Polen: Mehr als 60 Tote bei Halleneinsturz in Kattowitz

Als am vergangenen Samstag, kurz nach 17 Uhr das Dach einer Messehalle im polnischen Kattowitz einstürzte, befanden sich nach Angaben der Messegesellschaft mindestens 500 Menschen in der Halle. Die zweitgrößte Brieftaubenschau Europas sollte am Sonntag zu Ende gehen.

Augenzeugen berichteten, dass das Flachdach der Leichtmetallhalle innerhalb von Sekunden in der Hallenmitte auf den Boden stürzte und viele Menschen unter sich begrub. Am Sonntagabend wurde die Zahl der Toten mit 66 angegeben. In 16 Krankenhäusern in verschiedenen Städten Oberschlesiens wurden 160 Verletzte mit Knochenbrüchen, schweren Quetschungen und anderen, teils lebensgefährlichen Verletzungen eingeliefert.

Bei Temperaturen von minus 17 Grad Celsius waren die Überlebenschancen für eingeschlossene Verletzte sehr gering. Die Unterkühlung war schon nach wenigen Stunden lebensbedrohend. Bereits am Sonntagabend wurde die Suche nach Überlebenden eingestellt. Unter den Toten und Verletzten sind nach Angaben eines Behördensprechers außer Polen auch mehrere Deutsche, Tschechen, Slowaken, Russen, Ukrainer, Holländer, Belgier, Litauer und Österreicher.

Der polnische Transportminister Jerzy Polaczek sprach im Fernsehen von der schwersten Baukatastrophe in der Geschichte Polens und gab die Bildung einer Sonderkommission zur Untersuchung der Unglücksursache bekannt. Es erhärte sich der Verdacht, sagte Polaczek, dass das Dach der außergewöhnlichen Schneelast nicht Stand gehalten habe. Ersten Ermittlungen zufolge hatte sich auf dem Flachdach der 150 Meter langen Halle eine 50 cm dicke Schneedecke angesammelt, die gefroren war.

Warum aus der Katastrophe im oberbayerischen Bad Reichenhall, wo vor wenigen Wochen, am 2. Januar, das Dach der Eissporthalle unter der Schneelast eingestürzt war und 15 Menschen ums Leben kamen, keine Lehren gezogen wurden, sagte Polaczek nicht.

Überlebende des Unglücks in Kattowitz erheben schwere Vorwürfe gegen den Messebetreiber. Notausgänge seien verschlossen und Fluchwege versperrt gewesen. "Wir mussten Türen erst mit dem Feuerlöscher auframmen, sonst wären wir gar nicht raus gekommen", berichtete Heinz Richard Mennen aus Jüschen bei Mönchengladbach gegenüber Spiegel Online. Er war mit seinem Kollegen Christian Bak zu der Taubenschau nach Kattowitz gekommen, so wie sie es schon in den vergangenen fünf Jahren getan haben.

Christian Bak spricht fließend polnisch und berichtete wie er die zahlreich anwesenden Leute eines Sicherheitsdienstes aufforderte, schleunigst die Notausgänge aufzuschließen. "Da haben die mir gesagt, dass sie keine Schlüssel haben." Erst mit viel Kraftanstrengung und Gewalt sei es möglich gewesen, den Notausgang aufzubrechen und ins Freie zu gelangen.

Die Hilfe deutscher Rettungsteams sei von der Einsatzleitung in Polen nicht angenommen worden, sagte der Leiter der Rettungshundestaffel Inntal, Kurt Schmalwieser gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Obwohl die polnischen Bergungsteams lediglich drei Suchhunde im Einsatz hatten, "die bereits restlos erschöpft waren", sei die Hilfe aus dem bayerischen Inntal ebenso wie ein Rettungsteam aus München und Köln als "nicht nötig" bezeichnet worden, berichtete Schmalwieser. Ein Vertreter des polnischen Außenministeriums habe als Begründung angegeben, dass der Zugang zur eingestürzten Messehalle zu gefährlich sei.

In Sondersendungen des Fernsehens berichteten Überlebende mit Tränen in den Augen über die ausgelassene Stimmung, die auf der Brieftaubenmesse vorgeherrscht habe, bevor die Katastrophe begann. Es habe Musik gespielt, man habe sich unterhalten und Erfahrungen ausgetauscht. Die meisten der anwesenden Brieftaubenfreunde kennen sich seit Jahren und hatten sich erst vor zwei Wochen bei einer ähnlichen Veranstaltung in Dortmund im Ruhrgebiet getroffen.

In den Bergarbeiterregionen des Ruhrgebiets und Thüringens, aber ebenso in Oberschlesien, Belgien und Holland hat die Brieftaubenzucht eine lange Tradition. In Deutschland werden Brieftauben auch als "Rennpferd des kleinen Mannes" bezeichnet. Die außerordentliche Orientierungsfähigkeit von Tauben, die selbst auf Entfernungen von mehreren hundert Kilometern ihren Heimatort wieder finden, wurde schon im Altertum benutzt, um Nachrichten zu übermitteln. Später dienten sie als militärische Boten und werden heute zum Zweck sportlicher Wettkämpfe gezüchtet.

Zusammenkünfte wie in Kattowitz sind Veranstaltungen mit einem großen Rahmenprogramm, an denen viele Arbeiter mit ihren Familien teilnehmen. Daher sind unter den Toten und Verletzten auch viele Kinder zu beklagen. Die Veranstalter der internationalen Messe "Taube 2006" gaben eine Besucherzahl von mehr als 12.000 an.

Noch sind die genauen Umstände der Katastrophe nicht bekannt. Die Unglückshalle war die größte und neueste (Baujahr 2000) von einem halben Dutzend Leichtbau-Pavillons auf dem Messegelände, in denen an anderen Tagen Blumen oder Güter des täglichen Bedarfs verkauft werden.

Soviel steht aber schon jetzt fest: Die Unglücksursache kann nicht von dem rapiden wirtschaftlichen und sozialen Niedergang getrennt werden, der gegenwärtig in Polen und ganz Osteuropa stattfindet. Seit der Wiedereinführung von Markt- und Profitwirtschaft sind Regionen wie Oberschlesien in einem Ausmaß verarmt, das für europäische Verhältnisse kaum vorstellbar war. "Das Unglück trifft die einst blühende Industrieregion Oberschlesien", die sich in den vergangenen fünfzehn Jahren in "die größte Krisenregion in diesem Teil Europas" verwandelt habe, schreibt die Süddeutsche Zeitung.

Und eine Aussicht auf Besserung gibt es nicht. Der Kohlebergbau in Polen hat in den anderthalb Jahrzehnten seit der Wende eine rasante Talfahrt durchgemacht. Zu Zeiten des stalinistischen Regimes war dieser Industriezweig das Zugpferd der polnischen Wirtschaft und die Bergarbeiter hatten gegenüber der restlichen Bevölkerung eine relativ bevorzugte Stellung. Inzwischen sind aber 250.000 Arbeitsplätze im Bergbau abgebaut worden, die Löhne wurden gesenkt und die Arbeitsbedingungen drastisch verschärft.

Die staatliche Unterstützung bei Arbeitslosigkeit fließt, wenn überhaupt, so spärlich, dass sie zum Leben nicht reicht. Die Mehrheit ist gezwungen, sich irgendwie zusätzliche Einkünfte zu verschaffen - und sei es durch das Sammeln von Altmetallen auf Schrottplätzen und Müllhalden oder durch den Abbau von Kohle in bereits stillgelegten Stollen.

Die Arbeitslosigkeit beträgt in Polen nach offiziellen Angaben fast 20 Prozent und unter Jugendlichen ist sie mit etwa 40 Prozent sogar doppelt so hoch. Seit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen vor fünf Jahren haben sich die Lebensbedingungen für die große Mehrheit der Bevölkerung deutlich verschlechtert. Laut offizieller EU-Statistik sank der polnische Durchschnittslohn von monatlich 625 Euro im Jahr 2001 auf 536 Euro im Jahr 2003.

Gleichzeitig bildete sich in Zusammenarbeit mit den Brüsseler EU-Institutionen eine herrschende Elite in Polen, die sich durch die Umstrukturierung und Privatisierung der Industrie, der Landwirtschaft und des Gesundheitswesens hemmungslos bereichert. Auf allen politischen Ebenen bis in die höchsten Regierungsgremien werden politische Entscheidungen durch Korruption und Vetternwirtschaft bestimmt.

Der Betreiber der Messehallen in Kattowitz, die britische Firma Expomedia Group plc. unterhält außer in Oberschlesien noch ein weiteres Messegelände in Polen und besitzt ähnliche Einrichtungen in Deutschland, Holland, Ungarn, Russland, Indien und Serbien/Montenegro. Expomedia ist verantwortlich für die erfolgreiche Durchführung von über 200 internationalen Messen in den vergangenen Jahrzehnten, heißt es auf der Firmen-Website, auf der bisher jegliches Kondolenzschreiben angesichts des schrecklichen Unglücks fehlt.

Stattdessen preist das Unternehmen sich als "kostengünstigen Zugang" zu den neuen Wachstumsmärkten in Russland, Osteuropa und Indien an und macht auf seine enge Medienzusammenarbeit mit Gruner + Jahr, Gazprom Media und Axel Springer aufmerksam.

Die von Transportminister Jerzy Polaczek angekündigte Untersuchungskommission wird nicht dazu dienen, das enge Geflecht der Günstlingswirtschaft und der damit verbundenen Verantwortungslosigkeit gegenüber der Bevölkerung aufzudecken - ganz im Gegenteil. Der Jurist Polaczek, der der konservativen "Law and Order"-Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) angehört, wird alles tun, um die wichtigen Fragen nach der politischen Verantwortung zu unterdrücken.

Warum gab es trotz Warnungen und der Tragödie von Bad Reichenhall keine Sicherheitsüberprüfung der Halle? Warum wurden die Schneemassen auf dem Flachdach nicht rechtzeitig entfernt? Welche Sicherheitsvorschriften existieren und warum wurden sie nicht eingehalten? Wer macht mit der Messegesellschaft und der Umgehung der Sicherheitsstandards Profit? Warum waren die Notausgänge verschlossen? War diese Entscheidung Teil des Vertrags mit der Sicherheitsfirma, um die Kosten zu senken? Warum wurde ausländische Hilfe abgelehnt? Was haben die Messegesellschaft und andere Verantwortliche zu verheimlichen?

Diese und andere Fragen können nur durch eine unabhängige und öffentliche Untersuchungskommission beantwortet werden.

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