Der Erste Weltkrieg: Zusammenbruch des Kapitalismus

Teil 5

Dies ist der fünfte und letzte Teil des Vortrags "Der Erste Weltkrieg: Zusammenbruch des Kapitalismus" von Nick Beams. Beams ist der nationale Sekretär der Socialist Equality Party in Australien und Mitglied der WSWS-Redaktion und hielt seinen Vortrag im Rahmen der Sommerschule der Socialist Equality Party/WSWS, die vom 14. bis 20. August in Ann Arbor stattfand.

Lenins Imperialismus und Kautskys "Ultraimperialismus"

Man kann die Analysen, die Lenin in Der Imperialismus als auch in seinen anderen Schriften während des Krieges und bis zur Oktoberrevolution entwickelt hat, nur verstehen, wenn man betrachtet, gegen welche Standpunkte sie gerichtet waren. Der Imperialismus ist eine direkte Antwort auf Kautsky. Dieser lieferte den Führern der Zweiten Internationale, die im imperialistischen Krieg ihre "eigene" Bourgeoisie unterstützten, den theoretischen Rahmen für ihren Verrat.

Als Lenin vom Imperialismus als dem "höchsten" Stadium des Kapitalismus sprach, stellte er sich damit gegen Kautskys Behauptung, Militarismus und Krieg seien keine objektiven Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung sondern vorübergehender Natur. Der heftige Konflikt, der unter den kapitalistischen Großmächten ausgebrochen war - die Entfesselung der Barbarei - konnte nach Kautsky einer friedlichen Aufteilung der Weltressourcen weichen, ähnlich wie die Monopole, die aus dem freien Wettbewerb entstehen, Kartelle bilden und den Markt unter sich aufteilen.

Die von Lenin, Trotzki, Luxemburg und anderen Marxisten unternommene Analyse des Ersten Weltkrieges zeigte nicht nur, dass der Krieg aus den wachsenden Widersprüchen des Kapitalismus entstanden war. Sie ging weiter und erklärte, der Ausbruch des Krieges selbst sei der gewaltsame Ausdruck der Tatsache, dass die fortschrittliche Epoche der kapitalistischen Entwicklung vorüber war. Von nun an stand die Menschheit vor der Alternative Sozialismus oder Barbarei, wie Rosa Luxemburg es ausdrückte. Der Sozialismus war daher zur objektiven historischen Notwendigkeit geworden, sollte der menschliche Fortschritt weitergehen. Der Kampf der Arbeiterklasse um die politische Macht war keine Aussicht für die ferne Zukunft mehr, sondern eine aktuelle Aufgabe.

Kautsky versuchte, seine Opposition gegen diese Perspektive auf eine marxistische Grundlage zu stellen. Das kapitalistische System, so behauptete er, habe sich nicht erschöpft, der Krieg verkörpere nicht seinen Todeskampf, und die Arbeiterklasse, die nicht imstande gewesen war, den Krieg aufzuhalten, sei nicht in der Position, den Kampf zum Sturz der Bourgeoisie aufzunehmen.

Fast dreißig Jahre zuvor hatte Friedrich Engels eine völlig andere Perspektive vertreten. Sie gründete sich auf das Verständnis, dass eine Epoche zu Ende gegangen war und sich die zukünftigen Kriege von denen des 19. Jahrhunderts stark unterscheiden würden. Er schrieb:

"[E]ndlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich, als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet: Hungersnot, Seuchen, allgemeine durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit derart daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse." [43]

Als er die Entscheidung der SPD verteidigte, für die Kriegskredite zu stimmen, verwies Kautsky auf die anfängliche Befürwortung des Krieges durch die Massen. Unter diesen Bedingungen sei es nicht möglich, sich gegen den Krieg zu stellen, geschweige denn für den Sturz der Bourgeoisie einzutreten. Vor allem, so argumentierte er, dürfe man innerhalb der Partei nicht den Kampf gegen die rechtesten Unterstützer der Regierung und des Krieges aufnehmen. "Disziplin ist im Kriege nicht bloß für die Armee, sondern auch für die Partei die erste Erfordernis." Die dringendste Tagesaufgabe war, "die Organisationen und die Organe der Partei und der Gewerkschaften intakt [zu] halten."[44]

Die Gegenüberstellung von Imperialismus und Krieg sei eine grobe Vereinfachung einer komplexen Situation, schrieb Kautsky. Man müsse die Partei und ihre Organisationen intakt halten und auf die Rückkehr zu friedlichen Bedingungen vorbereiten, unter denen die Partei ihre Arbeit wie vor dem Krieg weiterführen würde.

In seinem Kampf gegen Kautsky machte Lenin deutlich, dass man den Objektivismus und offenen Fatalismus angreifen musste, der die Zweite Internationale zu dominieren begonnen hatte. In den Händen Kautskys war der Marxismus von einer Anleitung zum revolutionären Handeln zu einer ausgeklügelten Rechtfertigung von vollendeten Tatsachen verkommen.

Lenin hielt dagegen, es sei nicht möglich die objektive Situation einzuschätzen, ohne darin die Rolle der Partei selbst zu berücksichtigen. Es war richtig, dass die Massen sich nicht gegen den Krieg gewandt hatten, doch konnte man diese "Tatsache" nicht unabhängig von der Rolle der Partei und insbesondere ihrer Führung betrachten. Indem sie dem Hohenzollern-Regime ihre Unterstützung zusagte, hatte die SPD selbst zu dieser Situation beigetragen. Lenin behauptete nicht, Aufgabe der Partei sei die sofortige Aufnahme revolutionärer Kämpfe zur Machteroberung gewesen - das war eine von den Opportunisten gezeichnete Karikatur. Doch man musste in unversöhnlicher Opposition zur Regierung bleiben und den Tag vorbereiten, an dem sich die Massen selbst gegen diese wenden würden.

Den Opportunisten zufolge war der Kriegseintritt der Regierung ein Ausdruck ihrer enormen Stärke. Die Partei konnte sich demnach nicht gegen sie stellen, da sie dadurch ihre Zerschlagung herbeigeführt hätte. Im Gegensatz dazu erklärte Lenin, zum Kriegsbeginn sei das herrschende Regime wie nie zuvor auf die Unterstützung gerade jener Parteien angewiesen gewesen, die sich in der Vergangenheit als seine größten Gegner ausgegeben hatten.

Der Lauf der Geschichte bestätigte Lenins Einschätzung. Die Haltung der SPD zu einem Kriegseintritt war in der herrschenden Klasse und den politischen Kreisen Deutschlands schon seit geraumer Zeit diskutiert worden. Es gab die Befürchtung, dass im Falle eines ungünstigen Kriegsverlaufs die militärische Niederlage sehr bald vom Sturz des Regimes gefolgt würde.

Während der Julikrise war die Haltung der SPD ein wichtiger Faktor in den Kalkulationen von Bethmann Hollweg. Seine Taktik leitete sich aus der Einschätzung ab, dass die SPD-Führer dem Krieg zustimmen würden, wenn man ihn so präsentieren konnte, als ob Deutschland nicht die Offensive ergriffen habe (was tatsächlich der Fall war), sondern sich gegen einen Angriff Russlands zur Wehr setze. Einem Krieg gegen den Zarismus konnte man dann eine "progressive" Färbung verleihen.

Im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen Lenin und Kautsky standen ihre gegensätzlichen Auffassungen über die Zukunft des Kapitalismus’ als Gesellschaftssystem. Für Lenin ergab sich die Notwendigkeit der internationalen sozialistischen Revolution - als deren ersten Schritt die Russische Revolution von 1917 konzipiert war - aus der Einschätzung, dass der Ausbruch des imperialistischen Krieges den Beginn einer historischen Krise des kapitalistischen Systems bedeute, die trotz Waffenstillständen und sogar Friedensabkommen nicht überwunden werden könne.

Darüber hinaus hatten die ökonomischen Prozesse, die dem imperialistischen Zeitalter zugrunde lagen - d.h. der Übergang vom Kapitalismus des Wettbewerbs im 19. Jahrhundert zum Monopolkapitalismus des 20. Jahrhunderts - die objektiven Bedingungen für die Entwicklung einer internationalen sozialistischen Wirtschaft geschaffen.

Kautsky legte seine Perspektive in einem kurz nach Kriegsausbruch veröffentlichten Artikel dar, hatte sie jedoch bereits in den Monaten zuvor ausgearbeitet. Er vertrat darin die Ansicht, auf die gegenwärtige imperialistische Phase werde eine neue Epoche des Ultraimperialismus folgen.

Der Imperialismus, so schrieb er, sei ein Produkt des hochindustrialisierten Kapitalismus, der sich dadurch auszeichne, dass jede kapitalistische Industrienation den Impuls entwickle, immer größere Agrargebiete zu erobern und zu annektieren. Des weiteren bedeute die Einverleibung der eroberten Gebiete als Kolonien oder Einflussgebiete der betreffenden Industrienation, dass der Imperialismus den Freihandel als Mittel kapitalistischer Expansion abgelöst habe. Die imperialistische Eroberung von Agrarregionen und die Versuche, deren Bevölkerungen auf das Niveau der Sklaverei herabzudrücken, würden weitergehen, so Kautsky. Sie nähmen erst ein Ende, "wenn entweder ihre Bevölkerungen oder wenn das Proletariat der kapitalistischen Industrieländer stark genug geworden ist, das kapitalistische Joch zu zerbrechen. Diese Seite des Imperialismus ist nur durch den Sozialismus zu überwinden."

"Aber der Imperialismus", fuhr Kautsky fort, " hat noch eine andere Seite." Die Tendenz zur Besetzung und Unterwerfung der Agrargebiete habe scharfe Widersprüche zwischen den kapitalistischen Industrienationen hervorgerufen. Als Ergebnis hiervon habe sich das Wettrüsten der Großmächte von den Landstreitkräften auf die Streitkräfte zur See ausgeweitet und der seit langem prophezeite Weltkrieg sei Wirklichkeit geworden. Kautsky fragte dann, ob auch diese Seite des Imperialismus für die weitere Existenz des Kapitalismus notwendig sei und nur mit dem Kapitalismus selbst überwunden werden könne.

Er antwortete, es gebe auch vom Standpunkt der Kapitalistenklasse selbst "keine ökonomische Notwendigkeit" dafür, das Wettrüsten nach Ende des Krieges fortzusetzen (ausgenommen die Sonderinteressen einiger weniger, direkt mit der Waffenproduktion beschäftigter Teile des Kapitals). Im Gegenteil stellten vielmehr die Gegensätze zwischen den Industrienationen eine erste Bedrohung für die kapitalistische Wirtschaft dar, so dass "Kapitalisten, die über den Tellerrand hinausblicken" ihren Kollegen zurufen müssten: "Kapitalisten aller Länder, vereinigt Euch!"

Gleichsam wie Marx’ Analyse des kapitalistischen Wettbewerbs die Entwicklung des Monopols und die Bildung von Kartellen aufgezeigt hatte, erklärte Kautsky, könnte das Ergebnis des Krieges ein Bündnis der stärksten kapitalistischen Mächte sein, welches dann das Wettrüsten beenden würde.

"Vom rein ökonomischen Standpunkt ist es also nicht ausgeschlossen, dass der Kapitalismus noch eine neue Phase erlebt, die Übertragung der Kartellpolitik auf die äußere Politik, eine Phase des Ultraimperialismus, den wir natürlich ebenso energisch bekämpfen müssten wie den Imperialismus, dessen Gefahren aber in anderer Richtung lägen, nicht in der des Wettrüstens und der Gefährdung des Weltfriedens." [45]

Kautskys Analyse zufolge bestand keinerlei objektive historische Notwendigkeit, den Kapitalismus mittels einer sozialistischen Revolution zu stürzen, um dadurch die Barbarei zu beenden, die der imperialistische Krieg entfesselt hatte. Im Gegenteil: Abgesehen von einigen direkt mit der Waffenproduktion verbundenen Industriezweigen hatten die Imperialisten selbst ein Interesse an einer Übereinkunft zur Sicherung eines Weltfriedens, in dessen Rahmen sie dann ihre wirtschaftliche Plünderung fortsetzen könnten.

In seiner Antwort auf Kautsky machte Lenin deutlich, dass zwar die Tendenz der ökonomischen Entwicklung auf ein einziges Weltmonopol hinauslief, diese Entwicklung jedoch durch solche Widersprüche und Konflikte ökonomischer, politischer und nationaler Art gekennzeichnet war, dass der Kapitalismus lange vor der Verwirklichung dieses Weltmonopols und der "ultraimperialistischen" Verschmelzung des Finanzkapitals gestürzt werden würde.

Darüber hinaus, betonte Lenin, seien ultraimperialistische Bündnisse " notwendigerweise nur ‚Atempausen’ zwischen Kriegen - gleichviel, in welcher Form diese Bündnisse geschlossen werden, ob in der Form einer imperialistischen Koalition gegen eine andere imperialistische Koalition oder in Form eines allgemeinen Bündnisses aller imperialistischen Mächte. Friedliche Bündnisse bereiten Kriege vor und wachsen ihrerseits aus Kriegen hervor, bedingen sich gegenseitig, erzeugen einen Wechsel der Formen friedlichen und nicht friedlichen Kampfes auf ein und demselben Boden imperialistischer Zusammenhänge und Wechselbeziehungen der Weltwirtschaft und der Weltpolitik." [46]

Es gab, wie Lenin feststellte, tiefe und in der kapitalistischen Produktionsweise selbst verwurzelte objektive Gründe, die es unmöglich machten, von einem ultraimperialistischen Bündnis im Sinne Kautskys auszugehen. Seiner ureigenen Natur nach entwickelte sich der Kapitalismus ungleich. Schließlich war Deutschland fünfzig Jahre zuvor noch "eine klägliche Null" gewesen, verglich man die damalige kapitalistische Wirtschaftsstärke des Landes mit der Großbritanniens. Nun erhob es Anspruch auf die europäische Hegemonie.

Es war undenkbar, dass sich die relative Stärke der imperialistischen Mächte in zehn oder zwanzig Jahren nicht weiter verändern würde. Dem entsprechend würde ein Bündnis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Basis der relativen Stärke seiner Beteiligten geschlossen wurde, an einem späteren Punkt zusammenbrechen und einer Neuformierung von Bündnissen und Konflikten den Boden bereiten - eben aufgrund der ungleichen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft selbst.

Es gab einen weiteren Schlüsselaspekt in Lenins Analyse, nicht weniger wichtig als seine Widerlegung von Kautskys Perspektive des Ultraimperialismus. Die objektive historische Notwendigkeit der sozialistischen Revolution entsprang nicht einfach der Tatsache, dass Imperialismus und Monopolkapitalismus unvermeidlich zu Kriegen führten. Sie ergab sich aus den Veränderungen der Wirtschaftsbeziehungen, die der Monopolkapitalismus eingeleitet hatte.

"Der Sozialismus", schrieb Lenin, "schaut bereits durch alle Fenster des modernen Kapitalismus auf uns." [47] Man musste, so betonte er, die Bedeutung der Veränderungen in den Produktionsverhältnissen untersuchen, die sich durch die Entwicklung des Monopolkapitalismus ergeben hatten. Diese bestanden nicht nur in der bloßen Verflechtung des Eigentums. Auf der Basis des Monopolkapitalismus fand eine ungeheure weltweite Vergesellschaftung der Produktion statt.

"Wenn aus einem Großbetrieb ein Mammutbetrieb wird, der planmäßig, auf Grund genau errechneter Massendaten, die Lieferung des ursprünglichen Rohmaterials im Umfang von zwei Dritteln oder drei Vierteln des gesamten Bedarfs für Dutzende von Millionen der Bevölkerung organisiert; wenn die Beförderung dieses Rohstoffs nach den geeignetsten Produktionsstätten, die mitunter Hunderte und Tausende Meilen voneinander entfernt sind, systematisch organisiert wird; wenn von einer Zentralstelle aus alle aufeinanderfolgenden Stadien der Verarbeitung des Materials bis zur Herstellung der verschiedenartigsten Fertigprodukte geregelt werden; wenn die Verteilung dieser Produkte auf Dutzende und Hunderte von Millionen Konsumenten nach einem einzigen Plan geschieht [...] - dann wird es offensichtlich, daß wir es mit einer Vergesellschaftung der Produktion zu tun haben und durchaus nicht mit einer bloßen ‚Verflechtung’; daß privatwirtschaftliche und Privateigentumsverhältnisse eine Hülle darstellen, die dem Inhalt bereits nicht mehr entspricht und die daher unvermeidlich in Fäulnis übergehen muß, wenn ihre Beseitigung künstlich verzögert wird, eine Hülle, die sich zwar verhältnismäßig lange in diesem Fäulniszustand halten kann [...], die aber dennoch unvermeidlich beseitigt werden wird." [48]

Lenin behauptete nicht, ein Fortbestehen des Kapitalismus sei unmöglich. Vielmehr würde sich der Niedergang der Wirtschafts- und Eigentumsbeziehungen fortsetzen, sollte ihre Beseitigung künstlich verzögert werden. Aus der vorsichtigen Sprache der Broschüre, durch die sie den Händen des Zensors entkommen sollte, in klare Worte übersetzt bedeutete dies: sollte die gegenwärtige Führung der Arbeiterklasse nicht ersetzt werden.

Für Lenin drehte sich alles um diese Frage. Eben darum pochte er mehr als jeder andere in der marxistischen Bewegung auf die Notwendigkeit eines vollständigen Bruchs mit den Führern der Zweiten Internationale, nicht nur mit den offenen Vertretern des rechten Flügels, sondern besonders auch mit den Zentristen wie Kautsky, die eine überaus gefährliche Rolle spielten. Der Aufbau der Dritte Internationale war zur historischen Notwendigkeit geworden.

Für Harding jedoch besteht ein grundlegender Widerspruch zwischen einer Analyse, die die objektiven Prozesse innerhalb des Kapitalismus enthüllt, die eine sozialistische Revolution sowohl möglich als auch notwendig machen, und der gleichzeitigen Betonung der überaus wichtigen und unverzichtbaren Rolle des subjektiven Faktors im historischen Prozess.

Die Anwesenheit Lenins, legt er dar, war für die Revolution in Russland entscheidend. Wie viele theoretische Diskussionen auch über den Stand der Produktivkräfte und das Niveau des sozialistischen Bewusstseins oder über die internationale Lage geführt wurden - all dies konnte nicht darüber entscheiden, ob es in Russland zur sozialistischen Revolution kommen würde.

"Ausschlaggebend war tatsächlich die ‚zufällige’ Anwesenheit eines Mannes mit dem unerschütterlichen Glauben, eine Zivilisation sei im Untergang begriffen und es müsse daher eine andere entstehen. Dies bedeutet lediglich, dass der Marxismus niemals eine ‚Wissenschaft der Revolution’ war, und dass die Suche nach einer endgültigen Anleitung zum Handeln - mit Rücksicht auf dessen ‚objektive’ Grenzen - besonders und vor allem in den Zeiten revolutionären Schocks zum Scheitern verurteilt war." [49]

Niemand bestreitet Lenins entscheidende Rolle in der Russischen Revolution. Doch gerade die Tatsache, dass seine Perspektive sich auf eine umfassende Analyse der objektiven Prozesse und Entwicklungstendenzen gründete, ließ ihn in dieser Situation zu einem so mächtigen Faktor werden.

Eine Revolution wird oft mit dem Geburtsvorgang verglichen, die Rolle der revolutionären Partei mit derjenigen der Hebamme. Die Geburt des Kindes ist das Ergebnis objektiver Prozesse. Doch ohne das rechtzeitige, durch die allgemeine Kenntnis des Geburtsvorgangs angeleitete Eingreifen der Hebamme ist es gut möglich, dass die Geburt in einer Tragödie endet.

Natürlich hat jede Analogie ihre Grenzen. Doch ein Studium der Geschichte zeigt, dass das entscheidende Eingreifen der "Hebamme" die Geburt der Russischen Revolution zu einem erfolgreichen Ende brachte. Ebenso hatte das Fehlen eines solchen Eingreifens während der revolutionären Erhebungen in Deutschland und anderswo in der Zeit direkt nach dem Krieg Konsequenzen, die sich als katastrophal erweisen sollten. Wenn Lenin entscheidend in der Russischen Revolution war, so spielte die Ermordung Rosa Luxemburgs eine bedeutende Rolle beim Scheitern der deutschen Revolution in den frühen 1920er Jahren.

Es bleibt die Frage: Berechtigt etwas zu der Behauptung, Lenins Perspektive sei widerlegt? In jedem Falle nicht, dass der Kapitalismus weiter gewachsen ist und dass seither Entwicklungen der Produktivkräfte stattgefunden haben.

Die entscheidende Frage ist: Hat das Wachstum des Weltkapitalismus seit dem Ersten Weltkrieg und der Russische Revolution die Widersprüche beseitigt, aus denen Lenin, Trotzki und die Bolschewiki ihre Perspektive der sozialistischen Weltrevolution ableiteten?

Die Bedeutung der Auseinandersetzung zwischen Lenin und Kautsky reicht weit über die unmittelbaren Umstände des Ersten Weltkriegs hinaus. Sie beinhaltete den Zusammenprall von zwei einander diametral entgegengesetzten historischen Perspektiven. Kautskys Theorie des Ultraimperialismus bedeutete nicht nur die Ablehnung der sozialistischen Revolution für die Kriegsperiode, sondern auch für eine unbegrenzte Zeit danach. Denn im Zentrum dieser Weltanschauung stand die Auffassung, letztlich werde die imperialistische Bourgeoisie erkennen, dass aus den Widersprüchen zwischen einer immer enger verflochtenen globalen Produktionsweise und dem Nationalstaatensystem Konflikte erwachsen, die eine Gefahr für ihre eigene Herrschaft darstellen. Sie würde daher in der Lage sein, diese Widersprüche zu mildern.

Kein Marxist würde bestreiten, dass die Bourgeoisie Mittel zu ihrer Selbstrettung ergreift. Tatsächlich könnte man in gewisser Hinsicht die politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts als eine Geschichte ständiger Bemühungen der Bourgeoisie beschreiben, den Auswirkungen der Widersprüche und Konflikte der kapitalistischen Produktionsweise entgegenzuwirken und den Ausbruch der sozialen Revolution zu verhindern.

Doch die Analyse des Akkumulationsprozesses - des Herzstücks der kapitalistischen Produktionsweise - offenbart, dass der Fähigkeit der herrschenden Klassen, diese Konflikte zu unterdrücken, objektive Grenzen gesetzt sind. Wenn auch das "Kapital als Ganzes" eine reale Entität ist und weitsichtige Politiker zu gewissen Zeiten seine Interessen vertreten können, so existiert doch das Kapital in Form vieler Kapitalien, die sich im ständigen Kampf um die Extraktion von Mehrwert aus der Arbeiterklasse befinden. In dem Maße, wie die Masse des dem Kapital zugänglichen Mehrwerts insgesamt wächst, können diese Kämpfe zwischen den unterschiedlichen Vertretern des Kapitals kontrolliert und geregelt werden. Doch wenn sich einmal die Situation wendet, wie das unvermeidlich geschieht, so gestalten sich solche Regelungen zunehmend schwierig und eine Periode imperialistischer Konflikte tritt ein. Letztlich mündet diese dann im bewaffneten Konflikt.

Die Geschichte bestätigt, was die theoretische Analyse zeigt. Gegen Ende der 1980er Jahre, als die Nachkriegsordnung der internationalen Beziehungen zusammenzubrechen begann, wies ein Autor scharfsichtig auf die Relevanz der Auseinandersetzung zwischen Lenin und Kautsky hin:

"Da sich Macht und Führungsanspruch Amerikas infolge des ‚Gesetzes der ungleichen Entwicklung’ im Niedergang befinden, werden sich die Konfrontationen häufen und wird das System zusammenbrechen, wenn eine Nation nach der anderen eine Politik im Sinne von ‚Jeder ist sich selbst der Nächste’ verfolgt, wie Lenin dies erwartet hätte? Oder wird Kautsky damit Recht behalten, dass die Kapitalisten zu vernünftig sind, um dieses für alle Beteiligten verderbliche ökonomische Gemetzel zuzulassen?" [50]

Seit diese Zeilen geschrieben wurden, sind knapp zwei Jahrzehnte vergangen und die Frage ist beantwortet worden. Als Ergebnis der immer aggressiveren Rolle des US-Imperialismus ist das Atlantikbündnis der Nachkriegszeit zusammengebrochen. Während die USA nach dem Krieg die Vereinigung Europas anstrebten, versuchen sie heute, in ihrem eigenen Interesse die europäischen Mächte gegeneinander auszuspielen. Die europäischen Mächte wiederum haben, um die Konflikte nicht wieder aufkommen zu lassen, die in drei Jahrzehnten zwei Weltkriege ausgelöst hatten, den gemeinsamen Markt und die Europäische Union aufgebaut - und sind heute dennoch tiefer gespalten als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg.

Um Märkte und Rohstoffe, insbesondere Öl, ist ein weltweiter Konflikt entbrannt. Und im Osten wirft der Aufstieg Chinas die Frage auf, ob der Aufstieg dieser neuen Industriemacht im 21. Jahrhundert die gleiche destabilisierende Rolle spielen wird wie der Aufstieg Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert.

Die Mechanismen, die in der Nachkriegszeit in Kraft gesetzt wurden, um die Konflikte zwischen den kapitalistischen Großmächten zu regulieren, sind entweder zusammengebrochen oder befinden sich im Stadium des fortgeschrittenen Verfalls. Gleichzeitig vertieft sich die soziale Polarisierung im internationalen Maßstab. Die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise, die zum Ersten Weltkrieg geführt haben, sind nicht überwunden, sondern melden sich mit Gewalt zurück.

Ende.

Anmerkungen:

[43] Engels, Einleitung zu S. Borkheims Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten 1806-1807, zit. nach Lenin, Prophetische Worte, in: Werke Bd. 27, Berlin 1970, S. 494f.

[44] Kautsky, Der Krieg, in: NZ 32, 1913/14, Bd. 2, S. 845, zit. nach: Massimo Salvadori, Sozialismus und Demokratie, Stuttgart 1982, S. 265f.

[45] Kautsky, Der Imperialismus, in: NZ 32 1913/14, Bd. 2, S. 919ff, zit. nach: Salvadori, a.a.O., S. 271ff.

[46] Lenin, Der Imperialismus, a.a.O., S. 301.

[47] Lenin, Die drohende Katastrophe und wie man sie abwenden soll, in: Werke Bd. 25, Berlin 1970, S.370.

[48] Lenin, Der Imperialismus, a.a.O., S. 308.

[49] Harding, a.a.O., S. 110.

[50] Robert Gilpin, The Political Economy of International Relations, Princeton 1987, S. 64 (aus dem Englischen).

Siehe auch:
Der Erste Weltkrieg: Zusammenbruch des Kapitalismus - Teil 1
(3. November 2004)
Der Erste Weltkrieg: Zusammenbruch des Kapitalismus - Teil 2
( 4. November 2004)
Der Erste Weltkrieg: Zusammenbruch des Kapitalismus - Teil 3
( 5. November 2004)
Der Erste Weltkrieg: Zusammenbruch des Kapitalismus - Teil 4
( 8. November 2004)
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