Konflikt über Beitrittsverhandlungen mit Türkei zeigt Krise der EU

Die Beitrittsverhandlungen über eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union haben letzte Woche, am 3. Oktober, nunmehr offiziell begonnen. Das diplomatische Tauziehen, das vorausgegangen war, und die Implikationen eines Türkeibeitritts selbst zeigen mit aller Deutlichkeit, dass die EU weder eine Vereinigung Europas, noch ein soziales und demokratisches Projekt ist.

Es war buchstäblich bis zur letzten Minute unklar, ob die Beitrittsverhandlungen aufgenommen würden. Das obwohl die Türkei eigentlich alle Kriterien zwar nicht "vollständig" - dies ist erst für eine Vollmitgliedschaft erforderlich -, aber doch für einen Verhandlungsbeginn "hinreichend" erfüllt hatte.

Hauptstreitpunkt war zuletzt noch die Unterzeichnung und Umsetzung des "Ankara-Protokolls" gewesen, mit dem die Zollunion mit der EU auch auf alle neuen Mitglieder angewandt wird. Zu diesen gehört auch das geteilte Zypern, das von der Türkei nicht diplomatisch anerkannt wird. Ankara erkennt nur die von ihr abhängige "Türkische Republik Nordzypern" an und hat das Protokoll mit dem ausdrücklichen Vorbehalt unterzeichnet, dies bedeute keine diplomatische Anerkennung. Diese könne erst nach einer politischen Lösung des Konflikts erfolgen. Ein von der UNO dazu vorgelegter Plan war letztes Jahr von der Türkei und den türkischen Zyprioten akzeptiert worden, jedoch an einer Volksabstimmung im griechischen Südzypern gescheitert.

Die türkische Regierung weigert sich bisher trotz Unterzeichnung des Protokolls, auch die Häfen und Flughäfen des Landes für Zypern zu öffnen. Sie fordert, die EU solle zuerst ihr Handelsembargo gegen Nordzypern beenden und die versprochenen Finanzhilfen für den türkischen Inselteil freigeben. Das Protokoll ist noch nicht vom türkischen Parlament ratifiziert. Seine Umsetzung und eine diplomatische Anerkennung Zyperns durch Ankara sollen nun im Verlauf des Beitrittsprozesses erfolgen.

Nach den gefundenen Kompromissen blockierte in letzter Minute nicht etwa Zypern oder Griechenland, sondern Österreich die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen. Bundeskanzler Wolfgang Schüssel von der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) bestand auf einmal darauf, die Mitgliedschaft als Verhandlungsziel aus dem Verhandlungsrahmen zu streichen und dafür die so genannte "privilegierte Partnerschaft" aufzunehmen. In der Türkei wurde dies mit umso größerer Erbitterung aufgenommen, als dieselbe österreichische Regierung alle Beschlüsse zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Juli und letzten Dezember mitgetragen hatte.

Rechte Kreise in der Türkei nutzten die Situation, um nationalistische Stimmungen zu schüren. So brachte es die faschistische MHP seit langer Zeit am Wochenende vor dem 3. Oktober sogar wieder fertig, eine Demonstration mit über 50.000 Teilnehmern zu organisieren. Oppositionsparteien und viele bekannte Medienkommentaren forderten einen Abbruch der Beziehungen mit der EU, von der man sich lange genug an der Nase habe herumführen lassen. Gleichzeitig liefen zwischen der Türkei, der britischen Ratspräsidentschaft und der Regierung in Wien die Telefone heiß. Auf Bitten Ankaras schaltete sich auch die US-Regierung ein, der das türkische Außenministerium später ausdrücklich für ihre Unterstützung dankte - eine Ohrfeige für die Europäer.

Die österreichische Regierung stand mit ihrer Haltung aber keineswegs allein da. Sie erhielt Unterstützung von konservativen Zeitungen, Kirchenführern und Politikern in ganz Europa, insbesondere Deutschland und Frankreich. Neben einer von unverhohlenem Chauvinismus gespeisten Verteidigung der "Identität des christlichen Abendlandes" führten Gegner des türkischen Beitritts an, eine Aufnahme der Türkei mit ihren 70 Millionen Einwohnern, von denen fast 40 Prozent in der, großenteils sehr rückständigen Landwirtschaft tätig sind, würde die EU finanziell überfordern.

Allein um die schlimmsten Mängel in der Landwirtschaft und der Infrastruktur zu beheben, müsste Brüssel nach Schätzungen der Dresdner Bank fast 14 Milliarden Euro pro Jahr nach Ankara überweisen - unmittelbar nach einer Vollmitgliedschaft. In den darauf folgenden Jahren könnte dieser Betrag nach dem bisherigen System der Beihilfen auf 22-28 Milliarden jährlich steigen. Zum Vergleich: Für alle zehn neuen Mitglieder hat die EU in ihrem Haushaltsplan 2004 bis 2006 nur Hilfen von insgesamt 40 Milliarden Euro vorgesehen. Und das EU-Budget von 2007 bis 2013 ist bereits jetzt heftig umstritten.

Wien lenkte zwar letztlich ein und verzichtete auf die Aufnahme des Begriffs der "privilegierten Partnerschaft". Auf Drängen Österreichs heißt es aber nun im ersten Paragrafen des Verhandlungsmandates: "Das gemeinsame Ziel der Verhandlungen ist der Beitritt. Diese Verhandlungen sind ein offener Prozess, dessen Ausgang nicht im Vorhinein garantiert werden kann. Dieser Prozess wird alle Kopenhagener Kriterien einbeziehen, inklusive die Aufnahmekapazität der Union."

Außerdem ist festgelegt, dass die Lasten neuer EU-Erweiterungen "fair" von allen Mitgliedern getragen werden sollen. Dies richtet sich insbesondere gegen den so genannten "Briten-Rabatt" für das Vereinigte Königreich. Die Implikationen sind klar: Entweder wird die Türkei als Preis eines Beitritts umfassende Ausnahmen akzeptieren und auf Agrar- und Strukturbeihilfen weitgehend verzichten müssen. Oder das Land wird benutzt, um das bisherige System der EU-Beihilfen ganz oder erheblich abzuschaffen. Wahrscheinlich wird beides stattfinden. Mehrere EU-Mitgliedsländer haben bereits deutlich gemacht, dass sie einer jährlichen Mehrbelastung in Milliardenhöhe nicht zustimmen werden, nur um die türkische Landwirtschaft zu subventionieren.

Es bleibt die Frage, warum ausgerechnet Österreich in letzter Minute erst so vehement seinen Kurs änderte und dann ebenso plötzlich wieder einknickte. Viele Beobachter vermuteten, es sei Schüssel in Wirklichkeit um etwas ganz anderes gegangen. Die EU hatte im März die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien ausgesetzt, weil Zagreb immer noch nicht mit dem UNO-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zusammenarbeitet. Deren Chefanklägerin Carla del Ponte hatte immer wieder moniert, die kroatische Regierung weigere sich, den Ex-General Ante Gotovina auszuliefern, der für die Ermordung und Vertreibung zahlreicher Serben während des Jugoslawienkrieges verantwortlich gemacht wird.

Zuletzt äußerte sie sich am 1. Oktober "enttäuscht", dass Gotovina immer noch in Freiheit sei. Innerhalb von drei Tagen vollzog del Ponte dann eine Kehrtwendung und behauptete plötzlich, Kroatien kooperiere "seit einigen Wochen vollständig" mit dem Kriegsverbrechertribunal. Sie beteuerte gleichzeitig, sie habe sich nicht unter Druck setzen lassen. Gotovina, der sich immer noch in Freiheit befindet, ließ wenig später über seinen Anwalt verkünden, er habe nicht die Absicht, sich Den Haag zu stellen.

Die österreichische Regierung hat sich massiv für Kroatien und gegen die Türkei eingesetzt. Unterstützt wurde sie dabei von der bayrischen CSU. Ebenso wie Wolfgang Schüssel ist der rechtskonservative kroatische Regierungschef Ivo Sanander regelmäßig Ehrengast bei den Parteitagen der CSU. Sanander, dessen Partei unter dem verstorbenen Franjo Tudjman den Jugoslawienkrieg auf kroatischer Seite geführt und dabei hunderttausende Serben vertrieben und viele ermordet hatte, gilt als enger Freund von CSU-Chef Edmund Stoiber und hat im österreichischen Innsbruck studiert.

Die konservative österreichische Presse kommentierte zufrieden: "Auch der,Deal’, der am Ende konkret herausgeschaut hat, ist im Interesse Österreichs: Die Positionierung als Anwalt Kroatiens und damit der europäischen Perspektive Südosteuropas stärkt die Rolle Österreichs in der Region und dient als perfekte Vorbereitung der Westbalkan-Initiative, die Österreich für seine Präsidentschaft [2006] plant. Was im EU-Zusammenhang gilt, gilt noch stärker für das bilaterale Gewicht Österreichs in der Region. Und das sollte die massiven wirtschaftlichen Interessen, die österreichische Unternehmen in Südosteuropa haben, merklich unterstützen."

Ähnlich äußerte sich die ebenfalls konservative deutsche Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Wiener Kurier erläutert dazu: "Bei einem Treffen der EU-Außenminister am 10. und 11. März 2006 in Salzburg will Gastgeberin Ursula Plassnik die jungen Republiken nach Europa lotsen. ‚Das ist ein wichtiges Signal. Die Probleme am Balkan sind bei Weitem noch nicht gelöst’, sagt der ehemalige Vizekanzler der ÖVP Erhard Busek. Der Koordinator des Stabilitätspaktes für Südosteuropa hat hohe Erwartungen an Österreichs Vorsitz.,Es wäre wichtig, die diversen Hilfsprogramme der EU besser zu koordinieren.’ Mit Nachdruck gehöre auch die Korruption bekämpft."

Hinter diesen Plänen einer "Westbalkan-Initiative" verbergen sich massive wirtschaftliche Interessen. Nach eine Studie des Wiener Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) hat dem Stern zufolge Österreich in den vergangenen Jahren 18,6 Milliarden Euro in den Mittelosteuropäischen Ländern investiert, davon 14,1 Milliarden in den acht neuen EU-Ländern. Mit einem Anteil von 15 Prozent ist das Alpenland, das kleiner ist als Bayern, hier einer der größten Einzel-Investoren. Für die acht neuen EU-Länder liegt der Investitionsanteil gar bei 23,2 Prozent (30 Prozent in Slowenien). 1998 hatte der Anteil an den Investitionen gerade einmal 3,1 Prozent betragen.

In Kroatien ist Österreich größter Investor. Das "Übergangs-Sekretariat für die Energiegemeinschaft" [interim Energy Community Secretariat] (iECS) soll für einen einheitlichen Markt im Bereich der Energieversorgung in Südosteuropa sorgen. Wichtigste Ziele sind Aufbau einer alternativen Gasversorgung der EU über die Route der Türkei sowie der Ausbau der Gasnetzversorgung in der Region - natürlich unter Federführung von Stromkonzernen wie RWE, Eon, dem Kärntner Kelag-Konzern und anderen. Das Sekretariat mit Sitz in Wien wird vom österreichischen Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) geleitet und von der Europäischen Kommission finanziert.

Österreich spielt dabei auch den Vorreiter für deutsche Interessen. Eine Studie der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik urteilt: "Langfristig kann Südosteuropa durchaus als perspektivische Entwicklungsregion mit hohem Aufholpotential gesehen werden, vor allem im Vergleich zu seinem bereits Ende der 80er Jahre erreichten Entwicklungsstand. Der Westliche Balkan hat 24,7 Millionen Einwohner mit zurückgestauten Konsumbedürfnissen und relativ hohem Bildungsstand. Zählt man noch Bulgarien und Rumänien zur erweiterten Südost-Region hinzu, ergibt dies immerhin insgesamt knapp 56 Millionen Konsumenten. Die verspätete, zurückgestaute Modernisierung der veralteten Industrie benötigt für den Aufholprozess dringend Investitionsgüter, die vor allem die deutsche Maschinenbauindustrie zu liefern imstande ist."

Hinzu komme die "Brückenfunktion in Richtung Türkei und Nahost". Probleme sieht die Studie allerdings im Bereich "Rechtsunsicherheit und Korruption", ferner "verschleppte Wirtschaftsreformen, vor allem im Bereich der maroden Mittel- und Großbetriebe, die sich größtenteils noch in staatlichem Eigentum befinden." Und drittens "bürokratische Hindernisse und Vorschriften", die "Investoren abschrecken müssen". Ein exemplarisches Beispiel sei die kroatische Arbeitsgesetzgebung mit ihrem starken Schutz für dauerhaft Beschäftigte.

Die Aufnahme einzelner Länder wie Kroatien, in dem Warlords wie Ante Gotovina gerade wegen seiner mutmaßlichen Verbrechen gegen die Serben in nationalistischen Kreisen den Status von Helden genießen, würde Serbien und andere weiter politisch und wirtschaftlich isolieren und die Konflikte auf dem Balkan stärker anfachen.

Dass Österreich in der Lage war, trotz eindeutiger Beschlüsse fast zwei Dutzend weitere EU-Mitglieder zugunsten seines kroatischen Schützlings zu erpressen, zeigt die Schwäche und Uneinigkeit Europas. Die Befürworter eines Türkei-Beitritts wie Deutschland unterscheiden sich dabei wenig von Wien. Im Gegenteil, während die österreichische Regierung Kroatien als Vorposten zur Kontrolle über den Balkan sieht, sehen die Paten der Türkei in Berlin und Washington die Türkei als Vorposten zur Kontrolle über den Nahen Osten, Kaukasus und Zentralasien. Um Menschenrechte und wirtschaftliche Entwicklung geht es hier wie dort nicht.

Siehe auch:
EU beschließt Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
(18. Dezember 2004)
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