Schröder begründet Vertrauensabstimmung:

Neuwahl soll Widerstand gegen Agenda 2010 brechen

Am gestrigen Freitag hat der deutsche Bundestag Kanzler Gerhard Schröder (SPD) erwartungsgemäß das Vertrauen entzogen. Schröder hatte die Vertrauensfrage ausdrücklich mit dem Ziel gestellt, die Abstimmung zu verlieren und so Neuwahlen im September zu ermöglichen. Er selbst, seine Minister und viele Abgeordnete der Regierungskoalition enthielten sich der Stimme, so dass ihm nur etwa die Hälfte der sozialdemokratischen und grünen Abgeordneten das Vertrauen aussprachen.

Bundespräsident Horst Köhler muss nun innerhalb von 21 Tagen entscheiden, ob er den Bundestag auflöst und Neuwahlen ansetzt. Diese Entscheidung liegt ganz in seinem Ermessen. Weigert er sich, träte Schröder vermutlich zurück, was dann auf umständlicherem Wege doch noch zu Neuwahlen führen könnte. Löst er den Bundestag auf, hat voraussichtlich das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort, da bereits zwei Abgeordnete eine entsprechende Klage angekündigt haben.

Während das Ergebnis der gestrigen Abstimmung keine Überraschung darstellte, war Schröders Begründung für die Vertrauensabstimmung mit Spannung erwartet worden.

Da die deutsche Verfassung weder dem Präsidenten, noch dem Bundeskanzler, noch dem Parlament selbst das Recht einräumt, den Bundestag nach eigenem Ermessen aufzulösen, benötigte Schröder einen stichhaltigen Grund, um mittels der Vertrauensfrage ein Verfahren zur Parlamentsauflösung einzuleiten. Laut Grundgesetz ist dies nur möglich, wenn der Bundeskanzler nicht mehr über das Vertrauen der parlamentarischen Mehrheit verfügt.

Da SPD und Grüne im Bundestag eine zwar knappe, aber sichere Mehrheit haben und die Abgeordneten den Kanzler bisher immer geschlossen unterstützt haben, war nicht einsichtig, weshalb Schröder plötzlich nicht mehr über das Vertrauen seiner eigenen Mehrheit verfügen sollte. Im Vorfeld der Abstimmung war daher vielfach der Vorwurf der Manipulation und des Missbrauchs der Verfassung erhoben worden. Besonders heftig tat dies in der gestrigen Bundestagsitzung der ostdeutsche Grünen-Abgeordnete Werner Schulz, der vor dem Verfassungsgericht gegen die Entscheidung klagen will.

Schröder selbst hatte seine Begründung für das Misstrauensvotum wie ein Staatsgeheimnis behandelt. Er informierte das Kabinett erst zwei Tage und die Fraktionen der SPD und der Grünen erst eine Stunde vor dem Abstimmungstermin darüber. Seine halbstündige Erklärung im Bundestag ließ aber dann an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

Er rechtfertigte die angestrebte Auflösung des Parlaments damit, dass der Widerstand der Bevölkerung gegen die Agenda 2010 anders nicht zu brechen sei. Durch vorgezogene Neuwahlen soll eine Politik des sozialen Kahlschlags legitimiert werden, die bisher auf die erbitterte Opposition der Bevölkerung gestoßen ist. Diese Politik soll entweder gestützt auf ein neues Wählervotum von der jetzigen Regierungskoalition oder, was wahrscheinlicher ist, von einer unionsgeführten Regierung durchgesetzt werden.

Gleich zu Beginn seiner ging Schröder auf die "Kette zum Teil empfindlicher und schmerzlicher Wahlniederlagen" der SPD ein, dessen letztes Glied der "bittere Ausgang der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen" gewesen sei. Er gab unumwunden zu, dass diese Niederlagen das Ergebnis einer weitverbreiteten Ablehnung seiner Politik seien.

"Die ‚Agenda 2010’ mit ihren Konsequenzen schien zum wiederholten Male ursächlich für ein Votum der Wählerinnen und Wähler gegen meine Partei", sagte Schröder und folgerte: "Wenn diese Agenda fortgesetzt und weiterentwickelt werden soll - und das muss sie -, ist eine Legitimation durch Wahlen unverzichtbar."

Schröder brüstete sich damit, dass sein Regierung "notwendige Reformen", zu denen seine Vorgängerregierung unter Helmut Kohl niemals den Mut gefunden habe, "gegen massive Widerstände von Interessengruppen" durchgesetzt habe. Mit den "Interessengruppen" waren offensichtlich Arbeiter, Arbeitslose und Rentner gemeint, da Schröders Agenda 2010 stets die volle Unerstützung der Unternehmerverbände genoss.

"Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen haben in unserem Land einen tief greifenden Veränderungsprozess eingeleitet," sagte er. "Dieser Reformprozess ist in seinem Umfang und in seinen Konsequenzen einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir haben in Angriff genommen, was unsere Vorgängerregierung unterlassen hatte. Wir haben begonnen, wozu CDU, CSU und FDP 16 Jahre Zeit, aber niemals den Mut hatten. Mit den Reformen der ‚Agenda 2010’ haben wir wichtige Bereiche unserer Gesellschaft in ihren Strukturen grundlegend erneuert - in der Gesundheitsversorgung, in der Rentenpolitik und auf dem Arbeitsmarkt."

Wütend fiel Schröder dann über alle her, die diesen Kurs abgelehnt und dagegen protestiert haben. "Einige haben in dieser Situation auf unverantwortliche Weise die Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger instrumentalisiert," behauptete er. "Mit populistischen Kampagnen wurden Ängste geweckt und geschürt, weil die Reformen zunächst mit Belastungen verbunden sind, ihre positiven Wirkungen aber erst später, teilweise durchaus erst in einigen Jahren zu spüren sein werden. Nur zu gut erinnern wir uns an die öffentliche Aufregung bei der Einführung der Praxisgebühr und an die Protestwelle beim Beschluss der so genannten ‚Hartz IV’-Gesetze im vergangenen Jahr."

Das ist die klassische Sprache autoritärer Herrscher, die soziale Protesten stets nur als Werk unverantwortlicher Agitatoren betrachten. An den Protesten gegen Hartz IV hatten sich Hunderttausende beteiligt, und zwar nicht, weil sie von irgend jemandem "instrumentalisiert" wurden, sondern weil sie sich weigerten, nach Jahrzehnten harter Arbeit von einem monatlichen Taschengeld zu leben oder sich für einen Euro die Stunde zu verdingen, während die herrschende Elite in Saus und Braus lebt. In diesen Protesten zeigte sich eine tiefverwurzelte Opposition gegen den gesamten Gang der gesellschaftlichen Entwicklung, wie er von der rot-grünen Koalition betrieben wird. Doch Schröder sieht darin nur das Werk von populistischen Demagogen.

Im weiteren Verlauf seiner Rede gelangte Schröder dann zur eigentlichen Begründung, weshalb er das Vertrauen in seine Politik nicht mehr gewährleistet sieht.

Die Proteste gegen die Agenda 2010 seien nicht spurlos an den Regierungsparteien vorbeigegangen. Diese hätten "einen hohen Preis für die Durchsetzung der Reformen" bezahlt und darunter gelitten, sagte er mit fast weinerlicher Stimme an die Reihen der Opposition gewandt. "Die SPD hat seit dem Beschluss der ‚Agenda 2010’ bei allen Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren - in vielen Fällen sogar die Regierungsbeteiligung in den Ländern."

Dies habe in beiden Regierungsparteien "zu heftigen Debatten um den künftigen Kurs" geführt. Einige SPD-Mitglieder hätten sogar damit gedroht, "sich einer rückwärts gewandten, linkspopulistischen Partei anzuschließen, die vor Fremdenfeindlichkeit nicht zurückschreckt" und an deren Spitze "sich ein ehemaliger SPD-Vorsitzender gestellt" habe - gemeint ist das Bündnis von PDS und Wahlalternative, für das Oskar Lafontaine als Spitzenkandidat antritt.

Solche eindeutigen Signale aus seiner Partei habe er ernst nehmen müssen, fuhr Schröder fort. Nach der Wahlniederlage in NRW habe die Frage offen auf dem Tisch gelegen, "ob bei diesem Wahlausgang eine volle Handlungsfähigkeit für mich und meine Politik noch gegeben war". Grundvoraussetzung für die Regierungspolitik seien aber "Planbarkeit und Verlässlichkeit". Hierfür sei "die Bundesregierung auf die Geschlossenheit der Koalitions-Fraktionen angewiesen".

Betrachtet man die Rolle der SPD-Bundestagsfraktion seit der Regierungsübernahme 1998, so scheint dieses Argument absurd. Abgesehen von einigem kaum vernehmbaren Maulen gibt es keinen einzigen Fall, in dem sie sich Schröders Kurs ernsthaft wiedersetzt hätte. Die sogenannten "Linken" in der Fraktion haben sogar öffentlich erklärt, sie würden bei der Vertrauensabstimmung für den Kanzler stimmen, um ja nicht in den Verdacht zu geraten, sie könnten sich seiner Politik widersetzen.

Schröder geht es um etwas anderes. Er nutzt Vertrauensabstimmung und Neuwahlen als Disziplinierungsinstrument gegen die eigene Partei. Jede abweichende Stimme, und sei sie noch so leise, soll in Zukunft als Angriff auf die "Verlässlichkeit" der SPD gebrandmarkt werden - sei es in der Regierungsverantwortung oder in der Opposition. Anders kann eine Partei, die, so Schröder, die höchst unpopulären "begonnen Reformen entschlossen fortführen" will, nicht überleben.

Erst gegen Schluss seiner Rede richtete Schröder auch einig kritische Worte an die Adresse der Union, der er eine Blockadehaltung im Bundesrat vorwarf.

Durch Neuwahlen, behauptete er dann, werde "die Entscheidung über die Zukunft der Politik und über die Zukunft unseres Landes dem Souverän, unseren Bürgerinnen und Bürgern, in die Hand" gegeben. Es gehe "um die Möglichkeit des demokratischen Souveräns, die Grundrichtung der künftigen Politik selbst zu bestimmen".

In Wirklichkeit können die Wähler überhaupt nichts bestimmen. Schröder stellt sie vor das Ultimatum, entweder die Agenda 2010 unverändert zu akzeptieren oder dieselbe Politik von einer unionsgeführten Regierung hinzunehmen. Es ist, als würde man ein Kalb vor die Wahl stellen, von einem Metzger mit rot-grüner oder mit schwarz-gelber Schürze geschlachtet zu werden.

Das wurde auch in der anschließenden, knapp einstündigen Debatte deutlich, bei der die Vorsitzenden aller Parteien zu Wort kamen. Sie bot einen Vorgeschmack auf den kommenden Wahlkampf. Die Heftigkeit der Auseinandersetzung stand in umgekehrtem Verhältnis zu den inhaltlichen Differenzen.

Alle Parteivorsitzenden begrüßten die Neuwahlen als Auftakt zu verschärften "Reformen". "Wir wollen eine klares Mandat für unsere Politik der Reformen", verkündete Franz Müntefering (SPD), während sich Angela Merkel (CDU) zur "sozialen Marktwirtschaft und Demokratie" bekannte. Die Etiketten sind austauschbar. Gestritten wird nur darüber, wer einen wirtschaftsfreundlichen Kurs zielstrebiger durchführt. Während die Union der SPD einen inkonsequenten "Zick-Zack-Kurs" vorwirft, beschuldigt die SPD die Union einer "Blockadehaltung".

Einig sind sich alle etablierten Parteien auch in ihren wütenden Angriffen auf das Parteienbündnis von PDS und WASG, das in den Umfragen mittlerweile bei 10 Prozent und damit weit vor den Grünen und der FDP liegt.

Der Grund für diese Angriffe sind nicht die politischen Perspektiven der Lafontaine-Gysi-Partei, die die bestehende kapitalistische Ordnung in keiner Weise in Frage stellt. Die PDS hat sich in den östlichen Ländern und Kommunen längst zu einem verlässlichen Koalitionspartner von SPD und CDU entwickelt, und die WASG besteht aus altgedienten Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionären, die eine sozialistische Perspektive strikt ablehnen. Was all etablierten Parteien so wütend macht, ist das Bedürfnis nach einer wirklichen gesellschaftlichen Alternative, das in den hohen Umfragewerten für die neue Formation einen konfusen und verzerrten Ausdruck findet.

Die Partei für Soziale Gleichheit beteiligt sich mit eigenen Kandidaten an der kommenden Bundestagswahl teil, um auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms eine solche Alternative aufzubauen.

Siehe auch:
Aufruf der Partei für Soziale Gleichheit zur Bundestagswahl 2005
(25. Juni 2005)
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