Fragen an die Partei für Soziale Gleichheit

Was bedeutet "Diktatur des Proletariats"?

Auf der Wahlwebsite der Partei für Soziale Gleichheit zur Bundestagswahl 2005 sind zahlreiche Fragen eingetroffen, die wir in den kommenden Tagen in loser Folge veröffentlichen und beantworten werden.

Frage: Seid ihr immer noch der Auffassung, dass es zur Vorbereitung eines Sozialismus eine Diktatur des Proletariats benötigt?

Antwort: Der Begriff "Diktatur des Proletariats" spielt in der marxistischen Theorie eine wichtige Rolle, allerdings in ganz anderer Weise, als viele denken. Antikommunisten aller Schattierungen haben diesen Begriff immer wieder benutzt, um Sozialisten undemokratische Absichten zu unterstellen. Besonders oberflächliche Geister bezeichnen die stalinistische Diktatur in der Sowjetunion und ihre Satellitenregimes in Osteuropa und der DDR als Diktatur des Proletariats und machen Marx und Engels für die stalinistische Unterdrückung verantwortlich.

Um die heillose Verwirrung aufzuklären, ist es notwendig, zur ursprünglichen Bedeutung dieses Begriffs zurückzukehren. In der Erarbeitung einer wissenschaftlichen Gesellschaftstheorie haben Marx und Engels nachgewiesen, dass die Geschichte der Menschen eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Im Anschluss an die frühe Gentilgesellschaft, deren Gleichheit auf allgemeinem Mangel basierte und die sich angesichts der größer werdenden menschlichen Gemeinschaft nicht halten konnte, entstand eine Klassendifferenzierung.

Die Entwicklung und Veränderung der Klassengesellschaft war durch den Stand, bzw. die Entwicklung der Produktionsmethoden bestimmt. An bestimmten Entwicklungspunkten geriet die weiterentwickelte Produktionsweise in Konflikt mit den alten gesellschaftlichen Verhältnissen. Dann trat eine Periode gesellschaftlicher Umwälzungen (Revolution) ein. In der Französischen Revolution vor gut zweihundert Jahren - und noch deutlicher in der Revolution von 1848 - wurde erstmals das moderne Industrieproletariat sichtbar, und aus dieser Zeit stammt der Begriff "Diktatur des Proletariats".

"Diktatur" heißt hier nicht mehr als "Klassenherrschaft". Weil aber in der Vergangenheit und Gegenwart privilegierte Gesellschaftsklassen immer eine Minderheit darstellten, war deren Herrschaft immer mit Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber der Mehrheit der Gesellschaft verbunden. Anders beim Proletariat. Entstanden mit der Industrialisierung repräsentiert es ein qualitativ neues Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung. War die Klassenherrschaft der Vergangenheit ein Ergebnis der Unfähigkeit, genügend für alle Menschen zu produzieren, so überwand die moderne Industrie diese Begrenzung.

Das Proletariat vertritt nicht mehr die Interessen einer privilegierten Klasse, sondern verkörperte die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung. Seine Klassenherrschaft basiert nicht auf Unterdrückung der Mehrheit durch eine privilegierte Minderheit, sondern umgekehrt: Mit der Herrschaft des Proletariats beginnt die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit, d.h. wirkliche Demokratie. Daher bedeutet die "Diktatur des Proletariats" tatsächlich das letzte Stadium der Klassenherrschaft und leitet den Übergang zu einer klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft ein.

Weil aber eine solche Herrschaft der Mehrheit mit der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und den daraus resultierenden Privilegien auch der heutigen Elite verbunden ist, schürt das Bürgertum nicht nur eine größtmögliche Verwirrung über diese Fragen, sondern hat von Anfang an jede selbstständige Regung der arbeitenden Bevölkerung, die darauf ausgerichtet war, die politische Macht zu erobern, rigoros bekämpft und unterdrückt. Als die Pariser Arbeiter 1871 erstmals versuchten, eine Arbeiterregierung zu errichten, wurden alle Mitglieder der Kommune zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Zwanzig Jahre später schrieb Friedrich Engels: "Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats." (Friedrich Engels, Einleitung zu: Der Bürgerkrieg in Frankreich von Karl Marx, 18. März 1891)

Diese Frage hat auch in umgekehrter Form große Bedeutung. Ungeachtet aller demokratischen Phraseologie ist die heutige Gesellschaft durch die Herrschaft der bürgerlichen Klasse geprägt. Das parlamentarische System ändert daran nichts.

Man muss sich nur die gegenwärtigen Bundestagswahlen vor Augen führen. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung, weitgehend ausgearbeitet in den Chefetagen der Wirtschaftsverbände, ist auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung gestoßen. Die Regierung war aber nicht bereit, dem Willen der Mehrheit nachzugeben. Mit den vorgezogenen Neuwahlen hat Bundeskanzler Schröder die Wähler vor ein Ultimatum gestellt: Entweder ihr akzeptiert die Agenda 2010, oder wir werden die Macht in die Hände der Union geben, die noch schärfere Angriffe durchsetzt. Ungeachtet des Wahlergebnisses wird nach der Stimmenauszählung eine Regierung gebildet, die noch konsequenter die Interessen der Wirtschaft durchsetzt.

Damit nicht genug. Trotz aller Lobeshymnen auf die Demokratie sind wichtige gesellschaftliche Bereiche von jeglicher demokratischen Kontrolle und Mitwirkung der Bevölkerung ausgeschlossen. In den Chefetagen der großen Konzerne und Banken werden täglich Entscheidungen getroffen, die das Leben breiter Bevölkerungsschichten direkt und indirekt stark betreffen, aber sie unterliegen nicht der geringsten demokratischen Kontrolle oder auch nur Rechtfertigung. Wohin das führt, konnte man in den vergangenen Tagen in den USA angesichts der Katastrophe in New Orleans beobachten.

Bleibt noch die Frage, warum der erste Arbeiterstaat, die Sowjetunion, derart schrecklich entartet ist und 1991 sang und klanglos unterging. Es würde den Rahmen dieser Antwort bei weitem überschreiten, umfassend auf diese Frage einzugehen. Hier nur zwei Bemerkungen:

Erstens: Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war das zentrale historische Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts und ein wichtiger Schritt in eine sozialistische Zukunft. Nicht nur der Erste Weltkrieg wurde durch die revolutionäre Sowjetregierung beendet, sondern alle demokratischen und fortschrittlichen Bewegungen weltweit erhielten einen großen Auftrieb. Im Gegensatz dazu griffen alle wichtigen kapitalistischen Regierungen den jungen Arbeiterstaat an und eröffneten an 14 Fronten den Krieg gegen ihn.

Unter diesem Druck, und weil es nach dem Niederschlagen der Revolution in Deutschland 1918 und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht gelang, die nationale Isolation zu überwinden, wuchsen in der Sowjetunion die reaktionären Kräfte. Die stalinistische Diktatur war nicht ein Ergebnis der Revolution, sondern der Reaktion, die unter den Bedingungen der Isolation und des Drucks der imperialistischen Länder grausame Rache an der Revolution nahm. Der Stalinismus war nicht eine Form der Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer privilegierten Staats- und Parteibürokratie über das Proletariat.

Zweitens: Betrachtet man die Ereignisse im historischen Rahmen, dann zogen sich die Geburtswehen der bürgerlichen Revolution - von den Bauernkriegen im 16. Jahrhundert, über die Revolution in England bis zum Sturm auf die Bastille Ende des 18. Jahrhunderts und den europäischen Revolutionen Mitte des 19. Jahrhunderts - über fast dreihundert Jahre hin. Verglichen damit ist die Zeit von der Pariser Kommune, als Arbeiter 1871 nur wenige Tage die politische Macht halten konnten, bis zur Errichtung der Arbeitermacht in Petrograd und Moskau, die immerhin ein Jahrzehnt anhielt, bevor sie degenerierte, eine vergleichsweise kurze Periode.

Historisch gesprochenhat die Diktatur des Proletariats als demokratische Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit gerade erst begonnen.

Siehe auch:
Wahlwebsite der PSG
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