Die Grünen rücken weiter nach rechts

An diesem Wochenende verabschiedet Bündnis 90/Die Grünen das Programm, mit dem sie in den Wahlkampf zur vorgezogenen Bundestagswahl ziehen wollen. Der vorliegende Programmentwurf ist das Ergebnis einer sechswöchigen Auseinandersetzung, die sich nach der Ankündigung von Neuwahlen innerhalb der Grünen entwickelte.

Als SPD-Chef Franz Müntefering und Kanzler Gerhard Schröder (SPD) in der nordrhein-westfälischen Wahlnacht am 22. Mai überraschend Neuwahlen ankündigten, war auch der grüne Koalitionspartner vollständig überrumpelt und unvorbereitet. Weder die Parlamentsfraktion noch die Parteileitung waren langfristig informiert und selbst Vize-Kanzler Joschka Fischer war erst unmittelbar vor Bekanntgabe eingeweiht worden.

Die ersten Reaktionen waren daher von Empörung über Schröders Alleingang und Missachtung des Koalitionspartners geprägt. Dann folgte Entsetzen über den drohenden Machtverlust. Der ostdeutsche Werner Schulz, der inzwischen angekündigt hat, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Weg zu Neuwahlen zu klagen, erklärte anfangs die Politik des Kanzlers für selbstmörderisch: "Das ist Harakiri mit Terminankündigung, was wir da machen."

Doch - wie so oft - stellten sich die Grünen schnell auf die neue Situation ein. Die finanzpolitische Sprecherin der Partei Christine Scheel erklärte gegenüber den Medien, anfangs sei auch sie "empört" gewesen, habe ihre Meinung aber schnell geändert: "Nach dem ersten Mal Darüberschlafen find ich's sogar gut", wird sie Anfang Juni von Die Zeit zitiert. "Wie die Grünen in den Tagen nach der Neuwahlankündigung unter Fischers Anleitung den abrupten Wandel von konsterniertem Entsetzen zu fröhlicher Zustimmung inszenierten, so etwas kriegt man auf der politischen Bühne selten geboten", schrieb das Blatt und kommentierte: "Fischer, Roth und Bütikofer traten vor die Presse und stellten ihr Einverständnis mit Schröders Coup zur Schau, mit dem der Kanzler ja nicht nur einseitig die Koalition gekündigt hatte, sondern zugleich die Grünen vor eine Existenzprobe stellt - ein Akt der Selbsterniedrigung."

Gleich darauf distanzierten sich Müntefering, Schröder und andere führende Sozialdemokraten von den Grünen. Schröder erklärte, jeder müsse im September selbst versuchen, "das größtmögliche Maß an Wählerstimmen gegen jeden anderen Konkurrenten zu gewinnen." Unter dem Begriff "Konkurrenten" schloss er die Grünen ausdrücklich mit ein. SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler wurde deutlicher: "Es gibt keine Koalitionen im Wahlkampf."

Nur einen Tag später versuchte die SPD-Spitze auch noch die Grünen für die Neuwahlen verantwortlich zu machen, indem sie diesen unterstellte, nicht mehr die Regierungspolitik zu unterstützen. Regierungssprecher Béla Anda sagte, es sei "bedauerlich", dass maßgebliche Abgeordnete der Grünen die Unternehmensteuerreform nicht mittragen wollten. Die Frage könne gestellt werden, ob nicht nur die Union blockiere, sondern auch die Grünen.

Die Grünen-Führung reagierte wie ein geprügelter Hund und betonte nach einigen Unmutsbekundungen, sie stünden "hundertprozentig" hinter der rot-grünen Regierung. Sie wollten nicht den "Schwarzen Peter" rübergereicht bekommen und für das Scheitern der Regierung verantwortlich gemacht werden, sagte Scheel.

Die beim so genannten Job-Gipfel von CDU-Vorsitzender Angela Merkel, CSU-Vorsitzendem Edmund Stoiber und Schröder im März diesen Jahres beschlossene und später vom Kabinett gebilligte Unternehmenssteuerreform sieht unter anderem die erneute Senkung der Körperschaftsteuer-Sätze von 25 auf 19 Prozent vor. Grünen-Fraktionschefin Krista Sager erklärte: "Wir stehen inhaltlich zu den Vereinbarungen des Job-Gipfels."

Außer diesen Angriffen der SPD übte noch eine zweite Entwicklung Druck auf die Grünen aus. Der Austritt von Oskar Lafontaine aus der SPD und seine Ankündigung gemeinsam mit dem PDS-Spitzenmann Gregor Gysi eine Linkspartei ins Leben zu rufen, stieß in der Bevölkerung auf starken Widerhall. Bereits nach wenigen Wochen hatte dieses Linksbündnis in Umfragewerten die Zehnprozentmarke überschritten und damit die Grünen und die FDP überrundet.

Nun begann in den Reihen der Grünen das bekannte Verwirrspiel über politische Positionen.

Einige Funktionäre die sich als Vertreter eines linken Flügels bezeichneten, warnten vor einer Vasallentreue zur SPD, forderten eine Kursänderung und betonten die eigene Linie "offensiv zu vertreten". Das aber warf die Frage auf: Was ist die eigene Linie abseits der SPD?

Als einer der ersten meldete sich der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele zu Wort und sagte, die Wähler erwarteten vor allem eine Abkehr von einer Politik, die einseitig Besserverdienende und Unternehmer begünstige. Deshalb müssten "neue Wege" eingeschlagen werden. Ströbele spielte in den vergangenen Regierungsjahren immer den "linken Harlekin" der Partei, der gegen die Auslandseinsätze der Bundeswehr stimmte und vor dem Abbau von demokratischen Rechten warnte, aber immer dabeiblieb und die rechte Politik von links abdeckte.

Auch aus Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün im Mai nach zehn Jahren abgewählt worden war, gab es vereinzelt kritische Stimmen. "Wir wollen nicht mit dem Lied von der Agenda 2010 auf den Lippen den politischen Heldentod sterben, während die SPD die große Koalition vorbereitet", heißt es in einem Papier des NRW-Landtagsabgeordneten Rüdiger Sagel und des Münsteraner Vorsitzenden Wilhelm Achelpöhler. Auch sie forderten eine Kurskorrektur.

Die ehemalige grüne nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn schloss sich dieser Forderung später in der Berliner Zeitung an. "Wir müssen neben unserer ökologischen Kompetenz auch wieder stärker die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen", sagte Höhn.

Gegen diese Argumente stellte sich der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin und warnte offen seine Partei vor einem "Linksruck". "Ich warne ausdrücklich davor, dass wir uns jetzt als Grüne von unserer eigenen Reformpolitik der letzten sieben Jahre distanzieren. Damit würden wir uns auf Jahre hinaus unglaubwürdig machen", sagte er der Tageszeitung Die Welt.

Das grüne Bundestagswahlprogramm nimmt diese Auseinandersetzungen auf. Das Kapitel "Arbeit" ist zum ersten Mal in einem grünen Wahlprogramm an erste Stelle, vor der Ökologie, gerutscht. Forderungen nach einer symbolischen Erhöhung der Steuersätze für Reiche wurden - wie auch im SPD-Programm - aufgenommen. Selbstverständlich sehr vage formuliert. "Wir formulieren keine Details", erklärte Bütikofer bei der Vorstellung des Programmentwurfs Ende Juni. Es gehe um Grundlinien.

Dass diese Grundlinien die Fortsetzung der Regierungspolitik der letzten sieben Jahre bedeuten, macht das Programm sehr deutlich. Die "Reformpolitik" der rot-grünen Regierung wird ausdrücklich gelobt. Alles, was auf Opposition in der Bevölkerung stieß, sei von der CDU/CSU oder der SPD zu verantworten, heißt es ungeniert. "Es war ein Fehler, die Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik in den letzten Jahren zu stark der SPD zu überlassen", die sich "oftmals als strukturkonservative Partei der großen Konzerne" erwies, heißt es beispielsweise in der Präambel des Programms.

Offensichtlich vertrauen die Grünen auf ein schlechtes Gedächtnis der Bevölkerung. Die Grünen haben sich bislang stets als "Reformmotor" bezeichnet, der den angeblich notwendigen Umbau des Sozialstaats initiiert und forciert habe. Sie hätten die "strukturkonservative" Sozialdemokratie gerade zu drängen müssen, soziale Kürzungen durchzusetzen.

So erinnert die tageszeitung daran, dass der Grünen-Vorsitzende Reinhard Bütikofer vor gar nicht langer Zeit ostdeutsche CDU-Politiker als "Memmen" und "Weicheier" beschimpfte, weil sie auf die Folgen der Hartz-IV-Reformen hingewiesen hatten. In gleicher Weise wurde Kritik an Hartz IV aus den eigenen Reihen und der SPD abgebügelt. Trittin bekräftigte diese Haltung in einem Interview mit dem Spiegel : "Wir sind die Modernisierer. Wir haben uns nicht gescheut, die schwierigsten Fragen anzugehen, etwa in der Sozialpolitik, bei den Bürgerrechten, in der Energiepolitik."

Die prominente Positionierung des Kapitels "Arbeit schaffen" im Wahlprogramm sowie die Aufnahme einer Steuererhöhung für Reiche und zaghafte Korrekturen an den Hartz-IV-Regelungen sind daher rein symbolischer Natur. Parteichef Reinhard Bütikofer beteuerte dies ausdrücklich gegenüber der Presse: "Niemand will zurück hinter Hartz IV."

Zudem sind die Wahlprogramme der Grünen ohnehin mit einem kurzen Verfallsdatum versehen. Man erinnere sich nur an die "Berliner Thesen zur Neubestimmung Grüner Politik" vom Oktober 1999. Damals wurde die Wiedereinführung der Vermögenssteuer - Bestandteil des grünen Wahlprogramms von 1998 - kurzerhand ad acta gelegt. Durch "moralische Einschüchterung der Besserverdienenden und entsprechende Zwangsabgaben" könne man nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit kommen, hieß es ein Jahr nach Regierungsbeteiligung lapidar. Mit der gleichen Begründung könnte schon bald auch der gegenwärtige Vorschlag einer geringen Steuererhöhung für Reiche entsorgt werden.

Erhöhung der Mehrwertsteuer

Mehr Aufschluss als grüne Wahlprogramme liefert ein Blick auf die personellen Entscheidungen und Äußerungen von führenden Grünen.

Während etwa zur Frage der momentan von SPD, CDU/CSU und FDP diskutierten Erhöhung der Mehrwertsteuer das grüne Wahlprogramm schlicht nichts enthält, fordern zahlreiche Grüne eine Erhöhung. Die schleswig-holsteinischen Grünen wollen auf dem Bundesparteitag am jetzigen Wochenende in Berlin den Antrag stellen, ebenfalls eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ins Wahlprogramm aufzunehmen. Bundestagsfraktionschefin Krista Sager sowie die Hamburger Grünen-Chefin und haushaltspolitische Sprecherin der Partei im Bundestag Anja Hajduk schlossen sich dem an.

Die Mehreinnahmen sollten laut Grünen dazu benutzt werden, die Lohnnebenkosten im Niedriglohnsektor zu senken und so der Billiglohnarbeit zum Durchbruch verhelfen. Christine Scheel sagte dazu: "Die Sozialbeiträge sind zu hoch. Natürlich ist es ehrlich zu sagen, dass man eine Senkung über Steuern finanzieren muss." Für eine deutliche Beitragssenkung müsste man die Mehrwertsteuer aber schon um vier Prozentpunkte auf dann 20 Prozent anheben, erklärte sie. Anja Hajduk begründete in der Berliner Zeitung gleichermaßen ihre Forderung nach einer Mehrwertsteuer: "Wir müssen die Arbeitslosigkeit im Niedriglohnbereich senken." In diesem Zusammenhang müsse man auch über eine Mehrwertsteuererhöhung sprechen. So liefern die Grünen die Begründung einer Mehrwertsteuererhöhung.

Auch in anderen sozialen Bereichen rühren die Grünen die Trommel für mehr "Wettbewerb" und "Effizienz". Bei der von SPD und Grünen ins Wahlprogramm aufgenommenen Bürgerversicherung vermisst etwa die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag Birgit Bender den Mut der Sozialdemokraten, zu sagen, "dass Erweiterung von Solidarität auch Mehrbelastungen für Leute bringt, die nicht Millionäre sind". In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau antwortet sie außerdem auf die Frage nach der Finanzierung der Pflegeversicherung: "Wenn wir den Faktor Arbeit nicht stärker belasten wollen, geht dies nur über höhere Beiträge im Solidarsystem oder stärkere, ergänzende private Vorsorge. Wir Grüne sind der Meinung, dass es ohne Letzteres nicht geht."

Auf die ausdrückliche Nachfrage der FR, ob das heiße, "eine nicht-paritätische Erhöhung des Arbeitnehmer-Beitrags zur Pflegeversicherung ist für die Grünen kein Tabu?" antwortet Bender: "Das kann kein Tabu sein. Die Arbeitgeber-Beiträge dürfen nicht erhöht werden."

Inzwischen sind viele grüne Landeslisten für die Bundestagswahl aufgestellt. Überraschungen gab es nicht. Überall sicherten sich die Spitzen der Grünen die vorderen Listenplätze und bremsten selbst die gemäßigten Kritiker aus. Interessant war in diesem Zusammenhang die Wahl der Berliner Landesliste. Hier trat der Sohn des Studentenführers Rudi Dutschke, Marek Dutschke (25), an. Obwohl Marek Dutschke seine Wahl in den Bundestag lediglich mit dem Hinweis auf eine notwendige "Erneuerung" der Partei begründete, inhaltlich aber voll und ganz auf der Linie der Grünen ist ("So richtig die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ist, bei Hartz IV muss es trotzdem Korrekturen geben."), galt er als Linker in den Grünen.

Da traditionell der Spitzenplatz bei den Grünen an eine Frau vergeben wird, konnte sich Verbraucherschutzministerin Renate Künast diesen Platz auf der Berliner Liste sichern. Den dritten und letzten sicheren Listenplatz gewann - aus Proporzgründen wieder eine Frau - Sybill Klotz, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Um den einzigen verbliebenen sicheren zweiten Listenplatz bewarben sich neben Marek Dutschke noch Werner Schulz und der frühere Berliner Justizsenator Wolfgang Wieland. Wieland gewann den Platz. Dutschke und Schulz fielen anschließend sogar noch bei der Wahl um den eher unsicheren vierten Listenplatz durch. Hier wurde Öczan Mutlu, Mitglied des Berliner Landesparlaments, gewählt.

Annäherung an die CDU

Mit Wieland wählten die Berliner Grünen einen Politiker, der drei Tage nach der Ankündigung von Neuwahlen auch Koalitionen mit der CDU zunächst auf Landesebene ins Spiel gebracht hatte. Nach der Entscheidung, den Bundestag noch in diesem Jahr neu wählen zu lassen, bräuchten die Berliner Grünen im Herbst 2006 bei der Abgeordnetenhauswahl (das Landesparlament) "nicht mehr Rücksicht auf die Bundespolitik zu nehmen", sagte Wieland dem Berliner Kurier. Zugleich lobte er den ehemaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer, der als CDU-Spitzenkandidat in Berlin im Gespräch ist.

Ähnlich äußerten sich weitere Spitzen der Grünen. Der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion Jerzy Montag sieht ebenfalls die Möglichkeit für Bündnisse mit der CDU/CSU. Der Münchener Anwalt sagte in der Financial Times Deutschland : "Wir dürfen uns nicht an die Sozialdemokratie anketten", und fügte hinzu, mit einer "aufgeklärten, demokratischen Union" gebe es eine Schnittmenge. Bundestagsfraktionsvize Reinhard Loske sieht Übereinstimmungen mit der Union auf den Gebieten Bioethik und Mittelstandspolitik.

So reagieren die Grünen auf die Ankündigung von Neuwahlen, abgesehen von hehren und hohlen Floskeln im Wahlprogramm, mit einer weiteren Rechtsentwicklung. Sie bereiten schon jetzt das Terrain für eine Koalition mit der CDU/CSU, wenn noch nicht für dieses Jahr, dann doch für die Zukunft.

Siehe auch:
Reaktion auf Bushs Wiederwahl: Grüne rücken weiter nach rechts
(17. November 2004)
Parteitag der Grünen: Eine bürgerliche Mittelstandspartei
( 9. Oktober 2004)
Die Grünen und was von ihnen geblieben ist
( 27. November 1999)
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