Vierter Vortrag: Marxismus, Geschichte und Wissenschaft der Perspektive

Teil 3

Die Socialist Equality Party (USA) und die World Socialist Web Site veranstalteten vom 14. bis 20. August in Ann Arbor, Michigan, eine Sommerschule. Die dort gehaltenen Vorträge veröffentlichen wir im Laufe der kommenden Wochen jeweils in mehreren Teilen. Der vorliegende Vortrag stammt von David North, dem Chefredakteur der WSWS.

Die Lehren von 1848

Das Manifest wurde am Vorabend der revolutionären Ausbrüche veröffentlicht, die im Jahre 1848 einen Großteil Europas erschütterten. Wie Marx später anmerkte, versuchten die politischen Hauptakteure im Drama dieses Jahres, insbesondere die kleinbürgerlichen Führer der demokratischen Bewegung, ihr eigenes Tun zu erklären und zu rechtfertigen, indem sie auf die Traditionen von 1793 verwiesen. Doch die ökonomische Struktur und das soziale Antlitz Europas hatten sich in dem halben Jahrhundert verändert, das vergangen war, seit Robespierre und seine Jakobiner ihren Kampf auf Leben und Tod gegen die feudale Reaktion geführt hatten.

Als die fortgeschrittenen Teile der Bourgeoisie noch dabei waren, der Entwicklung des Kapitalismus angepasste Herrschaftsformen herauszuarbeiten, veränderte das Aufkommen der Arbeiterklasse als bedeutende soziale Kraft gründlich das politische Gleichgewicht. Ungeachtet der scharfen Spannungen zwischen der aufstrebenden Bourgeoisie und der verbliebenen, in der feudalen Vergangenheit verwurzelten Aristokratie empfand die kapitalistische Elite die Unzufriedenheit und die Forderungen des jungen Proletariats als direktere und potenziell revolutionäre Bedrohung ihrer Interessen. In Frankreich reagierte die Bourgeoisie auf das Gespenst der sozialistischen Revolution, indem sie im Juni 1848 in Paris ein Massaker veranstaltete [11]. In Deutschland verabschiedete sich die Bourgeoisie von ihrem eigenen demokratischen Programm und schloss gegen den Willen des Volkes ein Abkommen mit der alten Aristokratie, das deren autokratische Herrschaft weitgehend unberührt ließ.

Das Kommunistische Manifest sagte den unüberbrückbaren Konflikt zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse voraus. Die Revolutionen von 1848 bestätigten diese Analyse von Marx und Engels. In ihren damaligen Schriften, in denen sie den Gang der Ereignisse in Frankreich, Deutschland und anderen Teilen Europas kommentierten, deckten Marx und Engels die sozioökonomische und politische Logik auf, die die Bourgeoisie ins Lager der Reaktion trieb und die Vertreter der demokratischen Mittelklasse vor der Offensive der aristokratischen und bourgeoisen Reaktion feige kapitulieren ließ. Es war die erste praktische Anwendung der historisch-materialistischen Methode.

Die Revolutionen von 1848 brachten keinen Robespierre, Danton oder Marat aus den Reihen des radikalen Kleinbürgertums oder gar der Bourgeoisie hervor. Die unrühmliche Rolle der demokratischen Vertreter des Bürgertums und Kleinbürgertums verstanden Marx und Engels als politischen Ausdruck der tief greifenden Veränderungen, die sich in den gesellschaftlichen Strukturen Westeuropas seit den Tagen des jakobinischen Terrors vollzogen hatten, der nunmehr ein halbes Jahrhundert zurücklag. Sie analysierten diese Veränderungen und zogen daraus weitreichende Schlüsse, die fünfzig Jahre später die Diskussionen über den Charakter der russischen Revolution beeinflussen sollten. In ihrer Analyse führten sie einen Ausdruck ein, "die Revolution in Permanenz", dessen Gebrauch sich durch das Zwanzigste Jahrhundert ziehen sollte - besonders in den Schriften Leo Trotzkis.

Im März 1850 legten Marx und Engels der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten einen Bericht vor, in dem sie die wichtigsten strategischen Lehren aus den revolutionären Kämpfen von 1848/49 zusammenfassten. Zu Beginn zeigten sie auf, dass die Bourgeoisie die Staatsmacht, die ihr durch die Aufstände von Arbeitern und Volksmassen in den Schoß gefallen war, gegen eben diese Kräfte einsetzte. Sie war sogar dazu bereit, die Macht mit den Repräsentanten der alten Autokratie zu teilen oder sie ihnen ganz zurückzugeben, um nur ihre Stellung gegen die drohende soziale Revolution von unten zu sichern.

Nachdem die Vertreter der Großbourgeoisie sich entschieden nach rechts gewandt hatten, warnten Marx und Engels die Arbeiterklasse, sie könne dasselbe von den Repräsentanten des demokratischen Kleinbürgertums erwarten. Sie betonten die grundlegenden Unterschiede in der gesellschaftlichen Stellung und den sozialen Interessen, die zwischen dem demokratischen Kleinbürgertum und der Arbeiterklasse existierten.

"Die demokratischen Kleinbürger, weit entfernt, für die revolutionären Proletarier die ganze Gesellschaft umwälzen zu wollen, erstreben eine Änderung der gesellschaftlichen Zustände, wodurch ihnen die bestehende Gesellschaft möglichst erträglich und bequem gemacht wird. [...]

Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch und unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Abschlusse bringen wollen, ist es unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die Assoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschenden Ländern der ganzen Welt so weit vorgeschritten ist, dass die Konkurrenz der Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entscheidenden produktiven Kräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind. Es kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen." [12]

Marx und Engels betonten, wie wichtig es für die Arbeiterklasse sei, sich ihre politische Unabhängigkeit von den Vertretern des demokratischen Kleinbürgertums zu erhalten, und dass sie sich nicht durch deren verführerische Rhetorik auf den falschen Weg bringen lassen dürfe:

"Im gegenwärtigen Augenblicke, wo die demokratischen Kleinbürger überall unterdrückt sind, predigen sie dem Proletariat im allgemeinen Einigung und Versöhnung, sie bieten ihm die Hand und streben nach der Herstellung einer großen Oppositionspartei, die alle Schattierungen in der demokratischen Partei umfasst, das heißt, sie streben danach, die Arbeiter in eine Parteiorganisation zu verwickeln, in der die allgemein sozial-demokratischen Phrasen vorherrschend sind, hinter welchen ihre besonderen Interessen sich verstecken und in der die bestimmten Forderungen des Proletariats um des liebe Friedens willen nicht vorgebracht werden dürfen. Eine solche Vereinigung würde allein zu ihrem Vorteile und ganz zum Nachteile des Proletariats ausfallen. Das Proletariat würde seine ganze selbständige, mühsam erkaufte Stellung verlieren und wieder zum Anhängsel der offiziellen bürgerlichen Demokratie herabsinken. Diese Vereinigung muss also auf das entschiedenste zurückgewiesen werden." [13]

Noch heute, 155 Jahre danach, sind diese Worte von außerordentlicher politischer Bedeutung. Was ist die Demokratische Partei in den Vereinigten Staaten, was sind die Grünen anderes als das politische Mittel, um die Arbeiterklasse mit Unterstützung der liberalen und reformgesonnenen Mittelklasse den Interessen der kapitalistischen Elite unterzuordnen? Selbst in Hinblick auf die Wahltaktik der Arbeiterpartei zeigten Marx und Engels außergewöhnliche politische Voraussicht:

"Selbst da, wo gar keine Aussicht zu ihrer Durchführung vorhanden ist, müssen die Arbeiter ihre eigenen Kandidaten aufstellen, um ihre Selbständigkeit zu bewahren, ihre Kräfte zu zählen, ihre revolutionäre Stellung und Parteistandpunkte vor die Öffentlichkeit zu bringen. Sie dürfen sich hierbei nicht durch die Redensarten der Demokraten bestechen lassen, wie z.B., dadurch spalte man die demokratische Partei und gebe der Reaktion die Möglichkeit zum Siege. Bei allen solchen Phrasen kommt es schließlich darauf hinaus, dass das Proletariat geprellt werden soll." [14]

Marx und Engels schlossen ihren Bericht, indem sie betonten, die Arbeiter selbst müssten "das meiste zu ihrem endlichen Siege dadurch tun, dass sie sich über ihre Klasseninteressen aufklären, ihre selbständige Parteistellung sobald wie möglich einnehmen, sich durch die heuchlerischen Phrasen der demokratischen Kleinbürger keinen Augenblick an der unabhängigen Organisation der Partei des Proletariats irremachen lassen. Ihr Schlachtruf muss sein: Die Revolution in Permanenz." [15]

In diesem außergewöhnlichen Dokument sind die prinzipiellen strategischen und taktischen Fragen vorweggenommen, vor denen die internationale sozialistische Bewegung während des folgenden Jahrhunderts, ja bis hin zu unserer heutigen Zeit stehen sollte: Das Verhältnis zwischen Bourgeoisie, Kleinbürgertum und Arbeiterklasse; die Einstellung der Arbeiterklasse zu den kleinbürgerlich-demokratischen Parteien; die Bedeutung des Kampfes für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse; der essentiell internationale Charakter der sozialistischen Revolution und das auf universelle Befreiung ausgerichtete Programm des Sozialismus, d.h. die Abschaffung aller Arten von Klassenunterdrückung.

Doch in einem noch tieferen Sinne markiert dieses Dokument ein neues Stadium in der Entwicklung der Menschheit. Wie durch das Auftreten des homo sapiens sapiens die Natur als Ganze das Bewusstsein von sich selbst erlangte, so erreichte mit dem Aufkommen des Marxismus die Menschheit ihr historisches Selbstbewusstsein, und das im tiefsten Sinne des Wortes. Die Gestaltung der Geschichte durch die Menschen, die bewusste Umgestaltung der eigenen gesellschaftlichen Existenzbedingungen, wird hiermit zu einer programmatischen Frage. Nun, da der Mensch wissenschaftliche Einsicht in die Gesetze seiner eigenen ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung gewonnen hat, ist er fähig, sich in Gedanken ein realistisches Bild der Zukunft auszumalen und vorherzusehen. Er kann nun sein eigenes Handeln an dieses Bild anpassen, je nach den Erfordernissen der objektiven Umstände, und diese Zukunft realisieren.

Wird fortgesetzt.

Anmerkungen:

[11] In den Schriften Alexander Herzens findet sich eine brillante Beschreibung der Reaktion von Seiten der liberalen Bourgeoisie auf das Aufkommen der Arbeiterklasse als politische Kraft im Jahr 1848: "Seit der Restauration hatten die Liberalen aller Länder zum Sturz der monarchistisch-feudalen Ordnung aufgerufen im Namen der Gleichheit, im Namen der Tränen des Unglücklichen, der Leiden des Bedrängten, des Hungers des Unbemittelten; sie hatten sich gefreut, wenn sie Minister, von denen sie schwer zu Erfüllendes verlangten, zu Tode gehetzt hatten, hatten sich gefreut, als eine Stütze des Feudalismus nach der anderen fiel, und hatten sich schließlich so weit hinreißen lassen, dass sie über die eigenen Wünsche hinausgingen. Sie kamen wieder zu sich, als hinter den halb niedergerissenen Mauern - nicht in Büchern, nicht im parlamentarischen Geschwätz, nicht in philanthropischen schönen Reden, sondern in seiner ganzen Wirklichkeit - der Proletarier hervortrat, der Arbeiter mit der Axt und mit geschwärzten Händen, hungrig und kaum mit Lumpen bedeckt. Dieser ‚unglückliche, bei der Erbteilung vergessene Bruder’, über den sie so viel geredet, den sie so bedauert hatten, fragte schließlich, wo denn sein Anteil an allen Gütern sei, worin seine Freiheit, seine Gleichheit, seine Brüderlichkeit bestünde. Die Liberalen waren verwundert über die Dreistigkeit und die Undankbarkeit des Arbeiters, nahmen im Sturm die Straßen von Paris, bedeckten sie mit Leichen und versteckten sich vor dem Bruder hinter den Bajonetten des Belagerungszustandes, um die Zivilisation und die Ordnung zu retten." (Herzen, Vom anderen Ufer, München 1969, S. 95f.)

[12] Marx/Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, in: MEW Bd. 7, S. 247f.

[13] Ebenda, S. 248.

[14] Ebenda, S. 251.

[15] Ebenda., S. 254.

Siehe auch:
Vierter Vortrag - Teil 1
(7. Oktober 2005)
Vierter Vortrag - Teil 2
( 8. Oktober 2005)
Weitere Vorträge der WSWS/SEP Sommerschule
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