Ein Briefwechsel zu Fischers Rücktritt

Die folgende Zuschrift haben wir zum Artikel "Fischer ebnet den Weg für Schwarz-Grün" vom 23. September erhalten. Wir veröffentlichen sie zusammen mit einer Antwort des Autors.

Eben habe ich auf mehreren Websites gelesen, die deutschen Grünen hätten der CDU wegen politischen Differenzen eine Absage erteilt. Z.B.:

"Merkel, die Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union führte gestern Gespräche mit den Grünen, um zu sondieren, ob sie sich mit ihr und den wirtschaftsfreundlichen Freidemokraten verbünden würden. Aber die Grünen - Juniorpartner in Schröders abtretender Regierungskoalition - beendeten Spekulationen über eine Rechtswendung und lehnten Merkels Einladung zu vertieften Gesprächen wegen politischer Differenzen ab.

‚Die Differenzen sind sehr groß,’ sagte Merkel nach den Gesprächen in der Nähe des Reichstagsgebäudes. ‚Ich hätte gerne detaillierter über mögliche Übereinstimmungen gesprochen, aber die Grünen wollten nicht.’"

Dieser Bericht fand sich auf http://www.boston.com/news/world/europe/articles/2005/09/24/german_conservatives_fail_to_win_over_greens_for_new_government/, aber wie gesagt, berichten viele Websites darüber. Ich lese eure Site und ihr seid alles andere als inkonsequent. Sicher hat euch hier eure ideologische Voreingenommenheit dazu bewogen, etwas Falsches zu berichten. (Ich glaube nicht an Wahlpolitik und habe keine Rechnung zu begleichen. Aber ihr seid ideologisch, oder nicht?)

MK

24. September 2005 (aus dem Englischen)

* * *

Lieber MK,

unsere Einschätzung, dass sich die Grünen auf eine Zusammenarbeit mit der Union vorbereiten, ist kein Ergebnis ideologischer Voreingenommenheit. Die Analysen der WSWS stützen sich auf die inhaltliche Logik politischer Standpunkte - und wir gelangen damit zu weit zuverlässigeren Ergebnissen, als dies der Fall wäre, wenn wir die täglich wechselnden Aussagen einzelner Politiker beim Wort nehmen würden.

Gerade hinsichtlich der Grünen können wir in dieser Hinsicht auf eine lange Erfahrung zurückblicken. Die deutsche Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale hat die Evolution dieser Partei seit ihrer Gründung vor 25 Jahren aufs engste verfolgt und stets davor gewarnt, sie als eine Art linke Alternative zu den anderen bürgerlichen Parteien zu betrachten.

Um ihnen ein Beispiel zu nennen: 1993 veröffentlichten wir eine Perspektivresolution, die sich auch ausführlich mit den Grünen befasste. Darin heißt es, dass "die Grünen die Politik der vorherrschenden Parteien nicht vom Klassenstandpunkt des Proletariats, sondern von dem des Kleinbürgertums" angreifen. Die Resolution weist auf den "im Grunde konservativen Charakter der Grünen hin" und betont, dass "der reaktionäre Charakter der Grünen" am deutlichsten "an ihrem Wirtschaftsprogramm in Erscheinung tritt". Schließlich warnt sie, dass "jeder Unterschied zu anderen bürgerlichen Parteien spätestens in dem Moment verschwunden (ist), in dem sie Regierungsverantwortung übernommen haben".

Das wurde fünf Jahre geschrieben, bevor die Grünen in die Bundesregierung eintraten, und erschien damals vielen ebenfalls als ein Ergebnis "ideologischer Voreingenommenheit". Es wurde in vollem Umfang bestätigt. Wir haben so die Arbeiterklasse frühzeitig vor Illusionen in eine rot-grüne Koalition gewarnt und sie auf die bitteren Enttäuschungen vorbereitet, durch die sie in den letzten sieben Jahren gegangen ist.

Betrachtet man Fischers politisches Manöver, seinen Verzicht auf grüne Führungsämter im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung seiner Partei, so kann es keinen Zweifel geben, dass hier ein weiterer, scharfer Rechtsruck vorbereitet wird. Nachdem alle rot-grünen Koalitionen auf Landes- und Bundesebene gescheitert sind, bereiten sich die Grünen nun auf gemeinsame Regierungen mit CDU, CSU oder FDP vor. (Auf kommunaler Ebene gibt es solche Koalitionen bereits, was außerhalb Deutschland nur wenig bekannt sein dürfte). Führende Vertreter der Partei bekennen sich völlig offen zu diesem Ziel.

So erklärte die Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, nach dem ersten Sondierungsgespräch zwischen Grünen und Union in einem Zeitungsinterview, für die Grünen sei die "babylonische Gefangenschaft" bei der SPD jetzt vorbei. Sie empfahl, als erstes eine schwarz-grüne Koalition auf Landesebene auszuprobieren: "Wer für Schwarz-Grün eine Option aufbauen will, sollte auf Landesebene anfangen." Eine Gelegenheit dazu könnt sich bereits im kommenden Frühjahr nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg ergeben. Dort bejahen sowohl der grüne Landesverband als auch CDU-Ministerpräsident Günther Oettinger seit längerem grundsätzlich eine derartige Koalition.

Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth sprach nach dem eineinhalbstündigen Treffen mit Merkel und Stoiber von einem "wichtigen, vielleicht historischen Treffen". Sie habe noch nie so lange mit dem bayerischen Ministerpräsidenten zusammengesessen, freute sie sich, und erhoffe nun eine "Enttabuisierung und Entdämonisierung" ihrer Partei.

Noch deutlicher wurde Renate Künast, zur Zeit noch Verbraucherschutzministerin in der Regierung Schröder, die sich um die Führung der Bundestagsfraktion bewirbt. Sie sagte nach den ersten Sondierungsgesprächen mit der Union, sie rechne künftig mit Bündnissen zwischen Grünen, CDU, FDP oder Linkspartei. "Keine Konstellation ist von vornherein ausgeschlossen", erklärte sie dem Spiegel. "Die alten Verteufelungen wird es schon bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr geben."

Wie wir in dem von ihnen angesprochenen Artikel geschrieben haben, lässt sich gegenwärtig nur schwer voraussagen, ob jetzt schon eine sogenannte schwarze Ampel - d.h. eine Regierung von Union, FDP und Grünen - im Bund zustande kommt. Zur Zeit geht die öffentliche Debatte eher in Richtung einer großen Koalition. Man kann aber auch eine konservative Regierung unter Beteiligung der Grünen nicht völlig ausschließen.

Zum einen stößt die Bildung einer großen Koalition nach wie vor auf erhebliche Hindernisse. Während sich SPD und Union inhaltlich recht nahe stehen, gibt es vor allem über die Kanzlerfrage noch heftige Differenzen. Schröder war bisher nicht zum Amtsverzicht bereit, während die Union darauf besteht, dass Merkel Kanzlerin wird.

Zum anderen würde sich angesichts des politischen Dilemmas, das im Wahlergebnis zum Ausdruck kommt, die Einbeziehung der Grünen in eine konservative Regierung durchaus anbieten. Der Union ist es nicht gelungen, aus der Unpopularität der Regierung Schröder Kapital zu schlagen, weil ihr eigenes neoliberales Wirtschaftsprogramm bei breiten Bevölkerungsschichten auf Ablehnung stößt. Eine große Koalition, fürchten viele, würde unter diesen Umständen zu einer Stärkung extrem linker oder auch rechter Parteien führen. Die Einbeziehung der Grünen würde dagegen die SPD in der Opposition belassen und einen Teil der grünen Klientel aus der Mittelschicht mit einer Regierung Merkel versöhnen.

Die Grünen sind mehr als bereit, in dieser Lage "staatspolitische Verantwortung" zu übernehmen, wie die Parteivorsitzende Claudia Roth immer wieder betont. Das zeigen auch die oben zitierten Äußerungen von Künast und Göring-Eckardt.

Was Joschka Fischer persönlich betrifft, so überlässt er es aus taktischen Gründen lieber anderen, das Terrain zu sondieren. Dass er aber zur Übernahme eines Ministeramtes in einer unionsgeführten Regierung bereit wäre, steht angesichts seiner politischen Biografie außer Zweifel. Durch die frühzeitige Ankündigung seines Rückzugs, die einer Absage an eine Regierungsbeteiligung an der Seite der SPD gleichkommt, hat er die Verhandlungsposition Merkels gegenüber der SPD bereits deutlich gestärkt. Merkel hätte sonst im Gegensatz zu Schröder keine Alternative zur einer großen Koalition gehabt.

Es ist auch bekannt, dass Fischer seit langem eine Art überparteiliche Funktion in einer internationalen Organisation - wie der EU oder der UNO - anstrebt. Auch das würde es den Grünen erleichtern, mit den konservativen Parteien zusammenzugehen.

Mit freundlichen Grüßen,

Peter Schwarz

Siehe auch:
Fischer ebnet den Weg für Schwarz-Grün
(23. September 2005)
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