Kampagne gegen "Sozialmissbrauch":

Ideologisches Vorspiel zum sozialen Kahlschlag

Wolfgang Clement (SPD) wird zwar in der nächsten Regierung nicht mehr vertreten sein. Doch mit einer gehässigen Kampagne gegen "Sozialmissbrauch" bereitet er seinem designierten Nachfolger an der Spitze des Arbeitsministeriums, dem soeben zurückgetretenen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering, das Feld für weitere Angriff auf Arbeitslose und Bedürftige.

Eine Broschüre, die Clements Ministerium unter dem Titel "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch,,Abzocke’ und Selbstbedienung im Sozialstaat" publizierte, hat öffentliches Aufsehen erregt. Empfänger von Arbeitslosengeld II werden darin als "Parasiten" und "Schmarotzer" beschimpft. Clement hat seither in öffentlichen Auftritten wie der Talkshow Sabine Christiansen deutlich gemacht, dass es sich dabei um keinen Ausrutscher, sondern um eine gezielt Kampagne handelt. Selbst die provokative Sprache der Broschüre, die an das Vokabular der Nazis erinnert, verteidigte er.

Das Ziel dieser Kampagne besteht darin, die Ausgaben für das Arbeitslosengeld II um Milliardenbeträge zu senken, nachdem diese wesentlich höher ausgefallen sind als von Clements Ministerium ursprünglich angegeben. Es soll ein Klima geschaffen werden, das es dem Staat ermöglicht, den Arbeiterfamilien die sozialen Probleme aufzubürden und durch Druck und Zwang die Billiglohnarbeit auszuweiten.

Die Propaganda wird mit einer Bösartigkeit betrieben, die an die Kampagne gegen "Asylmissbrauch" zu Beginn der 90er Jahre erinnert. Damals heizten Politiker und Medien die Stimmung gegen Flüchtlinge und Asylsuchende wochenlang gezielt an. Die Folge waren Pogrome und tödliche Brandanschläge gegen Ausländer in Rostock, Solingen und Mölln. Anschließend wurde das Grundrecht auf Asyl in einem "Asylkompromiss" von CDU/CSU und SPD weitgehend abgeschafft.

In einer ähnlich hysterischen Weise hetzen nun Boulevardpresse und andere Medien gegen angeblichen "Sozialbetrug" durch Arbeitslose. Und wie damals geht es darum, grundlegende Rechte abzuschaffen.

Die Menschenwürde ist "unantastbar", heißt es in Artikel 1 Grundgesetz, "sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". Artikel 19 schreibt fest, dass die Bundesrepublik ein "demokratischer und sozialer" Staat sei. Artikel 12 postuliert Berufsfreiheit und verbietet Zwangsarbeit. Geht es nach der Großen Koalition, soll all dies bald nicht mehr gelten.

Die Koalitionäre Merkel und Müntefering stimmen mit Clement überein, dass die "Bekämpfung des Missbrauchs" höchste Dringlichkeit habe. Gemeint ist damit zunächst, dass die bestehenden Folterinstrumente von Hatz IV konsequent angewendet werden: Kontrollanrufe, Vorladungen und unangemeldete Hausbesuche von Prüfdiensten der Arbeitsagenturen sollen die Arbeitslosen einschüchtern.

Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung? Wehe, wenn sich jemand darauf beruft. Treffen die Prüfer bei den Kontrollen Freund oder Freundin in der Wohnung an, zieht dies den Verdacht auf eine der Arbeitsagentur nicht angegebene Lebens- oder Bedarfsgemeinschaft nach sich.

Zu solchen "Lebensgemeinschaften" zählen nicht nur Ehe- und eingetragene Lebenspartner, sondern alle in einem Haushalt Lebenden, von denen die Behörde vermutet, dass sie "für einander einstehen". Sie haben daher keinen oder einen geringeren Anspruch auf Sozialleistungen. Ihnen drohen Strafanzeige und Leistungskürzung. Bisher haben gerichtliche Überprüfungen solcher Sanktionen zwar meistens ergeben, dass die Behörde und nicht die Arbeitslosen rechtswidrig gehandelt haben. Für Clement und Co. ist das aber höchstens ein Beweis für die Lückenhaftigkeit des Gesetzes.

Ebenfalls bereits möglich, aber nach Clements Geschmack noch zu wenig praktiziert: Mit umfassendem Datenabgleich - die Ämter dürfen auf alle Konten und Sozialversicherungen von Arbeitslosen mehr oder weniger uneingeschränkt zugreifen - soll jeder Euro, den sich Betroffene heimlich zum knapp bemessenen Arbeitslosengeld dazuverdienen, als Schwarzarbeit entlarvt und bestraft werden.

Und vor allem: Wer nicht jede noch so schwere, schmutzige und schlecht bezahlte Arbeit annehmen will - beispielsweise Spargelstechen oder Putzen trotz Ausbildung zum Koch, kaufmännischen Angestelltem oder Ingenieur -, dem wird der Regelsatz von etwa 340 Euro um 30 Prozent gekürzt. Auch wer sich um nicht vorhandene Jobs nicht ausreichend "bemüht", soll sanktioniert werden. Die einzigen Arbeitsplätze, welche die künftige Bundesregierung selbst neu schaffen will, dienen dazu, Arbeitslose zu "überprüfen" und unter Druck zu setzen.

Laut einem Bericht der Berliner Zeitung vom 27. Oktober sind sich Union und SPD auch einig, den so genannten "Unterhaltsrückgriff" wieder einzuführen. Gemeint ist damit, dass Arbeitnehmer für ihre volljährigen arbeitslosen Kinder bis zum Alter von 24 Jahren selbst sorgen müssen.

Diese Forderung hatte im Juli die hessische Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) aufgestellt und damit einen scheinheiligen Sturm der Entrüstung ausgelöst. SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter sagte damals, der Vorstoß Lautenschlägers offenbare, "wie weit der soziale Kahlschlag der Union gehen soll". CDU und CSU wollten Lebensrisiken radikal privatisieren.

Familienministerin Renate Schmidt (SPD) empörte sich: "Die Einführung des so genannten Unterhaltsrückgriffs wäre eine der familienfeindlichsten Maßnahmen, die man sich vorstellen kann. Arbeitslosigkeit darf man nicht den Familien aufdrücken." Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD) kritisierte, der Vorschlag der hessischen Landesregierung liefe "darauf hinaus, Arbeitslosigkeit zu privatisieren". Dies wäre der Ausstieg aus dem Solidarsystem Arbeitslosenversicherung.

Auch die Bundes-CDU hatte sich von Lautenschlägers Vorschlag distanziert.

Heute will ihn SPD gemeinsam mit der Union verwirklichen. Clement sprach sich ebenso dafür aus, wie der Vorsitzende des Ombudsrates für die Hartz-IV-Reformen, der ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaft IG Chemie Hermann Rappe (SPD), und der stellvertretende Verwaltungsratsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Peter Clever, der dort für die Union und die Arbeitgeber sitzt. Rappe wandte sich gegen eine "ungewöhnliche Zellteilung" bei Bedarfgemeinschaften und Clever schwadronierte von den "natürlichen Solidaritätsbanden innerhalb der Familie", die nicht länger durchschnitten werden dürften.

Bisher stellt das Grundgesetz Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung - die große Koalition will das nun möglicherweise umkehren.

Siehe auch:
"Mit aller Konsequenz" gegen "Parasiten" - Arbeitsministerium hetzt mit Nazivokabular gegen Langzeitarbeitslose
(25. Oktober 2005)
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