SPD und Union bereiten sich auf große Koalition vor

Zehn Tage nach der Bundestagswahl vom 18. September zeichnet sich in Berlin die Bildung einer großen Koalition von CDU, CSU und SPD ab. Die führenden Vertreter aller drei Parteien haben sich für eine derartige Lösung ausgesprochen.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) setzte sich bereits am Sonntag Abend in der ARD für ein Bündnis zwischen Union und SPD ein. "Ich bin dafür, dass diese Koalition zu Stande kommt, ich werde alles dafür tun, damit sie zu Stande kommt," sagte er.

Am Montag legte dann die CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin der Union Angela Merkel drei Punkte vor, die sie als "Voraussetzungen" für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der SPD bezeichnete. Gleichzeitig entwickelte der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber in der Bild -Zeitung inhaltliche Vorstellungen über das Regierungsprogramm einer großen Koalition.

Stoiber, der sich bisher nicht festgelegen wollte, ob er als Ministerpräsident in Bayern bleibt oder als Regierungsmitglied nach Berlin geht, werde sich als Minister an einer großen Koalition beteiligen, verlautete aus München.

Nach wie vor umstritten ist die Frage, wer in einer großen Koalition den Kanzler stellt. CDU und CSU, die nach dem vorläufigen Wahlergebnis drei Parlamentssitze mehr haben als die SPD, beharren darauf, dass Angela Merkel dieses Amt übernimmt. Die Anerkennung ihres Anspruchs auf das Kanzleramt ist eine der drei Voraussetzungen, die Merkel für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen angeführt hat.

Diese Frage ist von erheblicher Bedeutung, da der Bundeskanzler laut Verfassung über die Richtlinienkompetenz verfügt. Er ist also nicht an Kabinettsbeschlüsse gebunden, sondern kann den anderen Regierungsmitgliedern die Richtlinien der Politik verbindlich vorgeben.

Die SPD hält bisher öffentlich daran fest, dass Gerhard Schröder Kanzler bleiben müsse. Schröders Aussage, er werde "alles" tun, damit eine große Koalition zustande komme, wird allerdings als Indiz gewertet, dass er schrittweise von seinem Anspruch auf das Kanzleramt abrückt. Schröder sagte in der ARD, er sei zuversichtlich, dass der Streit um die Kanzlerschaft gelöst werde, "aber sinnvollerweise doch erst, wenn klar ist, die wollen sich wirklich einigen".

Am Wochenende brachte die SPD auch eine sogenannte israelische Lösung ins Gespräch. Schröder solle nach dem Vorbild von Schimon Peres (Arbeitspartei) und Izchak Schamir (Likud) für zwei Jahre oder 18 Monate Kanzler bleiben und dann das Amt an Merkel übergeben. Doch auch dieser Vorschlag stieß in der Union auf strikte Ablehnung.

Allgemein wird erwartet, dass nach der Nachwahl, die am kommenden Sonntag in Dresden stattfindet, über die Kanzlerschaft entschieden und Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden. Rein rechnerisch hätte die SPD in Dresden zwar noch die Möglichkeit, mit der Union gleichzuziehen, so dass beide Parteien mit derselben Anzahl Abgeordneten im Bundestag vertreten wären. Praktisch scheint dies aber ausgeschlossen, da die SPD dazu das Direktmandat und die Zweitstimmen fast sämtlicher Wahlberechtigten erhalten müsste.

Koalitionspoker

In der vergangenen Woche hatte in Berlin ein politisches Tauziehen stattgefunden, das in den Medien nur noch als "Poker" bezeichnet wurde. Spekulationen und Modelle über mögliche Koalitionen jagten sich im Stundentakt. Dabei wurde mit verdeckten Karten gespielt. Man konnte nur vermuten, wo das Reizen und Bluffen aufhörte und der Ernst begann.

Schröder hatte zur allgemeinen Überraschung noch am Wahlabend seinen Anspruch auf das Kanzleramt vehement verteidigt. Da aber SPD und Grüne jede Zusammenarbeit mit der Linkspartei - sei es in Form einer Koalition oder Tolerierung - kategorisch ausschlossen und die FDP einer Ampelkoalition mit SPD und Grünen eine eindeutige Absage erteilte, wurde schnell klar, dass Rot-Grün ebenso wenig wie Union und FDP über eine regierungsfähige Mehrheit verfügten.

Die SPD beharrte trotzdem auf Schröders Anspruch auf das Kanzleramt und begründete dies damit, dass Merkel für ihr Wahlprogramm lediglich 45 Prozent der Stimmen - die Stimmen für CDU, CSU und FDP - erhalten habe. Sie rechnete offenbar damit, dass die FDP doch noch umkippen würde oder dass es in CSU und CDU zu einer Absatzbewegung von Merkel käme, der Hauptverantwortlichen für das enttäuschende Wahlergebnis der Union. Doch weder das eine noch das andere trat ein.

In der FDP hatte sich der Parteivorsitzende Guido Westerwelle schon im Wahlkampf eindeutig auf ein Bündnis mit der Union festgelegt. Ein politischer Seitenwechsel hätte seine Ablösung und einen parteiinternen Machtkampf vorausgesetzt, der das Überleben der Partei in Frage gestellt hätte. Dies umso mehr, als die FDP ihr relativ gutes Wahlergebnis dem Umstand verdankte, dass viele CDU-Anhänger FDP gewählt hatten, um eine große Koalition und die Rückkehr der SPD in die Regierung zu verhindern.

Die FDP hat in ihrer fünfzigjährigen Geschichte bereits zweimal politisch die Seiten gewechselt - 1969, als sie nach drei Jahren in der Opposition in eine kleine Koalition mit der SPD eintrat, und 1982, als sie zur Union überlief und Helmut Kohl an die Macht verhalf. Beide Male hatte dies zu einer Spaltung der Partei geführt, die ihr Überleben in Frage stellte.

In der CDU führten Schröders Attacken auf Merkel zu einer Solidarisierung mit der Parteivorsitzenden. Die Ministerpräsidenten, eigentliche Machtbasis der Partei und notorische Rivalen Merkels, fühlten sich verpflichtet, den Anspruch der Union (und damit Merkels) auf das Kanzleramt öffentlich zu verteidigen. Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, der neben seinem hessischen Amtskollegen Roland Koch am häufigsten als möglicher Ersatz für Merkel an der Spitze einer großen Koalition genannt wurde, erklärte sogar, er stehe als Kanzler unter keinen Umständen zur Verfügung.

Auch die bayerische Schwester CSU, in der die Kritik an Merkels Wahlkampf besonders laut war, hielt eisern an deren Anspruch auf das Kanzleramt fest.

Unterstützung erhielt Merkel außerdem von den Grünen. Diese erteilten den Plänen für eine Neuauflage der rot-grünen Koalition bald eine Absage. Am deutlichsten wurde das mit Joschka Fischers öffentlichem Rückzug aus allen Führungsämtern in Partei und Fraktion.

Mittlerweile greifen die Grünen Schröders Anspruch auf das Kanzleramt öffentlich an. So erklärte der Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer am Wochenende der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung : "Den Kanzler oder die Kanzlerin stellt wohl die Union. Ich halte es für ausgeschlossen, dass Gerhard Schröder seinen persönlichen Machtanspruch durchsetzen kann."

Indem sie sich an den Plänen und Gesprächen über eine schwarz-gelb-grüne Koalition beteiligten, haben die Grünen zudem Merkels Verhandlungsposition gegenüber der SPD beträchtlich gestärkt. Zur Zeit ist zwar eine solche Koalition der Mitgliedschaft der Grünen und teilweise auch der Union nur schwer zu vermitteln. Aber die Grünen haben keinen Zweifel daran gelassen, dass sie für die Zukunft derartige Koalitionen auf Landes- und Bundesebene anstreben. Sollten die Verhandlungen über eine große Koalition scheitern, könnten diese Pläne in kürzester Zeit wieder aktuell werden.

Aufgaben einer großen Koalition

Lässt man die persönlichen und parteitaktischen Interessen, Intrigen und Machtkämpfe beiseite, so ergibt Schröders Versuch, eine Kanzlerin Merkel zu verhindern, durchaus einen politischen Sinn.

Das Wahlergebnis vom 18. September hatte den tiefen Gegensatz ans Licht gebracht, der zwischen der Mehrheit der Bevölkerung und der gesamten politischen Elite existiert. Zur Wahl standen anfangs die Agenda 2010 von Rot-Grün und eine "Agenda plus" (Die Zeit) von Union und FDP. Die beiden unterschieden sich nur in Nuancen. Doch in der Hitze des Wahlkampfs verschärften sich die Gegensätze. Die Wahlpropaganda der SPD bewegte sich nach links, die der CDU nach rechts. "Am Schluss", meint Die Zeit, "hatten die Bürger nur noch die Wahl zwischen einer Agenda minus (SPD) und einer Agenda im Quadrat (Union)."

Die Linkspartei, die sich gegen die Agenda 2010 ausgesprochen hatte, zog mit 9 Prozent der Stimmen ins Parlament ein, die Union erlitt eine verheerende Niederlage und die SPD konnte sich nur deshalb leicht erholen, weil sie von Vielen als kleineres Übel betrachtet wurde. Der Politik des Sozialabbaus und der marktwirtschaftlichen Reformen, die den Inhalt sämtlicher "Agenden" bildet, erteilten die Wähler eine empfindliche Abfuhr. Das ist der Grund für das Patt zwischen Schröder und Merkel, das die Regierungsbildung so schwierig macht.

Die neue Regierung muss jetzt aus Sicht der herrschenden Elite zwei Bedingungen erfüllen. Sie muss entschlossen sein, die "notwendigen Reformen" fortzuführen - wie Wirtschaftsverbände, Politiker jeder Couleur und Medien ununterbrochen betonen. Das heißt sie muss stabil genug sein, um eine unpopuläre Politik zu verwirklichen, der die Wähler soeben eine empfindliche Absage erteilt haben. Und sie muss diese Aufgabe erfüllen können, ohne offenen Widerstand und soziale Aufstände zu provozieren.

Vor allem was die zweite Bedingung angeht, bestehen an Merkel erhebliche Zweifel. Sie hat es fertiggebracht, im Wahlkampf in drei Monaten einen scheinbar uneinholbaren Vorsprung von 22 Prozent zu verspielen. Was geschieht, wenn sie als Regierungschefin ähnlich unsensibel vorgeht? Diese Befürchtungen werden bis weit in die Reihen der Union hinein geteilt. Schröders Versuch, Merkel als Kanzlerin zu verhindern, dürfte auch dort auf heimliche Sympathien stoßen.

Inzwischen scheint sich aber eine andere Lösung anzubahnen. Merkel wird Kanzlerin einer großen Koalition und von starken Politikern aus den Reihen der Ministerpräsidenten umgeben, die sie unter Kontrolle halten.

Das steckt hinter Stoiber Entschluss, als Minister nach Berlin zu gehen. In einer großen Koalition, meldete die Süddeutschen Zeitung aus dem CSU-Hauptquartier, müsse die Union im Kabinett "mit den besten Köpfen beider Seiten" vertreten sein. Ins selbe Horn stieß der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU). "Eine gute Regierungschefin duldet nicht nur kompetente Persönlichkeiten, sondern sie fördert geradezu starke Minister", sagte er der Stuttgarter Zeitung.

Die Süddeutsche Zeitung berichtete gleichzeitig über heftige Kritik an Merkel aus den Reihen der CSU. Die Union müsse die "neoliberale Ausrichtung" revidieren und "mehr sein als eine aufgeblasene FDP", zitierte sie CSU-Quellen.

Das Regierungsprogramm einer großen Koalition der Ministerpräsidenten ist längst erarbeitet und praktisch erprobt worden. In den letzten Regierungsjahren der Regierung Schröder fielen zahlreiche Gesetzesentscheidungen im Vermittlungsausschuss in einer faktischen Koalition von Union, die den Bundesrat beherrschte, und Rot-Grün, die den Bundestag dominierten. Sowohl die Gesundheitsreform wie ein Großteil der Hartz-Gesetze wurden von der Union auf diese Weise mitgetragen.

Hinzu kam die enge Zusammenarbeit zwischen einzelnen Ministerpräsidenten. So erarbeiteten der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) und sein damaliger sozialdemokratischer Amtskollege in Nordrhein-Westfalen, Peer Steinbrück, eine gemeinsame Streichliste für Steuersubventionen, die jetzt umgesetzt werden könnte. Beide gelten als Anwärter auf ein Ministeramt.

Der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber und der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering haben zusammen die Föderalismus-Kommission geleitet, die die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern neu ordnen soll. Sie verstanden sich glänzend. Die Umsetzung ihrer gemeinsamen Pläne scheiterte nur an der vorgezogenen Bundestagswahl.

Stoiber hat denn auch die Föderalismus-Reform als "Mutter aller Reformen" und "erstes großes Projekt" bezeichnet, das eine große Koalition in Angriff nehmen müsse. Er drängte außerdem auf einen drastischen Sparkurs. "Eine Große Koalition muss die großen Probleme rasch anpacken. Sonst hätte sie keine Legitimation", sagte er der Bild -Zeitung. Die Regierungsbildung müsse noch im Oktober beendet werden. Zu den "dringlichsten Aufgaben" zählte er die Aufstellung eines "vernünftigen Bundeshaushalts für 2006".

In der SPD treten mittlerweile die Vertreter des rechten Flügels in den Vordergrund, die sich schon immer gut mit der Union verstanden haben: Wolfgang Clement, der als Arbeits- und Wirtschaftsminister die Hauptverantwortung für Hartz IV trägt; Peer Steinbrück, der Verlierer der nordrhein-westfälischen Landtagswahl vom Mai dieses Jahres; und Innenminister Otto Schily, der sich bestens mit seinem möglichen Nachfolger, dem CSU-Rechtsaußen Gunther Beckstein versteht.

Sie alle gelten als Schröder-Getreue. Ob Schröder selbst mit einem Platz in der zweiten Reihe hinter Merkel vorlieb nehmen wird, bleibt fraglich. Am Charakter einer großen Koalition würde seine Teilnahme oder sein Rücktritt aber wenig ändern.

Eine große Koalition, wie sie den führenden Vertretern von Union und SPD jetzt vorschwebt, wäre eine Verschwörung gegen die arbeitende Bevölkerung. Sie würde die enge Zusammenarbeit zwischen den großen Parteien, wie sie bisher schon im Vermittlungsausschuss und anderen Gremien üblich war, auf den Bundestag übertragen und dabei eine wirkungsvolle Opposition weitgehend ausschalten. Und sie würde eine Politik durchsetzen, die am 18. September mit großer Mehrheit abgelehnt worden ist.

Siehe auch:
Fischer ebnet den Weg für Schwarz-Grün
(23. September 2005)
Ein Briefwechsel zu Fischers Rücktritt
( 27. September 2005)
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