findet sich die Forderung nach "mehr Wettbewerb, mehr Internationalität und vor allem mehr Leistung".

Kraft förderte die "Verschlankung" der Universitäten - d. h., den Abbau von Studiengängen und Kapazitäten: "Mit einem dreijährigen BA-Studium als erstem Studienabschluss schaffen wir eine Verschlankung und Entrümpelung bisheriger Studiengänge."

Genauso lobte sie die zunehmende Unterordnung der Wissenschaft und Forschung unter wirtschaftliche Aspekte: "Hier werden die Zukunftsfragen der Wissenschaft in enger Kooperation mit der Wirtschaft aufgegriffen - in diesem Fall durch Stipendien großer Unternehmen, wie z.B. der Salzgitter AG und ThyssenKrupp Stahl AG." Das sei es, "was den Standort NRW nach vorn bringt und ihm im internationalen Wettbewerb Schwung gibt: Die Stärken aus Wirtschaft und Wissenschaft in strategischen Feldern gezielt bündeln und darauf aufbauen."

Bestandteil dieses Konzepts ist der Aufbau von Graduierten-Kollegs (Graduate Schools). Im Oktober vergangenen Jahres hat in NRW die siebte Graduate School ihre Arbeit aufgenommen, die Ruhr-Graduate-School in Economics, eine Kooperation des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen mit den Universitäten in Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund. Finanziert wird diese Graduate-School durch eine "public-private partnership".

Hätte Hannelore Kraft nach ihrem Studium als Leiterin in einem "Zentrum für Innovation und Technik" in Süddeutschland gearbeitet, wäre sie heute die Hoffnung der CDU oder CSU. Das ist der wirkliche Inhalt des Geredes vom "Neuanfang" der SPD in Nordrhein-Westfalen: Eine politische und personelle Hinwendung zur CDU.

Siehe auch:
Wahl-Debakel der SPD in Nordrhein-Westfalen
(24. Mai 2005)
Der Niedergang der SPD wirft grundlegende politische Fragen auf
( 14. Mai 2005)
Bildung wird zur Ware
( 31. August 2004)
Florian Gerster fordert massive Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung
( 8. März 2002)
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