Bundespräsident Köhler ebnet Weg für Neuwahlen

Am Donnerstagabend verkündete Bundespräsident Horst Köhler in einer Fernsehansprache seine mit Spannung erwartete Entscheidung über die Auflösung des Bundestags. Er gab bekannt, dass er dem Antrag des Bundeskanzlers stattgegeben, das Parlament aufgelöst und für den 18. September Neuwahlen angesetzt habe.

Nach dem Misstrauensvotum vom 1. Juli hatte Köhler 21 Tage Zeit, um seine Entscheidung zu treffen. Er nutzte diese Frist bis auf einen Tag voll aus. Die Überlegungen und Diskussionen im Präsidentenamt wurden dabei wie ein Staatsgeheimnis behandelt. Selbst der Termin von Köhlers Ansprache blieb bis wenige Stunden vor seinem Auftritt geheim.

Der Grund für diese Heimlichtuerei liegt darin, dass der Bundespräsident von mehreren Seiten unter massivem Druck stand. Während alle großen Parteien Neuwahlen befürworteten und offen dafür eintraten, erhoben vor allem Verfassungsrechtler massive Bedenken. Sie wandten ein, der vom Bundeskanzler gewählte Weg zu Neuwahlen höhle langfristig das Grundgesetz aus, das dem Parlament kein Selbstauflösungsrecht zugesteht.

Eine Parlamentsauflösung nach Paragraph 68, argumentierten sie, sei nur zulässig, wenn der Kanzler tatsächlich nicht mehr über das Vertrauen der Mehrheit verfüge, und nicht, wenn sich die Mehrheit absichtlich enthalte oder gegen den Kanzler stimme, um gezielt eine Parlamentsauflösung herbeizuführen.

"Wenn man das Grundgesetz in Verfahrensfragen nicht mehr ernst nimmt, wird man das bei inhaltlichen Fragen auch nicht mehr tun", warnte Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. "Es mag ja sein, dass Deutschland eine andere Politik braucht... Es gibt aber keine richtige Politik um den Preis des Missbrauchs der Verfassung."

Köhler entschied schließlich politisch und nicht juristisch. Er schloss sich der Begründung an, mit der Bundeskanzler Gerhard Schröder am 1. Juli das Misstrauensvotum gerechtfertigt hatte: Der Kanzler verfüge trotz der eindeutigen Mehrheit von SPD und Grünen im Bundestag über "keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik" mehr.

"Ich habe die Beurteilung des Bundeskanzlers eingehend geprüft", sagte Köhler. "Doch ich sehe keine andere Lagebeurteilung, die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist."

Während Köhlers Entscheidung den Erwartungen der meisten Beobachter entsprach, überraschte die Offenheit und Vehemenz, mit der er politisch argumentierte. Bevor er auf die juristischen Gründe für seine Entscheidung einging, lieferte er eine kurze, aber äußerst dramatische Schilderung der politischen Lage, die man nur als Plädoyer für eine starke Regierung verstehen kann, die in der Lage ist, unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen.

"Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel", sagte er. "Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten. In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann."

Bedenkt man, dass sich Schröder für vorgezogene Neuwahlen entschieden hatte, nachdem die Wähler aus Opposition gegen die Agenda 2010 der SPD in der nordrhein-westfälischen Landtagswahl massenhaft den Rücken gekehrt hatten, so wird die autoritäre Stoßrichtung dieser Argumentation deutlich. Die Wahl soll eine Regierung hervorbringen, die gegen Druck von unten immun ist.

Der Bundeskanzler habe "deutlich gemacht, dass er mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verlässliche Basis für seine Politik mehr sieht", fügte Köhler hinzu. "Ihm werde mit abweichendem Abstimmungsverhalten und Austritten gedroht."

An diesen Worten ist vor allem bemerkenswert, mit welcher Leichtigkeit sich Köhler über demokratische Grundsätze hinwegsetzt. Während die Abgeordneten laut Verfassung ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich sind, begründet der Bundespräsident die Auflösung des Bundestags mit der rein hypothetischen Möglichkeit eines "abweichenden Abstimmungsverhaltens"!

Zweifel an Schröders Entscheidung

Schröders Entscheidung vom 22. Mai, Neuwahlen herbeizuführen, war in der herrschenden Elite anfangs auf breite Zustimmung gestoßen. Sie bedeutete ein politisches Ultimatum an die Wähler: Entweder ihr akzeptiert die Agenda 2010, Hartz IV und alle anderen Sozialkürzungen von Rot-Grün, oder Union und FDP übernehmen die politische Macht und setzen dieselbe Politik in verschärfter Form durch. Die Regierungsübernahme durch eine schwarz-gelbe Koalition mit einer stabilen parlamentarischen Mehrheit schien so gut wie sicher.

Doch seither sind zwei Veränderungen eingetreten, die Zweifel an der Ratsamkeit vorzeitiger Neuwahlen geweckt haben. Sie dürften mit dazu beigetragen haben, dass sich Köhler mit seiner Entscheidung so lange Zeit ließ.

Zum einen ist deutlich geworden, dass die Union schlecht auf eine Regierungsübernahme vorbereitet ist. Ähnlich wie innerhalb der SPD gibt es auch innerhalb der Union heftige Differenzen über die Steuerpolitik, die Sozialpolitik und andere wichtige Bereiche, die im Falle einer Regierungsübernahme offen aufbrechen werden. Vor allem die Entscheidung, nach einer Regierungsübernahme die Mehrwertsteuer um zwei Prozent zu erhöhen, hat die Union in den Umfragen erheblich zurückgeworfen und in Wirtschaftskreisen Entsetzen ausgelöst.

Zum anderen hat das rasche Anwachsen der Linkspartei die Kalkulationen der politischen Elite durcheinander gebracht. Das Vorziehen der Wahlen sollte nicht zuletzt verhindern, dass eine einflussreiche Partei links von der SPD entstehen kann. Doch nun haben sie genau das Gegenteil bewirkt. Die Linkspartei hat bei den Umfragen kontinuierlich zugelegt. Inzwischen liegt sie bundesweit bei zwölf Prozent und damit weit vor FDP und Grünen. In den neuen Bundesländern liegt sie in den Umfragen sogar vor CDU und SPD.

Das Problem für die herrschende Elite ist dabei nicht die Linkspartei selbst, ein Zusammenschluss von PDS und Wahlalternative. Diese wäre durchaus bereit, eine SPD-geführte Regierung zu unterstützen und unsoziale Maßnahmen mit zu tragen - wie die PDS in zahlreichen ostdeutschen Kommunen und in den Landesregierungen von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern täglich beweist. Das Problem ist die weit verbreitete Opposition gegen die offizielle Politik, die im Anstieg der Umfragewerte der Linkspartei zum Ausdruck kommt.

Sollte sich dieser Trend fortsetzen und die Linkspartei mit einem zweistelligen Ergebnis in den Bundestag einziehen, verfügten möglicherweise weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün über eine Mehrheit. In den Medien werden deshalb bereits die Vor- und Nachteile einer Großen Koalition von Union und SPD diskutiert. Während einige Kommentatoren eine solche Koalition mit der Begründung befürworten, sie könne gestützt auf eine breite parlamentarische Mehrheit ein radikales Programm des Sozialabbaus verwirklichen, fürchten andere, sie werde zu einer politischen Lähmung führen.

So warnt Die Zeit: "Eine Große Koalition würde die begonnenen Reformen nicht weiter vorantreiben. Nur vom Wahlergebnis erzwungen, wäre das unfreiwillige Bündnis hauptsächlich damit beschäftigt, seine inneren Widersprüche zu vermitteln und zu moderieren. Das aber wäre die Fortsetzung des leidigen Verfahrens, zu dem die rot-grüne Bundesregierung mit den unionsgeführten Ländern in den vergangenen Jahren immer wieder gezwungen war. Auch das Ergebnis liefe aufs Gleiche hinaus: permanente Verhandlungen, umständliche Kompromisse, unklare Verantwortlichkeit und Reformen, die den einen immer schon zu weit, den anderen nicht weit genug gingen."

Andere Kommentare empfehlen, die vorgezogenen Wahlen ganz zu stoppen. Nach Lage der Dinge ist dazu nur noch das Bundesverfassungsgericht in der Lage, bei dem zwei Bundestagsabgeordnete, der Grüne Werner Schulz und die Sozialdemokratin Jelena Hoffmann, nächste Woche gegen Köhlers Entscheidung klagen wollen. Seine Entscheidung wird gegen Ende August erwartet.

Die Partei für Soziale Gleichheit begrüßt die Wahl als Gelegenheit, der arbeitenden Bevölkerung ihr internationales sozialistisches Programm vorzustellen. Ihr Eingreifen in den Wahlen richtet sich sowohl gegen Union, FDP, SPD und Grüne als auch gegen die Linkspartei, deren Aufgabe darin besteht, zu verhindern, dass sich die Opposition gegen Sozialabbau zu einer unabhängigen politischen Bewegung gegen den Kapitalismus entwickelt.

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