Das Schicksal der Geisel Susanne Osthoff und die Rolle der Bundesregierung

Zehn Tage nach der Entführung von Susanne Osthoff im Irak wächst die Sorge um das Leben der 43-jährigen Archäologin, die am Freitag vorletzter Woche gemeinsam mit ihrem irakischen Fahrer als Geisel genommen wurde.

Frau Osthoff ist seit vielen Jahren als humanitäre Helferin im Irak aktiv. Sie spricht fließend arabisch und kennt das Land bereits aus ihrer Studienzeit in den 1980er Jahren. Bereits Anfang der neunziger Jahre organisierte und begleitete sie Hilfslieferungen in das von den UN-Wirtschaftssanktionen stark betroffene Land und versuchte Hunger, Elend und Medikamentenknappheit vor allem für Kinder in den entlegenen Regionen des Landes zu lindern.

Den Krieg der USA gegen den Irak lehnte sie vehement ab. Neben dem großen menschlichen Leid war sie vor allem über die brutale Zerstörung und Plünderung unwiederbringlicher Kulturgüter, der die amerikanischen Besatzer tatenlos zusahen, zutiefst empört. Vor zwei Jahren verstärkte sie gemeinsam mit Freunden ihre humanitäre Hilfe. Seit ihrer Heirat mit einem Iraker verfügt Frau Osthoff über außergewöhnlich gute Kontakte im Irak.

Ende vorletzter Woche wurde sie von einer dubiosen Gruppe, die sich angeblich "Sturmtruppen des Erdbebens" nennt, im Nordosten des Iraks entführt. Die Entführer spielten dem Fernsehsender ARD ein Video zu, auf der die Geisel mit den Entführern zu sehen ist. Ein Ultimatum, wonach Osthoff getötet würde, wenn nicht Deutschland die Beziehungen zu der von den US-Besatzern abhängigen irakischen Regierung abbricht, soll vergangenen Freitag verstrichen sein, ohne dass die Bundesregierung angeblich Kontakt zu den Geiselnehmern habe herstellen können. Von einem weiteren Lebenszeichen ist seit dem Video nichts bekannt.

Eine Schwester von Susanne Osthoff wandte sich über die Medien in einem dramatischen Appell an die Bundesregierung: "Ich hoffe, dass die Bundesregierung nicht stur ist und sich viel mehr Gedanken über eine Veränderung ihrer Irak-Politik macht." Angesicht des sozialen Engagements und ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Krieg genießt Susanne Osthoff in der Bevölkerung viel Unterstützung. Vor zwei Jahren wurde sie von der Süddeutschen Zeitung mit einem Preis für Zivilcourage ausgezeichnet.

Die neue Bundesregierung erklärte unmittelbar nach bekannt werden der Entführung kategorisch, sie lehne jede Art politischen Kompromiss mit den Entführern ab. Es werde von ihrer Seite keinerlei Nachgeben gegenüber den Forderungen der Entführer geben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begann ihre Regierungserklärung am vergangenen Mittwoch mit einer Stellungsnahme zur Entführung, in der sie verkündete: "Diese Bundesregierung, und ich denke auch dieses Parlament - wir lassen uns nicht erpressen." Über die Motive und Hintergründe der Tat sei noch nichts bekannt. "Aber es ist ganz grundsätzlich festzuhalten: Der internationale Terrorismus ist unverändert eine der größten Herausforderungen der Staatengemeinschaft." Im "Kampf gegen den Terror" dürfe man nicht nachlassen.

Nicht wenige politische Beobachter sehen angesichts der zeitlichen Nähe einen direkten Zusammenhang zwischen der Entführung und der Amtsübernahme der Großen Koalition. So glaubt z.B. der Geheimdienst-Experte Kai Hirschmann, Frau Osthoff sei nicht zufällig gerade jetzt entführt worden. Die Terroristen wollten an die neue Regierung in Berlin die politische Botschaft senden: "Unterstützt nicht die USA im Irak!"

Neben der Regierung und den Regierungsparteien CDU, CSU und SPD sprachen sich auch alle Vertreter der Oppositionsparteien - der FDP, den Grünen und der Linkspartei - einmütig für eine harte Linie gegenüber den Geiselnehmern aus. Sie alle, sowie die meisten Zeitungskommentare, stimmen überein, dass unter keinen Umständen den politischen Forderungen nachgegeben werden dürfe. Jedes Eingehen auf die Forderungen der Entführer führe dazu, den Terrorismus zu stärken.

Dieses Argument stellt die wirklichen Zusammenhänge auf den Kopf. Erst der völkerrechtswidrige Irakkrieg, die Zerstörung der irakischen Infrastruktur, der Tod zehntausender Menschen in Folge des Kriegs und der Besatzung sowie die Einsetzung eines verhassten Marionettenregimes haben die Bedingungen geschaffen, unter denen reaktionäre fundamentalistische und kriminelle Gruppen im Irak ungehindert operieren können.

Das Entführen von Menschen hat sich im Irak inzwischen zu einer regelrechten Industrie entwickelt. Alleine in der Hauptstadt Bagdad finden jeden Tag zwischen zwanzig und dreißig Entführungen statt. Fast zeitgleich mit Susanne Osthoff wurden auch vier Menschenrechtsaktivisten aus Großbritannien, Kanada und den USA verschleppt. Und am gestrigen Montag wurde ein französischer Ingenieur im Zentrum von Bagdad von bewaffneten Männern entführt.

Bisher ist nicht klar, wer Susanne Osthoff entführt hat. Die an die Bundesregierung gestellten Forderungen deuten auf eine politische Gruppierung hin, obwohl das Video nach Ansicht von Experten eher untypisch ist. Es kann sich aber auch um kriminelle Lösegelderpresser handeln. Klar ist aber, dass nicht diejenigen "den Terrorismus stärken", die sich um ihre Freilassung bemühen, sondern die für die Fortsetzung des brutalen Besatzungsregimes eintreten. Wer den kriminellen und den reaktionären islamistischen Gruppen den Boden entziehen will, muss den sofortigen und bedingungslosen Abzug der Besatzungstruppen fordern.

Nachdem sich alle offiziellen Rechtfertigungen für den Irakkrieg - Massenvernichtungswaffen, Unterstützung von Al Qaida, usw. - als Lügen herausgestellt haben, dient der "Krieg gegen den Terrorismus" mittlerweile als offizielle Rechtfertigung, um die Besatzung und den Terror gegen irakische Städte wie Falludschah fortzuführen. Gleichzeitig werden im Namen des "Kampfs gegen den Terrorismus" systematisch demokratische Rechte in den USA und in Europa abgebaut.

Die politische Verantwortung für den Irakkrieg und seine Folgen liegt in erster Linie bei der amerikanischen Regierung. Aber auch die Bundesregierung trifft ein gerütteltes Maß an Verantwortung für die Situation im Irak und die damit verbundene Entführung.

Kein einziger Politiker der Großen Koalition erwägt auch nur ansatzweise, die bisherige deutsche Außenpolitik gegenüber dem Irak oder Afghanistan in Frage zu stellen. Auch die Medien wagen es nicht, die Dinge beim Namen zu nennen. Deutschland ist im Irak wesentlich stärker involviert, als allgemein behauptet. Die Schröder/Fischer-Regierung hatte zwar aus Gründen der deutschen Interessen den vom amerikanischen Imperialismus erzwungenen Irakkrieg abgelehnt und eine direkte Beteiligung mit eigenen Soldaten verweigert.

Aber sie hatte weder den deutschen Luftraum noch die amerikanischen Basen auf deutschem Boden gesperrt. Mit vollem Wissen und stillschweigender, aber durchaus aktiver Unterstützung der Bundesregierung wurde der Krieg von den in Deutschland stationierten US-Einheiten geführt. Als die militärische Besetzung des Iraks auf erbitterten Widerstand in der geschundenen irakischen Bevölkerung stieß, unterstützte die Bundesregierung die Besatzungsmächte beim Aufbau der von den USA installierten Verwaltung.

Sowohl Polizei- als auch Streitkräfte wurden von deutscher Seite ausgebildet. Hunderte von irakischen Polizisten und ein Pionierbataillon wurden bereits in Kooperation mit den Arabischen Emiraten von deutschen Experten ausgebildet. Irakische Führungsoffiziere bekommen ihre Spezialausbildung gar an der Führungsakademie der Bundeswehr. Mehrere hunderte Millionen Euro stehen für diese "Aufbauarbeit" bereit. Außerdem erklärte sich die Bundesregierung zu einem Schuldenerlass von 4,7 Milliarden Euro gegenüber dem Marionettenregime in Bagdad bereit. Im August 2004 stellte Deutschland außerdem die vollen diplomatischen Beziehungen zum Irak wieder her.

Deutsche Firmen, ungefähr 40 an der Zahl, haben mittlerweile im Irak, insbesondere im kurdisch kontrollierten Norden, wieder ihre Repräsentanzen aufgebaut. Schon im vergangenen Jahr waren die deutschen Ausfuhren in den Irak auf das Vorkriegsniveau von 370 Millionen Euro gestiegen.

Einer der ersten Handlungen des neuen deutschen Bundestages bestand darin, die Teilnahme der Bundeswehr am so genannten Anti-Terrorkrieg (Enduring Freedom) für ein weiteres Jahr zu beschließen. Dies schließt auch Kampfeinsätze des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Afghanistan und anderswo mit ein. Auch hierfür sind über 100 Millionen Euro eingeplant.

Der von der Bundesregierung eingerichtete Krisenstab im Auswärtigen Amt ist vor allem darauf bedacht, keine Informationen und Erkenntnisse an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Selbst das Video, welches der ARD in Bagdad zugespielt wurde, soll die Öffentlichkeit nicht zu Gesicht bekommen. Warum nicht? Soll verhindert werden, dass die Forderungen bekannt werden und berechtigte kritische Fragen an die Bundesregierung gestellt werden?

Bei ähnlichen Entführungen, wie im Falle der britischen Geisel Kenneth Bigley im vergangenen Jahr, versuchte die Blair-Regierung in London die besorgte Familie des Opfers ruhig zu halten. Sie bemühte sich zu verhindern, dass Bigleys mutige und kompromisslose Kritik an der Politik der Blair-Regierung bekannt wurde. Bigley’s Familienmitglieder ließen sich aber weder ruhig stellen noch einschüchtern. Sie brachten den Mythos, dass die Besetzung des Irak eine demokratische Regierung geschaffen habe ins Wanken. Ken Bigley konnte mit seinem eindringlichen Aufruf, die britischen Truppen abzuziehen und die Iraker selbst über ihr Land und ihr Schicksal bestimmen zu lassen, bei Blair kein Gehör finden. Er musste die reaktionäre Politik der Blair-Regierung mit seinem Leben bezahlen.

Ähnlich wie Blair nutzt auch die Merkel-Regierung die Entführung für innenpolitische Zwecke aus. Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) erklärte unmittelbar nach ihrem bekannt werden in einem Zeitungsinterview: "Dieser Fall bestätigt, dass auch wir Deutsche vom internationalen Terrorismus bedroht sind. Das gilt für das Ausland ebenso wie für das Inland." Neben einer Verschärfung der inneren Sicherheit nutzte Schäuble den Fall auch, um für den Einsatz der Bundeswehr im Innern zu werben.

Die amerikanische Regierung nutzte die Ereignisse, um die "wachsende Gefahr des internationalen Terrorismus" zu beschwören und von den kriminellen Machenschaften des amerikanischen Geheimdienstes abzulenken. Berichte über den Transport von CIA-Gefangenen in so genannte "Black sites" irgendwo auf der Welt, wo sie dann gefoltert und ohne Anklage und Rechtsbeistand eingekerkert werden, hatten in den vergangenen Wochen für Aufsehen gesorgt. Für derartige Verschleppungen waren offenbar auch deutsche Flughäfen als logistische Drehscheibe benutzt worden.

Die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice, die in den kommenden Tagen in Berlin und anderen europäischen Hauptstädten Station machen wird, versprach "Aufklärung" über das Vorgehen des Geheimdiensts, verteidigte es aber gleichzeitig und regte eine engere Zusammenarbeit zwischen Berlin und Washington an.

Siehe auch:
Das Schicksal Ken Bigleys und der Kampf gegen die Besetzung des Irak
(6. Oktober 2004)
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