BGH-Urteil im Mannesmann-Prozess löst neue Debatte über "Unternehmerkultur" aus

Am 21. Dezember vergangenen Jahres hob der Bundesgerichtshof (BGH) die Freisprüche für den Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, und fünf weitere Angeklagte im Mannesmann-Prozess auf und verwies den Fall zurück an das Düsseldorfer Landgericht. Die Entscheidung erregte im In- und Ausland großes Aufsehen.

Während führende Wirtschaftsvertreter vor einer nun doch möglichen Verurteilung des Chefs der Deutschen Bank und der Abschreckung ausländischer Investoren warnen, werten einige Politiker die höchstrichterliche Entscheidung als Signal zur Verteidigung des typisch deutschen, so genannten "rheinischen Wirtschaftsmodells". Mit dem Aufsehen erregenden Wirtschaftsstrafprozess geht die Debatte einher, wie mit den rasant wachsenden sozialen Spannungen angesichts der sich immer weiter vertiefenden Krise des Weltkapitalismus und des Abbaus des bundesdeutschen und westeuropäischen Sozialstaats umgegangen werden soll.

Kern der juristischen Auseinandersetzung im Mannesmann-Prozess ist die Bewertung von Zahlungen an Manager in Millionenhöhe, wie sie in der Geschichte der Bundesrepublik bisher einzigartig sind und in diesem Maße vorwiegend nur im angelsächsischen Raum praktiziert werden.

Während der Übernahmeschlacht des ehemaligen Düsseldorfer Röhrenherstellers und Mobilfunkanbieters Mannesmann durch die britische Vodafone Airtouch 1999/2000 wurden durch umstrittene Entscheidungen des Aufsichtsratspräsidiums der Mannesmann AG Bonuszahlungen von knapp 60 Millionen Euro an den damaligen Vorstandsvorsitzenden Klaus Esser, der allein gut 30 Millionen kassierte, den Aufsichtsratsvorsitzenden Joachim Funk (4,6 Millionen Euro) und 18 weitere ehemalige Vorstandsmitglieder und deren Angehörige beschlossen.

Dem Aufsichtsratpräsidium gehörten die Angeklagten Josef Ackermann, Joachim Funk, der damalige IG-Metallvorsitzende Klaus Zwickel sowie der Betriebsratsvorsitzende Jürgen Ladberg an.

Die Tatsache, dass Manager in derartigen Größenordnungen belohnt werden und diese Summen auch dann bekommen, wenn sie scheitern und - wie bei Mannesmann - die feindliche Übernahme und dann die Zerschlagung des Unternehmens auf Kosten der Beschäftigten herbeiführen, rief damals große Empörung hervor. War doch Konzerchef Esser von November 1999 an, als das erste Übernahmeangebot von Vodafone erging, angeblich fest entschlossen, eine feindliche Übernahme um jeden Preis zu verhindern. Dazu entfesselte er eine in der deutschen Wirtschaftsgeschichte einmalige Werbekampagne, die Millionen verschlang.

Doch als sich im Januar 2000 abzeichnete, dass Vodafone den auch von Mannesmann zur Stärkung seiner Marktmacht anvisierten französischen Telefonanbieter Vivendi übernimmt, änderte Esser seine Haltung, stimmte der Übernahme zu und ließ sich jetzt als derjenige feiern, der durch seinen Einsatz den Unternehmenswert in dieser kurzen Zeit um 128 Prozent auf über 180 Milliarden Euro hatte steigern können.

Später wurde bekannt, dass die Zustimmung Essers vor allem auch auf Druck des größten Anteilseigners von Mannesmann, der Hongkonger Investmentfirma Hutchinson Whampoa, hin erfolgt sei. Der Wert ihrer Aktienanteile an Mannesmann hatte sich in diesen wenigen Monaten auf 10 Milliarden Euro verdoppelt.

Unter heftiger Kritik eröffnete die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft im Jahr 2003 das Ermittlungsverfahren in dieser Sache, das im Januar 2004 zum Beginn des Strafverfahrens vor dem Landgericht führte.

Während das Verfahren schon damals viel Zuspruch aus der Bevölkerung erhielt, erntete es von Seiten der an den USA orientierten Wirtschaftselite massive Kritik. Diese will auch in Deutschland und Westeuropa rücksichtslos und möglichst schnell alles abschaffen, was sie als Hindernis im globalen Konkurrenzkampf erachtet, und dabei selbst von astronomischen Managergehältern und Abfindungen profitieren, die direkt zulasten der Beschäftigten gehen.

Die damalige Oppositionsführerin, Angela Merkel (CDU), die sich zum Sprachrohr dieser Elemente gemacht hatte, sah in dem Verfahren "eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland". Die Justiz habe sich nicht in die autonomen Entscheidungen der Wirtschaftsführer einzumischen, meinte Merkel.

In dem Strafverfahren vor dem Landgericht Düsseldorf wurde geprüft, ob die Entscheidungen des Aufsichtsratspräsidiums von Mannesmann den Straftatbestand der "schweren Untreue" erfüllen. In einem verklausulierten Urteil befand das Gericht, dass den Angeklagten zwar eine "erhebliche Pflichtverletzung" vorzuwerfen sei, sie aber einem "unvermeidbaren Verbotsirrtum" unterlegen seien. Soll heißen, den Angeklagten habe die Einsicht gefehlt, etwas Unrechtes zu tun. Daher - so das Gericht - sei ihnen eine "gravierende Pflichtverletzung", die eine Voraussetzung zur Untreue ist, nicht nachzuweisen.

Unmittelbar nach diesem Urteil legte gemeinsam mit der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft auch Generalbundesanwalt Kay Nehm Revision beim Bundesgerichtshof ein. Nehm kritisierte in einem 55-seitigen Dokument in ungewöhnlicher Schärfe das Urteil des Landgerichts. Es weise "beachtliche Mängel" auf, nehme nur eine "segmentierte Betrachtung" vor und führe zu "Feststellungen, die mitunter schwer vereinbar, bisweilen sogar widersprüchlich" seien.

Auch löse "Befremden" aus, dass die merkwürdigen Entscheidungen des Aufsichtsratspräsidiums, im "Nachhinein" die "exzeptionell" hohen Geldzahlungen zu beschließen, keine "gravierenden Verstöße" darstellen sollen. Vor allem bei der Entscheidung über die Zahlung an Funk in Höhe von 4,6 Millionen Euro, an der dieser selbst mitwirkte und die nur wenige Tage später vom Wirtschaftsprüfer KPMG als "zweifelhaft" eingestuft wurde, "wäre es die Pflicht" der Angeklagten gewesen, zumindest "den Vollzug des Beschlusses bis zur Klärung auszusetzen". Stattdessen folgten sie dem Rat eines Anwaltes von Esser und gaben die Zahlung nach nur geringfügigen Formulierungsänderungen frei.

Die Bundesrichter schlossen sich der Revision der Staatsanwaltschaft an und hoben das Landgerichtsurteil auf, womit das Verfahren vor einer anderen Kammer des Landgerichts neu aufgerollt werden muss.

Im Gegensatz zum Landgericht sehen die BGH-Richter "den Tatbestand der Untreue verwirklicht". Die Voraussetzungen für einen "unvermeidbaren Verbotsirrtum" seien vom Landgericht nicht ausreichend dargelegt worden, die Strafkammer habe zu hohe Anforderungen an die Strafbarkeit wegen Untreue gestellt, indem sie dafür "gravierende" Pflichtverletzungen verlangte. Auch seien die Abfindungen für angebliche Pensionsansprüche der 18 ehemaligen Vorstandsmitglieder in Höhe von 32 Millionen Euro im Urteil nicht ausreichend geprüft worden.

Der Vorsitzende Richter Klaus Tolksdorf erklärte, dass die Angeklagten ihre Vermögensbetreuungspflicht verletzt und diese Zahlungen ohne Gegenleistung beschlossen hätten: "Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, dass sich der in führenden Positionen der deutschen Wirtschaft tätige Angeklagte Ackermann und der Gewerkschaftsführer Klaus Zwickel für berechtigt gehalten haben könnten, in Millionenhöhe willkürlich über das ihnen anvertraute Gesellschaftsvermögen verfügen zu dürfen." Die Vorstände seien auch im Falle einer Übernahme verpflichtet gewesen, die Interessen des Unternehmens zu wahren und die Überleitungsphase verantwortlich zu begleiten. Die damaligen Aufsichtsräte seien "nicht Gutsherren, sondern Gutsverwalter gewesen" und somit zwingend einer Treuepflicht unterworfen.

Ausdrücklich erklärte Richter Tolksdorf, dass die Frage nach der Höhe der Abfindungen nicht Gegenstand des Strafverfahrens sei und auch nicht sein könne. Wirtschaftsunternehmen hätten das uneingeschränkte Recht, auch sehr hohe Leistungsprämien zu zahlen, selbst dann, wenn eine entsprechende Regelung im Dienstvertrag fehle. Voraussetzung sei aber, dass dem Unternehmen Vorteile zuflössen. Dies sei hier aber nicht der Fall gewesen. Esser, Funk und andere hätten die Gelder ohne jeden Nutzen für Mannesmann erhalten.

An anderer Stelle seiner Urteilsbegründung nahm Richter Tolksdorf dennoch zur Höhe der Abfindungssumme Stellung und nannte sie "in vielerlei Hinsicht problematisch". Angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen könne man sogar von "Maßlosigkeit" und "Sozialschädlichkeit" sprechen.

Die Bedeutung des Urteils

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist Teil einer gesamteuropäischen Debatte über die Bedingungen, die erforderlich sind, um die sozialen Angriffe durchzusetzen, die von der herrschenden Elite und den Regierungen in allen europäischen Ländern als unumgänglich angesehen werden.

Die Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und Holland, die Massenstreiks in Frankreich und Belgien, die jüngsten Jugend- und Emigrantenrevolten in Frankreichs Vorstädten und zuletzt der wachsende Unmut auch in der deutschen Bevölkerung über permanente Einschnitte im Sozialsystem, Massenentlassungen und Lohnsenkungen haben der europäischen und deutschen herrschenden Klasse vor Augen geführt, dass der Abbau des westeuropäischen Sozialstaats nicht ohne größeren Widerstand in der Bevölkerung zu bewerkstelligen ist.

Aus diesem Grund hat sich gerade in Deutschland in der herrschenden Elite ein Flügel mit der Erkenntnis durchgesetzt, dass Millionenzahlungen an Manager - wie sie in den USA und Großbritannien seit Jahren gang und gäbe sind - nur dann durchgesetzt werden können, wenn sie rechtlich einwandfrei und durch staatliche Institutionen abgesichert sind.

Richter Tolksdorf prophezeite, dass Vertreter der Wirtschaft dem Gericht eine "weltfremde Sicht" vorwerfen würden. Er wandte sich ausdrücklich gegen den Vorwurf, dieses Urteil könne dem Wirtschaftsstandort Deutschland schädigen: "Strafbares Verhalten wird nicht deshalb straflos, weil sich einzelne Kreise massenhaft über die Strafgesetze hinwegsetzen", betonte er und fügte hinzu: "Deutschland wäre der erste Wirtschaftsstandort, der in Gefahr gerät, weil er Unternehmen vor dem schädigenden Zugriff von Managern auf die Kasse schützt."

Tatsächlich stieß das Urteil die Debatte genau in dieser Richtung an. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) erklärte, das Urteil sei "eine öffentliche Aufforderung, über die Unternehmenskultur und die Unternehmermoral in diesem Lande neu zu diskutieren". Ziel müsse eine Verhaltensänderung der Manager sein. Er betonte, es dürfe nicht sein, dass die Höhe von Abfindungen in keinem Verhältnis zur Leistung stehe. Daher müsse über einen Kodex oder aktienrechtliche Vorschriften geredet werden, in denen dann auch "eine Relation von Einkommen und Abfindungshöhe zu den Leistungen, zum Unternehmenserfolg formuliert" sei. Außerdem müssten die Rechte der Aktionäre bei der Entscheidung über entsprechende Zahlungen gestärkt werden.

Dagegen behauptete der Experte für Kreditwirtschaft und Finanzierung am Center of Financial Studies in Frankfurt, Jan Pieter Krahnen, gegenüber der Berliner Zeitung, für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft könne das Urteil einen "echten Rückschlag bedeuten". Die Aufhebung der Freisprüche im Mannesmann-Prozess könne Investoren abschrecken. Diese "gewinnen nämlich durch Urteile wie diese den Eindruck, dass einem Steine in den Weg gelegt werden, wenn man eine möglichst hohe Wertsteigerung für sein Unternehmen erzielen will", sagte Krahnen.

Der mitangeklagte Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann stehe für ein angelsächsisch geprägtes Finanzsystem, erklärte Krahnen. Seine Handlungsweise sei stark an den Bedürfnissen der Anleger orientiert. In Deutschland sei es dagegen noch üblich, das Wohl der Mitarbeiter und das Interesse des Staates vornan zu stellen.

Auch in der internationalen Presse wurde entlang dieser Linien diskutiert. Der BGH habe mit seinem Urteil "die Verstaatlichung und Verunsicherung der Wirtschaft in Deutschland weiter vorangetrieben", schrieb die Neue Zürcher Zeitung. Das Urteil deute "auf eine schleichende Ausweitung des Staatseinflusses hin... Im heutigen Deutschland sind es eher Staat und Justiz, die das Unternehmensinteresse definieren."

Die britische Financial Times hob hervor, die Entscheidung habe "Deutschlands Ruf als Wirtschaftsstandort beschädigt". Es bestätige sich, dass die Bundesrepublik ein Land sei, "in dem Erfolg misstraut wird und Protektionismus über Aktionärsinteressen siegt". Deutschland sei kein "attraktiver Arbeitsplatz für ehrgeizige Manager".

Im von Streiks und Protesten erschütterten Frankreich dagegen befürworten Kommentatoren das BGH-Urteil: "Die Entscheidung der deutschen Justiz wird auch außerhalb Deutschlands die Wirtschaftspraktiken prägen", schreibt die französische Wirtschaftszeitung La Tribune. Es sei zu hoffen, "dass sie darüber hinaus eine mäßigende Wirkung auf die Zusicherung von Millionenprämien für Unternehmensführer auslöst".

Durch die BGH-Entscheidung werden auch die Auseinandersetzungen über die vorgezogene Bundestagswahl im vergangenen Sommer in ein klareres Licht gerückt. Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte Ende Mai vorgezogene Neuwahlen eingeleitet, was angesichts eines damaligen Vorsprungs der Union von mehr als 20 Prozent in den Wählerumfragen einer Machtübergabe an CDU/CSU und FDP gleichkam.

Erst als die Ankündigung einer Mehrwertsteuererhöhung durch die CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel und die Aufnahme des Flat-Tax-Propagandisten Paul Kirchhof ins Wahlkampteam der Union auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung stießen, während gleichzeitig die Linkspartei in der Wählergunst zunahm, griff Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder in den Wahlkampf ein und organisierte eine demagogische Kampagne unter der Parole "mehr soziale Gerechtigkeit". Nach der Wahl übernahm die SPD die wichtigsten Regierungsämter in der Großen Koalition, stimmte einer noch drastischeren Mehrwertsteuererhöhung zu und hilft nun der Union, die Politik durchzusetzen, die in der Bevölkerung auf Widerstand stieß.

Ähnlich dient auch das BGH-Urteil dazu, die Empörung und den wachsenden Widerstand gegen Millionenabfindungen für Spitzenmanager bei gleichzeitigen Massenentlassungen unter Kontrolle zu halten und die Verhältnisse im Interesse der herrschenden Klasse zu stabilisieren.

Siehe auch:
Freisprüche im Mannesmann-Prozess
(28. Juli 2004)
Management und Gewerkschaftsfunktionäre gemeinsam auf der Anklagebank
( 14. Februar 2004)
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