Sozialismus in einem Land oder Permanente Revolution

Teil 2

Dies ist der zweite Teil des Vortrags "Sozialismus in einem Land oder Permanente Revolution" von Bill Van Auken. Van Auken ist Mitglied der WSWS-Redaktion und hielt seinen Vortrag im Rahmen der Sommerschule der Socialist Equality Party/WSWS, die vom 14. bis 20. August in Ann Arbor stattfand. Wir veröffentlichen den Vortrag als dreiteilige Serie

Die Kampagne gegen die permanente Revolution

Die 1924 von Bucharin und Stalin entwickelte Behauptung, der Sozialismus könne in der Sowjetunion auf der Grundlage nationaler Reserven und unabhängig vom Schicksal der internationalen sozialistischen Revolution aufgebaut werden, stellte eine grundlegende Revision der Perspektiven dar, die die sowjetische Führung und die Kommunistische Internationale unter Lenin geleitet hatten. Dieses Loslösen der sowjetischen Zukunftsaussichten von der Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution stellte einen direkten Angriff auf die Theorie der permanenten Revolution dar, auf die sich auch die Russische Revolution von 1917 gestützt hatte.

Trotzki schrieb in Die Permanente Revolution : "Die Theorie des Sozialismus in einem Lande, die auf der Hefe der Reaktion gegen den Oktober hochgegangen ist, ist die einzige Theorie, die folgerichtig und restlos im Gegensatz steht zu der Theorie der permanenten Revolution." [5]

Was meinte er damit? Die Theorie der permanenten Revolution hatte ihren Ursprung in einer internationalen revolutionären Perspektive; Sozialismus in einem Land hingegen war ein utopistisches und reformistisches Rezept für einen nationalen Sozialismus.

Die permanente Revolution sah die Weltwirtschaft und Weltrevolution als Ausgangspunkt des Sozialismus. Sozialismus in einem Land aber verstand den Sozialismus als nationale Entwicklung.

Diese Fragen standen im Mittelpunkt von Trotzkis Kritik am Programmentwurf der Kommunistischen Internationale 1928, die in dem Buch Die dritte Internationale nach Lenin enthalten ist . Ich möchte Passagen aus dieser Kritik ausführlicher zitieren, die die Grundlagen einer marxistischen Herangehensweise zur Ausarbeitung der Perspektiven genauer erklären. Die unvergängliche Brillanz dieser Analyse tritt heute noch deutlicher hervor - angesichts der immer umfassenderen globalen Integration des Kapitalismus, der wir bei der Entwicklung der IK-Perspektiven so viel Aufmerksamkeit geschenkt haben.

"In unserer Epoche", schrieb Trotzki, "welche die Epoche des Imperialismus, d.h. der Welt wirtschaft und der Welt politik unter der Herrschaft des Finanzkapitals ist, vermag keine einzige Kommunistische Partei ihr Programm lediglich oder vorwiegend aus den Bedingungen und Entwicklungstendenzen ihre eigenen Landes abzuleiten. Dasselbe gilt in vollem Umfang auch für die Partei, die innerhalb der UdSSR die Staatsmacht ausübt. Am 14. August 1914 hatte den nationalen Programmen unwiderruflich die letzte Stunde geschlagen. Die revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches dem Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des Höhepunkts und Zusammenbruchs des Kapitalismus entspricht. Ein internationales kommunistisches Programm ist auf keinen Fall eine Summe nationaler Programme oder eine Zusammenstellung deren gemeinsamer Züge. Ein internationales Programm muß unmittelbar aus der Analyse der Bedingungen und Tendenzen der Weltwirtschaft und des politischen Weltsystems als Ganzem hervorgehen, mit all ihren Verbindungen und Widersprüchen, d.h. mit der gegenseitigen antagonistischen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile. In der gegenwärtigen Epoche muß und kann die nationale Orientierung des Proletariats in noch viel größerem Maße als in der vergangenen nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt. Darin besteht der grundlegende und ursächliche Unterschied zwischen der Kommunistischen Internationale und allen Abarten des nationalen Sozialismus." [6]

Er fährt fort: "Die Weltwirtschaft ist eine mächtige Realität geworden, welche das wirtschaftliche Leben der einzelnen Länder und Kontinente beherrscht. Sie verbindet Länder und Kontinente, die auf verschiedenen Stufen der Entwicklung stehen, zu einem System wechselseitiger Abhängigkeit und Gegensätzlichkeit. Sie gleicht ihre unterschiedlichen Entwicklungsstufen einander an und verschärft zur selben Zeit umgehend ihre Unterschiede, stellt unerbittlich ein Land dem anderen entgegen. Schon allein diese grundlegende Tatsache verleiht der Idee der kommunistische Weltpartei einen sehr realen Charakter." [7]

Vor Lenins Tode im Jahre 1924 hatte niemand in der Führung der Kommunistischen Partei, weder in der Sowjetunion noch international, jemals vorgeschlagen, dass eine autarke sozialistische Gesellschaft auf sowjetischem Boden oder irgendwo anders errichtet werden könnte.

Zwar resümierte Stalin im April desselben Jahres in "Über die Grundlagen des Leninismus" Lenins Ansichten über den Aufbau des Sozialismus noch richtig in folgendem Absatz:

"Zum Sturz der Bourgeoisie genügt die Anstrengung eines einzelnen Landes. Das zeigt die Geschichte unserer Revolution. Zum endgültigen Sieg des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion genügen die Anstrengungen eines einzelnen Landes, zumal eines Bauernlandes wie Rußland nicht. Dazu sind die Anstrengungen der Proletarier einiger fortgeschritteneer Länder notwendig." [8]

Vor Jahresende wurde Stalins "Über die Grundlagen des Leninismus" allerdings in veränderter Fassung neu aufgelegt. Die gerade zitierte Passage wurde durch ihr Gegenteil ersetzt. Das Proletariat "kann und muß die sozialistische Gesellschaft aufbauen", war nun zu lesen, gefolgt von der gleichen Beteuerung, dies stelle die "Leninsche Theorie der proletarischen Revolution" dar. [9]

Diese krasse und abrupte Änderung der Perspektive widerspiegelte das wachsende soziale Gewicht der Bürokratie, die sich ihrer besonderen sozialen Interessen bewusst wurde, die sie mit einem konstanten Wachstum der nationalen Wirtschaft verband.

Ferner stieß der Ruf nach "Sozialismus in einem Land" auf Widerhall bei einer erschöpften sowjetischen Arbeiterklasse, die ihre fortschrittlichsten Elemente entweder im Bürgerkrieg geopfert oder in den Staatsapparat integriert hatte. Die katastrophalen Folgen des Versagens der Kommunistischen Partei in Deutschland während der revolutionären Krise von 1923 zerschmetterten außerdem die Hoffnung auf eine baldige Erlösung durch die Weltrevolution, und linke sowjetische Arbeiter wurden empfänglich gegenüber den Versprechungen einer nationalen Lösung.

Wie Trotzki in seiner Kritik des Programmentwurfs für den sechsten Kongress der Kommunistischen Internationale und in anderen Schriften herausarbeitet, bedeutet die Theorie des "Sozialismus in einem Land" einen direkten Angriff auf das Programm der sozialistischen Weltrevolution.

Wenn es tatsächlich der Fall wäre, erklärte Trotzki, dass der Sozialismus in Russland unabhängig von der Entwicklung der sozialistischen Revolution im Rest der Welt vollendet werden könne, dann würde die Sowjetunion von einer revolutionär internationalistischen Politik zu einer rein defensiven umschwenken.

Die unvermeidliche Logik dieser Veränderung, war die Umwandlung der Sektionen der Kommunistischen Internationale in Grenzhüter - Instrumente einer sowjetischen Außenpolitik, die sich zum Ziel gesetzt hatte, einen imperialistischen Angriff auf die UdSSR mit diplomatischen Mittel zu verhindern, indem sie den globalen Status Quo aufrechterhielt. Letztlich bedeutete diese Politik eine Unterordnung der Interessen der internationalen Arbeiterklasse unter die Interessen und Privilegien der stalinistischen Bürokratie.

Wie Trotzki 1928 prophetisch warnte, führt die These, der Sozialismus könne, solange eine fremde Aggression ausbliebe, allein in Russland aufgebaut werden, unweigerlich zu einer Politik der Zusammenarbeit mit der ausländischen Bourgeoisie, um eine Intervention zu verhindern.

Diese fundamentale Veränderung in der strategischen Achse des Parteiprogramms wurde von einer umfassenden Neubesetzung der Führung sowohl in der Komintern als auch in den nationalen Sektionen begleitet. Durch eine Reihe von Säuberungsaktionen, Ausschlüssen und politischen Coups schuf sich die Moskauer Bürokratie einen Mitarbeiterstab, der darin geübt war, eher die Verteidigung des sowjetischen Staates als die sozialistische Weltrevolution zu strategischen Achse zu machen.

Die UdSSR und die Weltwirtschaft

Die Differenzen über die Beziehung zwischen der Russischen Revolution und der Weltrevolution sind untrennbar mit den Konflikten verbunden, die schon zuvor in der Partei über ökonomische Fragen innerhalb der Sowjetunion selbst geführt wurden.

Die Führung unter Stalin passte sich pragmatisch an das zu dem Zeitpunkt gegebene Wachstum an, das durch die Neue Ökonomische Politik erzeugt worden war, und unterstütze die Aufrechterhaltung des Status Quo auch innerhalb der sowjetischen Grenzen, indem sie die Konzessionen an Bauern und private Händler fortführte und erweiterte.

Trotzki und die Linke Opposition hatten einen detaillierten Antrag zur Entwicklung der Schwerindustrie vorgelegt. Sie warnten, ohne ein Wachstum des industriellen Sektors bestehe eine ernste Gefahr, dass das Anwachsen kapitalistischer Beziehungen auf dem Lande die Grundlagen des Sozialismus untergraben könnte.

Vor allem wies Trotzki das Argument zurück, das zusammen mit der Theorie des "Sozialismus in einem Land" entwickelt worden war, dass nämlich die ökonomische Entwicklung der Sowjetunion irgendwie getrennt von der Weltwirtschaft und dem weltweiten Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus vonstatten gehen könnte.

Bucharin hatte erklärt, dass man den Sozialismus zur Not im Schneckentempo aufbauen könne, während Stalin betonte, es sei nicht erforderlich, internationale Faktoren in die sozialistische Entwicklung einzubeziehen.

In der falschen stalinistischen Auffassung, die einzige Bedrohung des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion stelle eine Militärintervention dar, zeigt sich eine Ignoranz gegenüber dem enormen Druck, den der kapitalistische Markt auf die UdSSR ausübte.

Um diesem Druck zu entgehen, führte der Sowjetstaat das Außenhandelsmonopol ein. Das Monopol war zwar ein unverzichtbares Mittel zur Verteidigung der Sowjetwirtschaft, drückte aber nichtsdestotrotz die Abhängigkeit der Sowjetunion vom Weltmarkt und ihre relativen Schwäche gegenüber den großen kapitalistischen Mächten in Bezug auf die Arbeitsproduktivität aus. Es linderte zwar den Druck billiger Waren aus dem Westen, doch das Monopol konnte ihn dadurch noch lange nicht beseitigen.

Trotzki kämpfte für ein schnelleres Tempo industriellen Wachstums, um diesem Druck zu begegnen, und gleichzeitig lehnte er die Konzeption einer wirtschaftlichen Autarkie strikt ab. Die Entwicklung einer rein nationalen Planung, die der Beziehung zwischen der Sowjetwirtschaft und dem Weltmarkt keine Rechnung trug, war zum Scheitern verurteilt. Er bestand darauf, dass die UdSSR die internationale Arbeitsteilung zu ihrem Vorteil nutzen und Zugang zu der Technologie und den ökonomischen Ressourcen der entwickelten kapitalistischen Länder erhalten müsse, um ihre eigene Wirtschaft aufzubauen und zu stärken.

Der Versuch eine autarke "sozialistische" Wirtschaft zu entwickeln, die auf den Ressourcen des rückständigen Russland basierte, war nicht bloß wegen der Rückständigkeit Russlands zum Scheitern verurteilt, sondern auch weil dies einen Rückschritt gegenüber der vom Kapitalismus bereits entwickelten Weltwirtschaft darstellte. 1930 schrieb Trotzki in der Einleitung zur deutschen Auflage der Permanenten Revolution :

"Der Marxismus geht von der Weltwirtschaft aus nicht als einer Summe nationaler Teile, sondern als einer gewaltigen, selbständigen Realität, die durch internationale Arbeitsteilung und den Weltmarkt geschaffen wurde und in der gegenwärtigen Epoche über die nationalen Märkte herrscht. Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sind längst über die nationalen Grenzen hinausgewachsen. Der imperialistische Krieg war eine der Äußerungen dieser Tatsache. Die sozialistische Gesellschaft muß in produktionstechnischer Hinsicht im Vergleich zu der kapitalistischen Gesellschaft ein höheres Stadium darstellen. Sich das Ziel zu stecken, eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufzubauen, bedeutet, trotz aller vorübergehenden Erfolge, die Produktivkräfte, sogar im Vergleich zum Kapitalismus, zurückzerren zu wollen. Der Versuch, unabhängig von den geographischen, kulturellen und historischen Bedingungen der Entwicklung des Landes, das einen Teil der Weltgesamtheit darstellt, eine in sich selbst abgeschlossene Proportionalität aller Wirtschaftszweige in nationalem Rahmen zu verwirklichen, bedeutet, einer reaktionären Utopie nachzujagen." [10]

Der Kampf der stalinistischen Führung zur Durchsetzung der Ideologie vom "Sozialismus in einem Land" nahm unweigerlich die Form eines bösartigen Kampfes gegen den "Trotzkismus" und insbesondere die Theorie der permanenten Revolution an.

In seiner Autobiografie "Mein Leben" erklärte Trotzki die politische Psychologie von dem, was er "die durch und durch philisterhafte, unwissende und einfach dumme Hetze gegen die Theorie der permanenten Revolution" nennt:

"Bei einer Flasche Wein oder auf dem Heimweg vom Ballett sprach ein selbstzufriedener Bürokrat zu dem anderen: ‚Der hat immer nur die permanente Revolution im Kopfe.’ Eng damit verbunden sind die Anschuldigungen wegen meiner Ungeselligkeit, wegen meines Individualismus, Aristokratismus und so weiter. ‚Aber doch nicht immer und nicht alles nur für die Revolution, man muß auch an sich denken’ - diese Stimmung wurde übersetzt mit: ‚Nieder mit der permanenten Revolution’ Der Widerstand gegen die theoretischen Ansprüche des Marxismus und die politischen Ansprüche der Revolution nahm für diese Menschen allmählich die Form des Kampfes gegen den ‚Trotzkismus’ an. Unter dieser Flagge vollzog sich die Entfesselung des Kleinbürgers im Bolschewik." [11]

Wird fortgesetzt.

Anmerkungen:

[5] Leo Trotzki, Die Permanente Revolution, Essen 1993, S. 186.

[6] Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 24f.

[7] Ebd., S. 26.

[8] Josef Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus (Version vom April 1924), zit. nach: Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus, Frankfurt a.M. 1966, S. 224.

[9] Stalin, Über die Grundlagen des Leninismus (Version ab Dezember 1924), in: Werke, Bd. 6, Berlin 1952, S. 95f.

[10] Trotzki, Die Permanente Revolution, Vorwort zur dt. Ausgabe, a.a.O., S. 39.

[11] Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Frankfurt a.M. 1974, S. 434.

Siehe auch:
Sozialismus in einem Land oder Permanente Revolution - Teil 1
(26. November 2005)
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