Scharons Hirnschlag stürzt Israel in Hektik

Der lebensbedrohliche Schlaganfall, den der israelische Premier Ariel Scharon am 4. Januar erlitt, hat erwartungsgemäß eine Welle scheinheiliger, besorgter Äußerungen über das Schicksal des zum Friedensstifter mutierten "Kriegers" ausgelöst.

Der 77-jährige Scharon leidet an Übergewicht. Bei 1,70 Meter Körpergröße wiegt er 120 Kilo. Vor seiner Farm in der Wüste Negev in Südisrael war ständig eine Ambulanz mit Intensivstation stationiert. Am 4. Januar erkrankte er dort, nachdem er schon am 18. Dezember einen leichteren Schlaganfall erlitten hatte. Der letzte Schlaganfall hat eine starke Hirnblutung verursacht, die mehrere operative Eingriffe erforderte.

Selbst wenn sich Sharon erholen sollte, ist es fraglich, ob er die Führung der Kadima-Partei beibehalten kann, die er nach seiner Spaltung von der Likud-Partei gegründet hatte. Das Ergebnis der Wahlen vom kommenden März, bei denen ihm ein Sieg prognostiziert wurde, ist damit wieder offen.

Scharon war im November aus dem Likudblock ausgetreten. Seine Position war aufgrund der Opposition von Mitgliedern, rechten Siedlern und religiösen Parteien gegen den "einseitigen Rückzug" aus dem Gazastreifen im September sowie dem Austritt der Labour-Partei unter ihrem neuen Führer Amir Peretz aus der Koalitionsregierung unhaltbar geworden.

Führende internationale Politiker haben Scharon, den "Schlächter von Beirut", gelobt, weil er angeblich eine Verhandlungslösung mit den Palästinensern anstrebte. US-Präsident George W. Bush nannte ihn "einen Mann des Muts und des Friedens". Der britische Außenminister Jack Straw erklärte, er habe alle durch "den Mut und das staatsmännische Geschick überrascht, das er in den letzten Jahren an den Tag legte, als er auf eine langfristige Friedenslösung zwischen Israel und den Palästinensern hinarbeitete".

Sharons Erkrankung hat zu einem vorübergehenden Waffenstillstand zwischen seiner Regierung und den Rivalen geführt, die ihm die Macht streitig machten. Dreißig Minuten nach seiner Einlieferung ins Krankenhaus übernahm sein Stellvertreter Ehud Olmert die Regierungsgeschäfte. Der von Scharons Erzrivalen Benjamin Netanjahu geleitete Likud sagte den angekündigten Bruch mit der Regierung ab.

Shimon Peres, der von der Labour-Partei zu Kadima gewechselt ist, betete für Scharons Genesung. Tommy Lapid, der Führer der wirtschaftsliberalen Shinui-Partei, wünschte ihm rasche Erholung und drückte seine Hoffnung aus, dass "das System mit der Situation auf eine Weise fertig wird, wie es sich für eine progressive Nation gehört".

Amir Peretz erklärte, er stehe zu Olmerts Verfügung, und ordnete eine Aussetzung des Wahlkampfs der Labour-Partei für die Wahl am 28. März an.

Nur Tage zuvor hatten die meisten dieser Parteien und Politprominenten Scharon der Korruption beschuldigt. Einige hatten sogar gefordert, er müsse vor Gericht gestellt und an der Kandidatur gehindert werden. Es waren neue Beweise aufgetaucht, dass er und seine zwei Söhne Omri und Gilad von dem jüdisch-österreichischen Kasinobesitzer Martin Schlaff Millionen Dollar an Bestechungsgeldern angenommen hatten.

Während sich die Al-Fatah Führung in der palästinensischen Autonomiebehörde kaum vernehmen ließ, unterschied sich nur die Reaktion der militanten palästinensisch-islamischen Gruppen von der Lobhudelei für Scharon als "Mann des Friedens". Ein Hamas-Sprecher bezeichnete ihn als jemanden, "der jahrzehntelang Massaker und Terror gegen unser Volk praktiziert hat", während der Führer des Islamischen Jihad, Anwar Abu Taha, Scharon als blutigen Tyrannen bezeichnete, der "zur Hölle fahren" solle.

Scharon hatte im September 2000 mit seinem Besuch in der Al-Aksa-Moschee mutwillig die zweite Intifada provoziert. Nach der Regierungsübernahme im Jahr 2001 hatte er ein Blutbad zu verantworten, das das Leben von nahezu 3.500 Palästinensern und etwa 450 israelischen Zivilisten gefordert hat. Er hat zudem die massive Expansion zionistischer Siedlungen in den besetzten Gebieten gefördert, so dass es heute fast eine halbe Million Siedler in der Westbank und in Jerusalem gibt.

Sein viel gerühmter Rückzug einiger Tausend Siedler aus dem Gazastreifen hat den Vereinigten Staaten einen Deckmantel für die Unterstützung einer Landnahme verschafft, die sowohl Jerusalem als auch mindestens die Hälfte der Westbank dauerhaft Israel zuschanzen wird. Gleichzeitig hat dieses Manöver der israelischen Armee (IDF) die Möglichkeit gegeben, ihre Militäroffensive gegen die Palästinenser faktisch auszuweiten, ohne sich um jüdische Siedler im eingeschlossenen Gaza sorgen zu müssen. Am 2. Dezember tötete die israelische Luftwaffe im nördlichen Gaza-Streifen zum Beispiel drei Kommandanten des Islamischen Jihad.

Ungeachtet des weltweiten Lobs für den "Mann des Friedens" setzt sich Verteidigungsminister Shaul Mofaz, der Kadima beigetreten ist, auch weiter dafür ein, solche "Sicherheitsoperationen" durchzuführen. In der gleichen Nacht, in der Scharon ins Krankenhaus gebracht wurde, griff die israelische Luftwaffe zwei Zugangsstraßen zum nördlichen Gaza-Streifen an und israelische Artillerieeinheiten verstärkten ihre Beschießung von Nord-Gaza. In der Westbank nahmen Sicherheitskräfte in Dörfern bei Tulkarem, Ramallah, Hebron, Bethlehem und im Flüchtlingslager Jenin neun angebliche Kämpfer fest.

Auch der durch Scharon verursachte wirtschaftliche Niedergang ist katastrophal. 2004 berichtete die Weltbank, dass nach beinahe vier Jahren des Konflikts und israelischer Reisebeschränkungen fast jeder zweite Palästinenser unterhalb der Armutsgrenze lebe, und dass 16 Prozent der Bevölkerung nicht in der Lage seien, sich das Allernotwendigste zum Leben zu leisten. Das Einkommen sei um mehr als ein Drittel gefallen, und jeder vierte arbeitsfähige Mensch sei arbeitslos.

Hinter den heuchlerischen Lobreden für Scharon und den Versuchen, die heillos zerstrittenen Fraktionen in Israels herrschenden Kreisen zu vereinen, steht die ernste Sorge um die politische Stabilität Israels und des ganzen Nahen Ostens. Die Börse in Tel Aviv fiel am Morgen des 5. Januar um sechs Prozent. Wäre sie um acht Prozent gesunken, hätte man den Wertpapierhandel zum ersten Mal seit 1994 vorübergehend einstellen müssen.

Scharons Herrschaft hat einen halb-bonapartistischen Charakter angenommen, vor allem weil die großen israelischen Parteien bei den Wählern kein Vertrauen mehr genießen. Der Likud-Block, den er selbst geschaffen hatte, wurde von den meisten israelischen Arbeitern wegen des teuren und blutigen Kriegs gegen die Palästinenser und wegen der Sozialkürzungen, die aus dem rechten Wirtschaftskurs erwuchsen, immer stärker abgelehnt. Er konnte sich nur an der Macht halten, weil die Labour-Partei im Dezember 2004 eine Koalition mit ihm einging. Doch dies führte lediglich zu einer weiteren Diskreditierung der Labour-Partei selbst.

Damals hatte Labour-Führer Shimon Peres die Koalition gerechtfertigt, indem er Scharons scheinheiligen Gaza-Rückzugsplan als Weg zum Frieden darstellte. Zwei Monate später verlor er die Parteiführung an Peretz, der demagogisch versprach, er werde Likuds Angriffe auf die Arbeiterklasse nicht mehr akzeptieren und wirkliche Verhandlungen mit den Palästinensern aufnehmen.

Außerdem zog sich Scharon den Hass der rechtesten Elemente im Likud zu, der Siedler und religiösen Parteien, die den Abzug aus Gaza als Verrat betrachteten und sich um Netanjahu gruppierten.

Kadima war ein verzweifelter Versuch, mit Hilfe von Peres ein neues politisches Vehikel für Scharon zu schaffen. Eine Meinungsumfrage sah sie vor kurzem bei 42 der 120 Knesset-Sitze, weil Scharon sich sowohl als starker Mann als auch als Friedensstifter präsentieren konnte.

Jetzt könnte Kadima sich leicht in fraktionellen Kämpfen zerreiben oder einfach auseinander brechen. Es ist schwierig, das Wahlergebnis vorauszusagen, aber wenn Likud und Labour zehn Sitze hinzugewinnen, ist alles möglich. Wenn die Kadima-Sympathisanten zu ihren ursprünglichen Parteien zurückkehren, könnte vor allem der Likudblock davon profitieren, der unter Netanjahu die Offensive gegen die Palästinenser mit Sicherheit ausweiten würde.

Ein Labour-Sieg ist weniger wahrscheinlich, doch die Diskreditierung und der Abstieg der Partei ist für die israelische Bourgeoisie ein ernstes Problem. Mit ihr würde ein Werkzeug verschwinden, das zur Eindämmung der Opposition gegen Likuds Militarismus und seine rechte Wirtschaftspolitik benötigt wird. Likuds eigene soziale Basis unter den Siedlern und religiösen Juden ist ebenfalls hochgradig instabil, besonders weil die von Netanjahu und seinen Hintermännern gewünschten Angriffe auf Sozialleistungen und öffentliche Ausgaben diese Schichten sehr hart treffen.

Die Bedingungen für größere soziale und politische Kämpfe reifen deshalb auch in Israel.

Hinzu kommt, dass Scharons Bemühung um eine Destabilisierung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und um die Verelendung der palästinensischen Bevölkerung Wirkung gezeigt haben. Das Ergebnis sind eine breit gefächerte Radikalisierung sowie tiefe Empörung und Hass gegen die israelische Repression und Unterdrückung.

Wahrscheinlich wird Hamas als Hauptgewinner aus den palästinensischen Wahlen vom 25. Januar hervorgehen. Berichten zufolge versinkt die Palästinensische Autonomiebehörde im Chaos, täglich kommt es zu Kämpfen zwischen den PA-Sicherheitskräften und lokalen Milizen. Die Autonomiebehörde beschuldigt die islamischen Gruppen krimineller Handlungen, während diese der PA vorwerfen, sie organisiere Provokationen, um einen Vorwand für die Absage der Wahlen zu schaffen, die sie vermutlich verlieren werde.

Täglich kommt es zu Protesten wütender Demonstranten, die Arbeitsplätze oder die Freilassung von Gefangenen fordern.

Die Unruhe ist sogar auf Ägypten übergesprungen. Die ägyptische Polizei hat am 4. Januar etwa hundert Palästinenser festgenommen, nachdem bewaffnete Mitglieder der zu Al Fatah gehörenden Al-Aksa-Märtyrer-Brigaden zwei Bulldozer gestohlen und damit die Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten überquert hatten. Zwei ägyptische Soldaten wurden getötet und 37 verwundet. Die ägyptischen Sicherheitskräfte haben behauptet, sie könnten dem Strom der über die Grenze drängenden Palästinenser nicht mehr Herr werden. Verteidigungsminister Shaul Mofaz warnte, Israel werde intervenieren, wenn Ägypten nicht in der Lage sei, die Situation wirksam unter Kontrolle zu bringen, was die Gefahr einer neuen Besetzung des Gaza-Streifens heraufbeschwört.

Siehe auch:
Warum gab Bush Israel grünes Licht für die Ermordung des Hamas-Führers Rantisi?
(24. April 2004)
Europäische Regierungen lassen Scharon freie Hand gegen die Palästinenser
( 13. April 2002)
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