Eskalierender Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine

Mit der Unterbrechung der russischen Gaslieferungen an die Ukraine hat der seit langem schwelende Konflikt zwischen den beiden Nachfolgestaaten der Sowjetunion einen neuen Höhepunkt erreicht.

Der staatliche russische Konzern Gazprom stellte am 1. Januar die Gaslieferungen an die Ukraine ein, nachdem sich diese geweigert hatte, den Weltmarktpreis von 230 Dollar pro tausend Kubikmeter Gas zu bezahlen. Bisher hatte die Ukraine russisches Gas zum Sonderpreis von 50 Dollar bezogen, etwas mehr als ein Fünftel des Weltmarktpreises.

Die ukrainische Regierung hatte sich zwar grundsätzlich damit einverstanden erklärt, dass der Preis auf Weltmarktniveau angehoben wird, aber eine Übergangsfrist von mindestens fünf Jahren gefordert. Im laufenden Jahr wollte sie lediglich einer Erhöhung auf 70 Dollar zustimmen. Einen Vorschlag des russischen Präsidenten Putin, den alten Preis für drei Monate beizubehalten und anschließend den vollen Preis zu bezahlen, lehnte sie ab.

Die Ukraine bezog bisher 120 Millionen Kubikmeter Gas pro Tag, etwas mehr als ein Viertel des Gesamterbrauchs, aus Russland. Gleichzeitig verlaufen die wichtigsten Exportleitungen für russisches Erdgas nach Mittel- und Osteuropa durch die Ukraine. Lediglich durch Weißrussland und Polen existiert eine alternative Leitung. Die kürzlich vereinbarte Ostsee-Pipeline, die Russland direkt mit Deutschland verbindet, wird erst im Jahr 2010 fertig sein. Der russisch-ukrainische Gasstreit bedroht damit auch die Versorgung der EU, die 66 Prozent ihrer Gasimporte aus russischen Feldern bezieht.

Während westeuropäische Länder wie Deutschland über Reserven verfügen, die den Bedarf für zwei bis drei Monate decken, sind osteuropäische Länder unmittelbarer betroffen. So verfügt Polen, das 42 Prozent seines Erdgases und 90 Prozent seines Erdöls von Russland bezieht, lediglich über Vorräte für zwei Wochen.

Sowohl Gazprom wie die ukrainische Regierung haben zwar versichert, die Lieferungen in die EU würden durch den Gasstreit nicht beeinträchtigt. Doch am 1. Januar gingen die ankommenden Gasmengen deutlich zurück. Importeure beklagten Ausfälle von bis zu 30 Prozent.

Gazprom beschuldigte daraufhin die Ukraine, große Gasmengen illegal abgezweigt zu haben. Allein am 1. Januar seien 100 Millionen Kubikmeter Gas im Wert von 25 Millionen Dollar unerlaubt entnommen worden. "Wir haben es mit einem unbestreitbaren Fall von Diebstahl zu tun," sagte Alexander Medwedew, der Vizechef von Gazprom, gegenüber der Presse. Die ukrainische Regierung wies diesen Vorwurf ebenso heftig zurück, drohte aber gleichzeitig, bei fallenden Temperaturen "russisches Gas als Transitgebühr zu verbrauchen".

Vorläufig will die Ukraine ihren Gasbedarf neben der eigenen Produktion durch Lieferungen aus Turkmenistan decken, mit dem es im vergangenen Jahr einen Vertrag über den Import von 40 Milliarden Kubikmetern Erdgas abgeschlossen hat. Dieses Gas fließt über russisches Territorium und Gazprom hat bereits angedeutet, dass es die Lieferungen möglicherweise behindern werde.

Ukrainische Medien werfen dem Kreml politische Motive vor. Er wolle mit der Unterbrechung der Erdgaslieferungen das Lager des Verlierers der Präsidentenwahl 2005, Viktor Janukowitsch, bei den Parlamentswahlen im März unterstützen und Teile der ukrainischen Industrie in den Bankrott treiben, um Schlüsselindustrien und das ukrainische Pipelinenetz billig übernehmen zu können.

Der Konflikt hat ein erhebliches Potential, weiter zu eskalieren. Selbst die vorzeitige Kündigung des Stützpunkts der russischen Schwarzmeerflotte im ukrainischen Sewastopol wurde von ukrainischer Seite erwogen, ein Schritt, den Moskau kaum ohne Widerstand hinnehmen würde. Eine weitere Zuspitzung des Gasstreits könnte auch den Gegensatz zwischen der Ostukraine, die wirtschaftlich stark an Russland ausgerichtet ist und über einen hohen russischstämmigen Bevölkerungsanteil verfügt, und der Westukraine wieder aufflammen lassen. Es droht ein Destabilisierung und Balkanisierung der gesamten Region.

Wurzeln des Konflikts

Um die Wurzeln des gegenwärtigen Konflikts zu verstehen, muss man fünfzehn Jahre zurückgehen. Die Präsidenten Russlands, der Ukraine und Weißrusslands beschlossen damals in Minsk, die Sowjetunion aufzulösen und durch eine Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu ersetzen. Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk und Stanislaw Schuschkewitsch taten dies ohne demokratische Legitimation und ohne jede Debatte über die ökonomischen und politischen Folgen dieses Schritts. Sie handelten im Interesse einer kleinen Oberschicht, die größtenteils aus der stalinistischen Bürokratie stammte, und die sich in den folgenden Jahren an der Plünderung des sowjetischen Staatseigentums hemmungslos bereichern sollte.

Um das Staatseigentum zu privatisieren und die Wirtschaft in die Struktur des Weltimperialismus einzuordnen, wurde alles zerstört und zerschlagen, was die Sowjetunion an fortschrittlichen ökonomischen und sozialen Errungenschaften hervorgebracht hatte. Komplexe ökonomische Beziehungen, die - wie im Falle Russlands und der Ukraine - weit vor die Entstehung der Sowjetunion zurückreichten, wurden durchschnitten und zerstört. Die Folgen für die Bevölkerung waren verheerend.

Ähnlich wie auf dem Balkan, wo die Zerschlagung Jugoslawiens mit dem Schüren ethnischer Gegensätze einherging, setzten auch die neuen herrschenden Eliten Russlands und der Ukraine auf Nationalismus, um ein Ventil für die sozialen Spannungen zu schaffen. Die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine wurden so nachhaltig vergiftet.

Diese Beziehungen waren seit der Auflösung der Sowjetunion äußerst gespannt. So wurde ein Streit über die russische Schwarzmeerflotte und die staatliche Zugehörigkeit der Krim erst 1997 beigelegt. Auch über die russischen Gaslieferungen gab es immer wieder Auseinandersetzungen. Die Gaszufuhr wurde in den 90er Jahren wegen unbezahlter Rechnungen mehrmals unterbrochen. Gleichzeitig gelangten mehrere ukrainische Oligarchen zu ihrem gigantischen Vermögen, indem sie die Erdgasleitungen illegal anzapften und große Gasmengen verkauften. Zu ihnen gehört auch Julia Timoschenko, Protagonistin der "orangenen Revolution", die im Gas- und Ölgeschäft Millionen verdiente.

Mit der von den USA und der EU massiv unterstützten "orangenen Revolution" gelangte dann vor einem Jahr endgültig ein Flügel der ukrainischen Bourgeoise an die Macht, der seine Zukunft in der Abwendung von Russland und der Hinwendung zur Nato und Europäischen Union sah.

Die Einkreisung durch USA und EU setzte Russland zunehmend unter Druck. Neben der Ukraine übernahm im vergangenen Jahr auch in Georgien eine proamerikanische Regierung die Macht. Bereits zuvor waren die meisten ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in die Nato oder EU aufgenommen worden und die USA hatten sich im Rahmen des Afghanistankriegs in Zentralasien festgesetzt. Mit der Eröffnung der Baku-Ceyhan-Pipeline verlor Russland sein Monopol über die Energieexporte aus dem Kapischen Raum.

Die herrschende Schicht unter Präsident Putin versucht dieser Einkreisung entgegenzuwirken, indem sie die Energieressourcen des Landes als politisches Druckmittel einsetzt. Neben der Ukraine müssen auch die drei baltischen Staaten, Moldawien, Georgien, Aserbaidschan und Armenien ab Januar deutlich höhere Gaspreise bezahlen, auch wenn die Erhöhung weniger drastisch ausfällt als im Fall der Ukraine. Die Gaslieferungen an Moldawien wurden ebenso wie diejenigen für die Ukraine eingestellt.

Einzige Ausnahme bildet das eng mit Russland verbündete Weißrussland, das weiterhin zum Niedrigpreis von 48 Dollar beliefert wird. Es musste als Gegenleistung allerdings sein gesamtes Pipelinenetz an Gazprom abtreten.

Der Kreml und Gazprom können drauf verweisen, dass die Preiserhöhung durchaus der liberalen Wirtschaftslogik der betroffenen Regierungen entspricht. Die Welthandelsorganisation WTO macht die Anhebung der Gaspreise auf Weltmarktniveau sogar zur Bedingung für eine Mitgliedschaft, da sie in den Sonderpreisen eine Wettbewerbsverzerrung sieht. Sie tritt allerdings für eine schrittweise Erhöhung ein. "Diese Länder müssen mittelfristig für die Energie Marktpreise bezahlen, damit ihre Wirtschaft deutlich effizienter wird," sagte WTO-Generaldirektor Pascal Lamy.

Strategische Bedeutung von Gas und Öl

Angesichts der beschränkten Menge fossiler Energieträger und des wachsenden Energiebedarfs aufsteigender Industrieländer wie China und Indien entwickelt sich der Zugang zu Öl und Gas immer mehr zu der strategischen Frage des 21. Jahrhunderts. Spätestens seit sich die USA mit dem Irakkrieg gewaltsam am Golf festgesetzt haben, dessen Anrainerstaaten Saudi-Arabien, Iran, Irak und Golfscheichtümer über die weltweit größten Ölreserven verfügen, ist die Sicherung der Energieversorgung für die kommenden Jahrzehnte zu einem vorrangigen Anliegen der Regierungen aller Industriestaaten geworden.

Der Kampf um Energie beinhaltet ein enormes Konfliktpotential. Schon jetzt haben die weltweit steigende Nachfrage und die Auswirkungen von Kriegen wie im Irak zu Rekordpreisen geführt, die nach Ansicht von Experten kaum wieder sinken dürften. Zukünftige Konflikte werden nicht nur die Preise in die Höhe treiben, sondern ganze Volkswirtschaften von der Energiezufuhr abschneiden und damit ihre Existenz bedrohen. Die Sicherung der Energiezufuhr erhält damit heute auf Weltebene eine ähnlich wichtige Bedeutung, wie vor hundert Jahren der Zugang zu Kohle und Erz auf europäischer Ebene - eine Frage, die damals maßgeblich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beitrug.

Vor allem Europa, und hier wiederum Deutschland, befinden sich in einer exponierten Lage. Sie verfügen nur über geringe eigene Energiereserven, die zudem - wie das Nordseeöl - rasch zur Neige gehen. So bezogen die europäischen OECD-Länder im Jahr 2000 etwas mehr als ein Drittel ihres Gasverbrauchs aus dem Ausland. Im Jahr 2030 dürfte dieser Anteil laut Schätzungen der internationalen Energieagentur auf fast zwei Drittel gestiegen sein. Noch dramatischer sieht es beim Erdöl aus. Hier wird die Eigenförderung der europäischen OECD-Länder im gleichen Zeitraum von 48 auf 15 Prozent schrumpfen.

Die Mitglieder der Europäischen Union importieren schon jetzt 70 Prozent ihres Erdöls und 40 Prozent ihres Erdgases. Der Unterschied zwischen europäischen OECD- und EU-Ländern geht auf Norwegen zurück, das zu den weltweit größten Öl- und Gasexporteuren gehört, aber nicht Mitglied der EU ist.

Russland spielt für die zukünftige Energieversorgung Europas eine äußerst wichtige Rolle. Es verfügt ungefähr über ein Viertel der Weltreserven an Erdgas und über sechs Prozent der Reserven an Erdöl. Hinzu kommen fast ein Viertel der weltweiten Steinkohlevorräte.

Vor allem die alte deutsche Regierung unter Gerhard Schröder hat bei der langfristigen Sicherung der Energieversorgung sehr stark auf Russland gesetzt. Schröder entwickelte eine enge persönliche Freundschaft zu Putin, enthielt sich jeder Kritik an seiner Tschetschenienpolitik, pries ihn als "lupenreinen Demokaten" und verhielt sich gegenüber der "orangenen Revolution" neutral. Kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt besiegelte er den Vertrag über den Bau der Ostseepipeline, die die deutsche Gasversorgung für die nächsten dreißig Jahre sichern soll. Inzwischen will Schröder auf Einladung Putins sogar den Aufsichtsratsvorsitz des Konsortiums übernehmen, das die Pipeline baut und betreibt.

Nach der Erhöhung der Gaspreise durch Gazprom ist dieser Kurs in den deutschen Medien unter heftige Kritik geraten. Befürchtet wird, dass Russland (möglicherweise unter einer anderen Regierung) den Preis und die Lieferung von Gas auch gegen Europa und Deutschland als Druckmittel einsetzt, oder dass Deutschland durch eine wachsende Destabilisierung der Region in Mitleidenschaft gezogen wird.

So warnt Die Zeit unter der Überschrift "Erst die Ukraine, dann wir?": "Gasprom hat sein Augenmerk nicht nur auf Osteuropa gerichtet. Mit einer klugen, weitsichtigen Expansionsstrategie verschafft sich der russische Staatskonzern direkten Zugang zu den westeuropäischen Märkten. Das ferne Ziel heißt auch hier Preiskontrolle nach ukrainischer Art, wenn einmal die Gasreserven in der Nordsee erschöpft sind."

Zur Vorbeugung empfiehlt die Zeitung eine stärkere Diversifizierung: "Die Gasreserven in Nordafrika und in der kaspischen Region liegen in greifbarer Reichweite Europas und - nicht unwichtig für die Kosten - näher als die sibirischen Gasfelder. Die Flüssiggas-Technologie ist reif für die Einführung in Deutschland, damit das Land auch auf Schiffen Erdgas einführen kann. Es liegt jetzt in der Hand der neuen Bundesregierung, neue Erdgasquellen außerhalb Russlands für Deutschland zu erschließen."

Ähnlich argumentiert die Frankfurter Allgemeine. Sie meint, "die größte Gefahr für die Energieversorgung des Westens" werde "auf absehbare Zeit nicht von der Knappheit der Ressource ausgehen, sondern von ihrer Konzentration in den Händen einiger weniger, politisch oft höchst unzuverlässiger Staaten".

Vor politischem Druck der Energielieferanten gebe es nur einen Schutz: "Europa muß mit einer Diversifizierung seiner Energieeinkäufe beginnen, ... Der kaspische Raum, der mit Landleitungen zu erreichen wäre, oder die Golfstaaten, die viel Erfahrung mit Flüssiggastransporten haben, kämen als neue Lieferanten in Frage."

Diese Ratschläge haben nur einen Haken. Die von Zeit und FAZ genannten Regionen - Nordafrika, kaspische Region und Golfstaaten - sind nicht nur politisch instabil, Deutschland trifft dort auch auf zahlreiche Konkurrenten - Frankreich, England, China und vor allem die USA.

Schon jetzt sind Lieferverträge über Öl und Gas Gegenstand heftiger internationaler Kontroversen. So hat China, dessen Energieverbrauch kontinuierlich ansteigt, einen Vertrag über Flüssiggaslieferungen mit dem Iran unterzeichnet. Er erstreckt sich über einen Zeitraum von 25 Jahren und hat einen Gesamtwert von 70 bis 100 Milliarden Dollar. Als Gegenleistung will China massiv in iranische Gasfelder investieren. Auch Indien hat mit dem Iran einen Energieliefervertrag über 40 Milliarden Dollar vereinbart. Beide Verträge sind auf heftigen Widerstand der USA gestoßen, die bemühen sind, den Iran zu isolieren, und mit Sanktionsmaßnahmen drohen.

Der Kampf um Energie wird so zur Triebfeder für heftige Konflikte zwischen den alten imperialistischen Mächten unter sich und mit den aufsteigenden Industriestaaten.

Siehe auch:
Der Machtkampf in der Ukraine und Amerikas Strategie der Vorherrschaft
(22. Dezember 2004)
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