Ein intellektueller Zwerg verleumdet Trotzki

In Zeiten der politischen Reaktion erheben soziale Rückständigkeit, Ignoranz und Dummheit in zahlreichen Formen ihren Kopf. Die offiziellen Organe der öffentlichen Meinung verbreiten einen unangenehmen Gestank. Protegiert durch die Mächtigen, selbstbewusst wegen des heruntergekommenen Geisteslebens und zuversichtlich, dass niemand gegen ihre Verpestung der Luft protestiert, empfinden die zeitgenössischen "Meinungsmacher" keine Scham wegen dem, was sie sagen und schreiben.

Ein Ergebnis dieser vergifteten Atmosphäre ist eine bösartige Verleumdung Leo Trotzkis durch Theodore Dalrymple, die völlig überraschend in einer Besprechung des jüngsten Buchs von Christopher Hitchens in der Wochenendausgabe der Financial Times auftaucht. Dalrymple nimmt heftigen Anstoß an einem Kapitel in Hitchens Buch, das Trotzki mit einem gewissen Grad an Bewunderung darstellt.

Dalrymple, der regelmäßige Kolumnen für das rechte Spectator -Magazin in Großbritannien schreibt, erträgt es nicht, dass Hitchens Trotzki zumindest für einen großen Schriftsteller hält. Obwohl Hitchens selbst mit seiner radikalen Vergangenheit gebrochen und sich zu einem Anhänger der Bush-Regierung und des Irakkriegs gemausert hat, ärgert sich Dalrymple darüber, dass er seiner Meinung nach noch immer eine zweideutige Haltung gegenüber dem Führer der Russischen Revolution einnimmt.

"Trotzki war ein moralisches Monster", dröhnt Dalrymple. Die literarischen Fähigkeiten eines solchen Mannes positiv darzustellen, sei, "als würde man Hitler aufgrund seiner Zuneigung zum Schäferhund Blondi hauptsächlich als unvergesslichen Tierliebhaber präsentieren, oder als Naturliebhaber, weil er sich einmal in Lederhosen im Freien fotografieren ließ".

Und weiter: "Dass Trotzki ein talentierter Schreiberling und literarischer Stilist war, ist völlig nebensächlich. Er war ein Massenmörder, der die gesamte Welt auf einmal und für immer versklaven wollte, und nicht allmählich, Stück für Stück, wie es Stalin tat. All das wird im Namen einer völlig unzureichenden und äußerst primitiven Theorie ignoriert."

Ein solcher Angriff setzt voraus, dass der Leser absolut nichts über den Gegenstand weiß, um den es geht. Der Vergleich Trotzkis mit Hitler ist nicht nur empörend, er zeigt auch eine erschreckende Unkenntnis elementarer historischer Tatsachen. Es gibt niemanden, der die Gefahr des Faschismus besser verstanden und mehr getan hat, die deutsche und internationale Arbeiterklasse gegen diese Gefahr zu mobilisieren, als Trotzki. Als eine nicht geringe Zahl britischer bürgerlicher Politiker mit Hitler kokettierte, den sie als potentiellen Verbündeten gegen die Sowjetunion betrachteten, schrieb Trotzki das Folgende über die Bedeutung des Nationalsozialismus:

"Der Faschismus entdeckte für die Politik den Bodensatz der Gesellschaft... All das, was bei ungehinderter Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als Kulturexkrement ausgeschieden werden müsste, ist heute durch den Schlund hochgekommen: Die kapitalistische Zivilisation erbricht die unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus." (1)

Vor 30 oder 40 Jahren hätte ein politisch gebildetes Publikum die Bezeichnung Trotzkis als "talentierter Schreiberling" als krasse Untertreibung empfunden - etwa als würde man Matisse, Picasso oder Rivera als begabte Kritzler bezeichnen. Außer von den pathologischen Trotzi-Hassern - den Stalinisten und faschistischen Antisemiten - wurde allgemein anerkannt, dass Leo Trotzki zu den größten literarischen Gestalten des zwanzigsten Jahrhunderts zählte. Diese Meinung teilten übrigens auch einige von Trotzkis glänzendsten Zeitgenossen. Im Tagebuch Walter Benjamins findet sich am 3. Juni 1931 zum Beispiel folgender Eintrag:

"Am Abend vorher Gespräch mit Brecht, Brentano, Hesse im Café du Centre. Die Rede kommt auf Trotzki; Brecht meint, es ließe sich mit gutem Grund behaupten, dass Trotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre. Man erzählt Episoden aus seinen Büchern." (2)

Brecht, Benjamin, Brentano und Hesse verstanden, was Dalrymple nicht begreift: dass ein großer Unterschied zwischen einem "talentierten Schreiberling" und dem "größten lebenden Schriftsteller von Europa" besteht. Ersterer kann dazu beitragen, den Absatz von Luxusgütern zu fördern oder sogar die beschränkten intellektuellen Bedürfnisse schlechtinformierter Kolumnenleser befriedigen. Letzterer übt großen kulturellen und moralischen Einfluss auf die Menschheit aus.

Trotzkis Größe als Schriftsteller war Ausdruck seines Formats als Denker. Seine Ideen genossen auch dann noch die Aufmerksamkeit und den Respekt eines weltweiten Publikums, als er alle offenen Insignien der politischen Macht längst verloren hatte.

Man braucht lediglich Dalrymples plumpen Hinweis auf eine "völlig unzureichende und äußerst primitive Theorie" zu lesen, um festzustellen, dass er nichts über Trotzkis Schriften weiß und keine Ahnung hat, worum es bei Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus ging. Welches Buch von Trotzki hat Dalrymple gelesen? Man zweifelt, ob er auch nur eines seiner zahlreichen Werke kennt.

Vergleichen wir Dalrymples banalen und dümmlichen Hinweis auf Trotzkis "unzureichende und äußerst primitive Theorie" mit einer Beschreibung seines Werks in einem Buch über Trotzki, das vor 32 Jahren durch Prentice-Hall veröffentlicht wurde, zu jener Zeit ein führender Lehrbuchverlag. Das Buch über Trotzki erschien in einer Reihe mit Biografien großer Männer, "Great Lives Observed". Trotzki wird darin als "ein Gigant der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts" bezeichnet und sein theoretisches Werk wird in der Einleitung folgendermaßen eingeschätzt:

"Seine Analyse der gesellschaftlichen Kräfte im zaristischen Russland und seine Entwicklung der Idee der ‚permanenten Revolution’ zeigen, dass er dank seiner enormen Kreativität fähig war, als marxistischer Denker über die Formulierungen von Marx und Engels hinaus zu gehen. In diesem Sinne steht er, was seine theoretischen Beiträge betrifft, auf einer Stufe mit der alten Gruppe glänzender marxistischer Theoretiker wie Plechanow, Kautsky, Luxemburg und Lenin selbst." (3)

Was Dalymples Beurteilung Trotzkis als "moralisches Monster" betrifft, fragt man sich, auf welche Kriterien er sich stützt. Trotzki war Revolutionär. Für ihn war der Klassenkampf nicht eines von vielen Mitteln, mit denen man ein politisches Ziel erreichen kann, sondern eine ontologische Tatsache der menschlichen Gesellschaft. In diesem Rahmen hielt er sich an den striktesten Moralkodex, einen Kodex, der das Handeln eines Individuums an den objektiven Interessen der Arbeiterklasse und ihrem Kampf gegen Ausbeutung und alle Formen von Unterdrückung und Ungerechtigkeit misst.

Trotzki, der alles gab, um die revolutionären Prinzipien zu verteidigen, für die er eintrat, und der schließlich sein eigenes Leben im Kampf gegen den stalinistischen Verrat der russischen Revolution opferte, hinterließ eine Darstellung seiner moralischen Überzeugungen:

"Ein Mittel ist nur durch das mit ihm verfolgte Ziel zu rechtfertigen. Aber das Ziel bedarf seinerseits der Rechtfertigung. Vom marxistischen Standpunkt, der die historischen Interessen des Proletariats zum Ausdruck bringt, ist das Ziel gerechtfertigt, wenn es dazu führt, die Macht des Menschen über die Natur zu vermehren und die Macht des Menschen über den Menschen zu vernichten.

‚Das bedeutet also, dass zur Erreichung dieses Ziels alles erlaubt ist?’ wird der Philister sarkastisch fragen - und er beweist damit, dass er nichts begriffen hat. Erlaubt ist, so antworten wir, was wirklich zur Befreiung der Menschheit führt. Da dieses Ziel nur durch Revolution erreicht werden kann, trägt die Befreiungsmoral des Proletariats notwendigerweise revolutionären Charakter. Sie tritt nicht nur jedem religiösen Dogma, sondern auch allen idealistischen Fetischen, diesen philosophischen Gendarmen der herrschenden Klasse, unversöhnlich entgegen. Ihre Regeln leiten sich aus den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft ab, also in erster Linie aus dem Klassenkampf, dem obersten aller Gesetze.

‚Alles gut und schön’, wird der Moralist hartnäckig erwidern, ‚aber bedeutet das nun, dass im Kampf gegen die Kapitalisten alle Mittel erlaubt sind: Lüge, Schwindel, Verrat, Mord und so weiter?’ Erlaubt und obligatorisch sind jene Mittel, und nur jene Mittel, so antworten wir, die das revolutionäre Proletariat einen, seine Herzen mit unversöhnlicher Feindschaft gegen die Unterdrückung erfüllen, die es lehren, die offizielle Moral und ihre demokratischen Nachbeter zu verachten, es mit dem Bewusstsein seiner eigenen historischen Mission erfüllen, seinen Mut und seinen Opfergeist im Kampf heben. Eben daraus ergibt sich, dass nicht alle Mittel erlaubt sind. Wenn wir sagen, das Ziel heiligt die Mittel, so ergibt sich für uns daraus die Schlussfolgerung, dass das große revolutionäre Ziel solche niedrigen Mittel und Wege verwirft, die einen Teil des Proletariats gegen andere Teile aufhetzen oder die Arbeiter ohne ihr eigenes Zutun glücklich machen wollen, oder das Selbstvertrauen der Massen und den Glauben an ihre Organisation senken und durch den Führerkult ersetzen. In erster Linie und absolut unversöhnlich verwirft die revolutionäre Moral Knechtseligkeit gegenüber der Bourgeoisie und Hochmut gegenüber den Arbeitern, d.h. jene Eigenschaften, mit denen die kleinbürgerlichen Pedanten und Moralisten durch und durch getränkt sind." (4)

Man kann natürlich aus philosophischen Gründen dagegen sein, dass Trotzki Kants kategorischen Imperativ als Grundlage für die Bewertung politischen Handelns ablehnt. Zu den entschiedensten Gegnern Trotzkis gehörte in dieser Hinsicht der amerikanische Philosoph John Dewey. Aber es wäre Dewey, einer intellektuell höchst integren Persönlichkeit, niemals in den Sinn gekommen, Trotzki als "moralisches Monster" zu bezeichnen.

Es wäre sinnlos und ethisch unmöglich gewesen, der Kommission vorzustehen, die die vom stalinistischen Regime gegen Trotzki erhobenen Anschuldigungen untersuchte, wenn es sich bei Letzterem aufgrund seiner politischen Tätigkeit um einen politischen Kriminellen gehandelt hätte. Auch wenn er die marxistische Weltsicht ablehnte, verstand Dewey sehr gut, dass bei der Verteidigung von Trotzkis Ruf, seiner "revolutionären Ehre", gegen falsche und unbegründete Anschuldigungen große Prinzipien auf dem Spiel standen. Derartige moralische Feinheiten, nicht zu sprechen von der persönlichen Integrität, übersteigen den Horizont von Herrn Dalrymple.

Schließlich teilt uns der Kolumnist nicht mit, welche bürgerlichen politischen Führer, in Vergangenheit und Gegenwart, er zu seinen moralischen Vorbildern zählt. Vielleicht Winston Churchill, der im Ersten Weltkrieg Zehntausende Jugendliche in einen sinnlosen Tod sandte und in den zwanziger Jahren den Einsatz von Giftgas gegen aufständische Iraker billigte? Oder Präsident Harry Truman, der vor sechzig Jahren den Befehl zum Abwurf zweier Atombomben auf die wehrlosen Städte Hiroshima und Nagasaki gab, die beinahe 200.000 Menschen umbrachten? Oder heutzutage Premierminister Tony Blair, der sein Land gestützt auf Lügen in einen Krieg gezerrt hat, der Zehntausenden das Leben kostete?

Wir warten, allerdings nicht sehr begierig, auf Herrn Dalrymples Antwort.

Anmerkungen

1) Leo Trotzki, "Porträt des Nationalsozialismus", Arbeiterpresse Verlag 1999, S.307

2) Walter Benjamin, Autobiographische Schriften - Aufzeichnungen 1906-1932, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/Main 1985, S. 432

3) "Great Lives Observed: Trotsky", Englewood Cliffs, NJ; Prentice-Hall, 1973, p. 1

4) Leo Trotzki, "Fragen des Alltagslebens", Arbeiterpresse Verlag 2001, S. 244-245

Siehe auch:
Leo Trotzki und das Schicksal des Sozialismus im zwanzigsten Jahrhundert
Loading