Zweiter Vortrag: Marxismus gegen Revisionismus am Vorabend des 20. Jahrhunderts

Teil 3

Die Socialist Equality Party (USA) und die World Socialist Web Site veranstalteten vom 14. bis 20. August in Ann Arbor, Michigan, eine Sommerschule. Die dort gehaltenen Vorträge veröffentlichen wir im Laufe der kommenden Wochen jeweils in mehreren Teilen. Der vorliegende Vortrag stammt von David North, dem Chefredakteur der WSWS.

Der Revisionismus von Eduard Bernstein

Wann trat Bernsteins Revisionismus erstmals in Erscheinung? Es gab viele Symptome. Bernstein hatte bereits früh in seinem sozialistischen Werdegang eine Anfälligkeit gezeigt, den revolutionären Marxismus mit einem kleinbürgerlichen humanistischen Jargon zu verwässern. In den späten 1870er Jahren hatte sich Bernstein mit Karl Höchberg zusammengetan, einem wohlhabenden Gönner der jungen sozialdemokratischen Bewegung, der glaubte, der Sozialismus hätte als volkstümliche, alle Klassen umfassende Bewegung bessere Erfolgaussichten und sollte insbesondere auf moralischer Grundlage an die Mittelklasse appellieren. Unter dem Druck von Bebel und Engels trat Bernstein von diesem Standpunkt zurück; aber wie es so oft in der Politik der Fall ist, stellte sich das, was zunächst als Jugendsünde erschien, schließlich als frühes Symptom einer politischen Tendenz heraus.

Später siedelte Bernstein nach England über, wo er freundschaftliche Beziehungen zur reformistischen Bewegung der Fabier entwickelte. Höchstwahrscheinlich haben die Erfahrungen in Großbritannien, wo sich nach dem Zusammenbruch des revolutionären Chartismus der Reformismus in der Arbeiterbewegung wie Unkraut ausbreitete, einen tiefen Einfluss auf Bernstein ausgeübt. Im reichen Großbritannien, mit seiner stabilen Mittelklasse und einem tief verwurzelten parlamentarischen System, schienen Bernstein die Aussichten auf einen revolutionären Sturz des Kapitalismus in sehr weiter Ferne.

Zu Beginn des Jahres 1895 war Engels zutiefst erschüttert, als er entdeckte, dass seine Einleitung zu einer neuen Ausgabe von Marx’ 1850 verfassten Buch Die Klassenkämpfe in Frankreich von Bernstein und Kautsky verändert worden war. Die veränderte Fassung hinterließ den Eindruck, der alte Revolutionär sei zu einem Anhänger des friedlichen Wegs zum Sozialismus geworden. Am 1. April 1895, nur vier Monate vor seinem Tod, schrieb Engels wütend an Kautsky:

"Zu meinem Erstaunen sehe ich heute im ‚Vorwärts’ einen Auszug aus meiner ‚Einleitung’ ohne mein Vorwissen abgedruckt und derartig zurechtgestutzt, daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand même dastehe. Um so lieber ist es mir, daß das Ganze jetzt in der N[euen] Z[eit] erscheint, damit dieser schmähliche Eindruck verwischt wird. Ich werde L[ieb]k[necht] sehr bestimmt darüber meine Meinung sagen und auch denjenigen, die, wer sie auch seien, ihm diese Gelegenheit gegeben haben, meine Meinung zu entstellen, und das, ohne mir ein Wort mitzuteilen." [7]

Im Oktober 1896, etwas mehr als ein Jahr nach Engels Tod, veröffentlichte Bernstein einen Artikel zur Frage der "Probleme des Sozialismus", mit dem seine offene Zurückweisung des revolutionären Programms des Marxismus formal seinen Anfang nahm. Er begann seinen Artikel damit, die raschen Fortschritte und den wachsenden Einfluss der sozialistischen Bewegung in Europa herauszustellen. Selbst die bürgerlichen Parteien müssten den Forderungen Gehör schenken, die die Sozialisten aufstellten. Auch wenn diese Erfolge nicht bedeuteten, dass der Sozialismus kurz vor dem entgültigen Sieg stände, argumentierte Bernstein, so sei es doch sicherlich notwendig geworden, die größtenteils negative Einstellung aufzugeben, die die sozialistische Bewegung zur existierenden Realität einnehme. Anstelle dessen hätten die Sozialisten "mit positiven Reformvorschlägen herauszutreten". [8]

Im Laufe der nächsten zwei Jahre sollte Bernstein seine Kritik am orthodoxen Marxismus ausarbeiten, die schließlich in der Veröffentlichung von Die Vorbedingungen des Sozialismus gipfelte. Seine Schriften machten deutlich, dass es buchstäblich kein Element des Marxismus gab, mit dem Bernstein übereinstimmte. Er wies das philosophische Erbe Hegels und das Eintreten für die dialektische Methode zurück. Er argumentierte, dass die tatsächliche Entwicklung des Kapitalismus die ökonomische Analyse von Marx widerlegt hätte. Insbesondere lehnte er das ab, was er "sozialistische Katastrophitis" nannte - die Überzeugung, dass sich der Kapitalismus aufgrund seiner inneren Widersprüche auf eine extreme Krise hinbewege. Während er die Möglichkeit periodischer Krisen akzeptierte, bestand Bernstein darauf, dass der Kapitalismus "Anpassungsmittel" - wie etwa das Kreditwesen - entwickelt habe und entwickeln werde, durch die solche Krisen entweder endlos hinausgezögert oder gemildert werden könnten.

In jedem Fall, so Bernstein, sollte die Zukunft des Sozialismus nicht an die Unvermeidlichkeit einer größeren Krise im kapitalistischen System gebunden werden. 1898 schrieb er an den Stuttgarter Parteitag der Sozialdemokratischen Partei:

"Ich bin der Anschauung entgegengetreten, daß wir vor einem in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehen und daß die Sozialdemokratie ihre Taktik durch die Aussicht auf eine solche bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen beziehungsweise von ihr abhängig machen soll. Das halte ich in vollem Umfang aufrecht." [9]

Dies war ein zentraler Punkt: Es ging nicht darum, die Form, die eine "Katastrophe" annehmen würde, präzise und detailliert vorherzusagen. Solche Vorhersagen, die zu allen Zeiten und unter allen Umständen richtig sind, können nicht getroffen werden. Es ging vielmehr um die Frage, ob es überhaupt eine objektive und notwendige Verbindung zwischen der Entwicklung des Sozialismus und tatsächlich existierenden inneren Widersprüchen des kapitalistischen Systems gibt oder nicht. Wenn solch eine Verbindung nicht existiert, dann ist es unmöglich, vom Sozialismus als einer historischen Notwendigkeit zu sprechen.

Wenn keine Notwendigkeit besteht, welchen Grund gibt es dann für den Sozialismus? Bernstein zufolge konnte und sollte der Sozialismus auf einer moralischen und humanistischen Grundlage vertreten werden - d.h. als politische Anwendung von Kants Kategorischem Imperativ, der die folgende Anweisung beinhaltet: "Handle so, dass Du den Menschen, in Deiner eigenen Person wie in der jedes anderen, immer als Ziel, niemals als Mittel ansiehst."

Bernsteins Bemühungen um eine moralische Basis für den Sozialismus waren nicht originell. In den 1890er Jahren gab es eine einflussreiche Gruppe von neokantianischen Akademikern, die der Überzeugung waren, Kants Kategorischer Imperativ führe logisch zum Sozialismus. Einige, wie der prominente neokantianische Philosoph Morris Cohen, erklärten Kant auf der Grundlage seiner Moral "zum wahren und wirklichen Begründer des deutschen Sozialismus". [10]

Dies war ebenso falsch wie naiv. Der Kategorische Imperativ nimmt im Bereich des moralischen Verhaltens den gleichen Platz ein, wie der gesunde Menschenverstand im Alltagsverhalten des Durchschnittsmenschen. So wie der Einsatz des gesunden Menschenverstandes in anspruchslosen Situationen recht befriedigende Resultate zeitigen kann, kann der Kategorische Imperativ innerhalb eines begrenzten gesellschaftlichen Rahmens als Richtschnur für akzeptables Verhalten dienen. Im Bereich rein privater und persönlicher Beziehungen wäre es äußerst begrüßenswert, wenn die Mitmenschen als Ziel und nicht als Mittel betrachtet würden. Aber im öffentlichen Bereich ist ein striktes Festhalten an diesem Imperativ höchst problematisch.

Ernsthaft politisch betrachtet ist die universelle Anwendung dieser Maxime in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft unmöglich. Kant lebte zu einer Zeit, als sich der Industriekapitalismus in Deutschland noch kaum entwickelt hatte. Er konnte nicht verstehen, dass sein zentrales ethisches Postulat mit den Produktionsverhältnissen in einer kapitalistischen Gesellschaft objektiv unvereinbar war. Was ist der Lohnarbeiter für den Kapitalisten, wenn nicht das Mittel, mit dem Mehrwert und Profit erzeugt werden?

Innerhalb der deutschen Sozialdemokratischen Partei herrschte ursprünglich große Zurückhaltung, Bernstein öffentlich entgegenzutreten. Die russischen Marxisten, zunächst Parvus und dann Plechanow, bestanden auf einem offenen und umfassenden Kampf gegen Bernsteins Revisionen. Plechanow, der seine theoretischen Polemiken nach dem Motto "ohne Rücksicht auf Verluste" zu verfassen pflegte, schrieb eine Reihe von vernichtenden Essays, die den Bankrott von Bernsteins philosophischen Konzeptionen herausstellten. Diese Essays gehören zu den besten Darstellungen der dialektischen Methode und der theoretischen Grundlagen des Marxismus. Noch bekannter ist die brillante polemische Schrift der 27-jährigen Rosa Luxemburg Sozialreform oder Revolution?. Im ersten Kapitel fasst sie präzise und knapp die Grundfragen zusammen, die sich aus Bernsteins Angriff auf den Marxismus ergeben:

"Die Bernsteinsche Theorie steht vor einem Entweder-Oder. Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das Ergebnis, dann sind aber auch die ‚Anpassungsmittel’ unwirksam und die Zusammenbruchstheorie richtig. Oder es sind die ‚Anpassungsmittel’ wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft.

Dieses Dilemma läuft auf ein anderes hinaus: entweder hat Bernstein in bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann muß aber die Theorie der ‚Anpassungsmittel’ nicht stichhaltig sein. That ist the question, das ist die Frage." [11]

Liest man Die Vorbedingungen des Sozialismus, so wundert man sich, dass Bernstein das bedrohliche Rumoren unter der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft am fin de siègle scheinbar überhaupt nicht wahrnahm. Er ging mit einer unglaublichen Selbstgefälligkeit davon aus, dass die Indizes der ökonomischen Entwicklung endlos ansteigen und dabei den Lebensstandard der Massen ständig anheben würden. Die Vorstellung einer größeren Krise erschien Bernstein als reiner Wahnsinn. Selbst die Warnungen, dass die neuen Erscheinungen des Kolonialismus und Militarismus zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen den massiv aufgerüsteten kapitalistischen Staaten führen würden - eine der möglichen Formen der bevorstehenden Katastrophe - wurde von Bernstein als Panikmache abgetan. "Wir gewöhnen uns glücklicherweise immer mehr daran", bemerkte er selbstzufrieden, "politische Differenzen anders als durch Schießerei zu erledigen." [12] Und das zu Beginn des 20. Jahrhunderts!

Trotz der Zurückhaltung der SPD-Führer war ein offener Kampf gegen Bernsteins Ansichten nicht zu umgehen. Auch wenn er seine Feder so lang wie möglich liegen ließ, reihte sich schließlich Kautsky - der Papst in Hinblick auf alle theoretischen Fragen innerhalb der deutschen und europäischen sozialistischen Bewegung - in die Reihen gegen Bernstein ein und wies seine Hauptpunkte nüchtern zurück. Auf dem Parteitag von 1898 und allen anderen in den folgenden Jahren wurde Bernsteins Häresie offiziell verurteilt. Auf theoretischer Ebene blieb die Herrschaft des Marxismus unangetastet. Aber auf einer anderen Ebene, der von Parteipraxis und -organisation, hatte der Kampf gegen den theoretischen Revisionismus keinerlei Konsequenzen.

Als Plechanow die SPD aufforderte, Bernstein aus der Partei auszuschließen, wurde der Vorschlag von den Parteiführern rundweg zurückgewiesen. Unter den Parteiführern herrschte kein großes Bedürfnis danach, die sehr reale Verbindung zwischen revisionistischer Theorie und Praxis und Organisation der SPD zu erforschen und offen zu legen. Hätte man dies getan, so wäre unvermeidlich das Verhältnis zwischen der SPD und den Gewerkschaften in Frage gestellt worden, die zumindest nominell unter der Kontrolle der Partei standen.

Es gab viele Gründe, warum die SPD-Führer die Aussichten auf einen offenen Kampf gegen die praktischen Formen des Opportunismus nicht begrüßten, insbesondere diejenigen nicht, die mit der tagtäglichen Praxis der Gewerkschaften verbunden waren. Sie hatten Angst, dass ein solcher Kampf die Partei spalten, einen Riss in den Reihen der Arbeiterklasse erzeugen, die Jahrzehnte des organisatorischen Fortschritts unterhöhlen und sogar die staatliche Unterdrückung der SPD erleichtern könnte. Dies waren gewichtige Bedenken. Und doch waren die Konsequenzen daraus, dass die SPD den Kampf gegen den politischen Opportunismus vermied, weitreichend und tragisch.

Zudem war der Revisionismus nicht einfach ein deutsches Problem. Er zeigte sich in verschiedenen Formen in der gesamten Zweiten Internationale. Im Jahre 1899 wurde die französische Sozialistische Partei erschüttert, als einer ihrer Führer, Alexandre Millerand, die Einladung des französischen Präsidenten Waldeck-Rousseau akzeptierte, als Handelsminister in sein Kabinett einzutreten. Dieses Ereignis zeigte nur allzu deutlich, dass die logische Konsequenz von Bernsteins Konzeptionen Klassenkollaboration, politische Kapitulation vor der Bourgeoisie und die Verteidigung des bürgerlichen Staates war.

Nur in einer Sektion der Zweiten Internationale, in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, wurde der Kampf gegen den Revisionismus systematisch entwickelt und mit weit reichenden politischen Schlussfolgerungen geführt.

Ende.

Quellen:

[7] Engels an Karl Kautsky, 1. April 1895, MEW Bd. 39, S. 452.

[8] Eduard Bernstein, Utopismus und Eklekticismus (1896), in: ders., Zur Theorie und Geschichte des Socialismus - Gesammelte Abhandlungen, Berlin 1904, Teil 2: Probleme des Socialismus, S. 33.

[9] Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 2. Aufl. Berlin 1921, S. 6.

[10] Zit. nach: Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus, Nürnberg 1954, S. 181.

[11] Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution? In: dies., Politische Schriften, Berlin 1969, S. 17f.

[12] Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 203.

Siehe auch:
Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts
(14. September 2005)
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