Das Wall Street Journal giftet gegen Spielbergs Film München

Steven Spielbergs Film München ist eine künstlerische und moralische Betrachtung der israelischen Reaktion auf die tragischen Ereignisse bei den Olympischen Spielen 1972. Damals hatten elf israelische Athleten ihr Leben verloren, nachdem sie von Mitgliedern der palästinensischen Gruppe Schwarzer September als Geiseln genommen worden waren. Spielbergs Film schildert, wie die israelische Regierung daraufhin ein geheimes Kommando zusammenstellt und aussendet, um die mutmaßlichen Drahtzieher der Geiselnahme zu liquidieren. Je weiter die Zahl der Opfer ansteigt, desto stärker zweifeln die Mitglieder des Kommandos - mit einer unrühmlichen Ausnahme - an ihrer Mission und durchleben verschiedene Stadien von Seelenqualen und Reue.

Der Film stellt die Moralität und Effizienz eines solchen Mordexzesses in Frage. Spielberg und sein Co-Autor Tony Kushner haben ein Werk geschaffen, das einen unmissverständlichen Bezug zum aktuellen US-Krieg im Irak und allgemein zur rücksichtslosen Politik der herrschenden Elite in Amerika herstellt.

Spielbergs Film wird von reaktionären Kräften in den Vereinigten Staaten heftig kritisiert. So heißt es auf einer ultrarechten Website, in München gehe es darum, "den Terroristen nicht auf die Zehen zu treten. Und alles ins Gegenteil zu verkehren, während sie uns angreifen und töten. In Spielbergs Welt schafft man Frieden, wenn man Terroristen nicht verfolgt. In der wirklichen Welt schafft man weiteres Blutvergießen, wenn man Terroristen nicht verfolgt."

Wie nicht anders zu erwarten, beteiligt sich auch das Wall Street Journal an dem Angriff auf den Film.

Die Herausgeber der Zeitung beauftragten Bret Stephens, den ehemaligen Chefredakteur der Jerusalem Post (die den Kriegstreiber Paul Wolfowitz im Jahr 2003 zum "Mann des Jahres" gekürt hatte) und heutigen Mitherausgeber des Journal, einen Kommentar zum Film zu verfassen.

Stephens' Kommentar ist abfällig und unlauter. Zunächst bezieht er sich auf Spielbergs Erklärung, er habe in München alles daran gesetzt, Israel "in keiner Weise" anzugreifen. Dann stellt Stephens die rhetorische Frage: "Also warum regen sich Israelis und allgemein als 'israelfreundlich' bekannte Leute so über diesen Film auf?"

Man darf vermuten, dass die Reaktionen in Israel weitaus vielschichtiger sind, als Stephens seine Leser glauben machen möchte. Das zeigt sich allein schon an den wohlwollenden Kommentaren zweier Witwen der ermordeten Athleten. Und dass sich die "als 'israelfreundlich' bekannten Leute" in den Vereinigten Staaten, zumindest deren privilegierter und rechter Teil, darüber ereifern, kann nur ein Anlass sein, den Filmmachern zu gratulieren.

Als ersten Beweis für die Perfidie des Films führt Stephens an, dass Spielberg den Drehbuchautor Tony Kusher wählte, um das ursprüngliche Skript von Eric Roth zu überarbeiten. Kushner, beschwert sich Stephens, "glaubt, die Gründung des Staates Israel sei 'ein historisches, moralisches und politisches Unglück' für das jüdische Volk. Er glaubt, die Politik des Staates Israel sei 'ein systematischer Versuch, die Identität der palästinensischen Bevölkerung zu zerstören'. Er glaubt, die Verantwortung dafür, zwischen Israelis und Palästinensern Frieden zu schaffen, liege in erster Linie bei den Israelis, 'da sie viel mächtiger sind'. Er glaubt, der israelische Premierminister Ariel Scharon sei ein 'nicht angeklagter Kriegsverbrecher'."

Stephens gibt bloß einen Teil von Kushners Originalkommentar wieder. Hier sind die genauen Worte, die als Covertext für eine CD geschrieben worden sind: "Ich will, dass der Staat Israel existiert (da er das sowieso schon tut) und ich will, dass die Gräber der Erzeltern geehrt wissen und ich will mit Juden zusammen an der Klagemauer beten und gleichzeitig (und ich fürchte, das wird den Verkauf eurer CD nicht fördern) glaube ich, die Gründung des Staates Israel war für die jüdische Bevölkerung ein historisches, moralisches und politisches Unglück." Komplexität und Widersprüchlichkeit sind allerdings nicht Stephens' Stärke.

Stephens wäre entsetzt, würde er erfahren, dass die gut informierte Weltöffentlichkeit den Inhalt von Kushners Äußerung weithin für richtig hält — auf jeden Fall die Behauptung, dass Israel systematisch die Identität (und mehr als das!) der palästinensischen Bevölkerung zerstört hat und dass Scharon ein Kriegsverbrecher ist.

Stephens behauptet, München fördere Antisemitismus (er bezieht sich auf die "seltsame Darstellung von 'Juden'"), da der Film wiederholt auf die Kosten verweist, die mit der Tötung der palästinensischen Zielpersonen verbunden waren. Der Autor hat den ganzen Punkt nicht verstanden. Ein besonders abscheulicher Aspekt der Operation ist das "Blutgeld", das für die Durchführung der Morde ausgegeben wurde. Als eines der Kommando-Mitglieder bemerkt, "Palästinenser zu töten ist nicht gerade billig", dann geht es dabei nicht nur um Geld, auch wenn Stephens eine solche Vorstellung offensichtlich völlig fremd ist.

Der Artikel des Wall Street Journal greift den Vorwurf auf, der Film nehme sich bei der Erzählung seiner Geschichte "historische Freiheiten" heraus. Als Beweis zitiert Stephens die Behauptung von Angehörigen des israelischen Geheimdienstes Mossad, dass die Quelle des Buches, auf dem München basiert, "keine Erfahrungen bezüglich Geheimdienstarbeit hatte, außer als Sicherheitsbeauftragter für die israelischen Fluggesellschaft El Al tätig gewesen zu sein".

Der Mossad leugnet seit Langem, jemals den Tötungsbefehl gegen die mutmaßlichen Organisatoren der Münchner Geiselnahme gegeben zu haben. Dies ist eine offensichtliche Lüge, die allgemein auch als solche verstanden wird. Warum sollte man dem Mossad also in diesem oder einem anderen Fall Glauben schenken? Jedenfalls ist München mit den Worten der Filmemacher "von wirklichen Ereignisse inspiriert" und es ist bekannt, dass diese Ereignisse stattgefunden haben. Dieser Vorwurf ist nur ein Ablenkungsmanöver, um den Film zu diskreditieren.

Stephens behauptet absurderweise, der Film stelle die Israelis so dar, als würden sie "schmutzige Taten en masse" begehen, während die palästinensischen Charaktere mit Samthandschuhen angefasst werden. In Wirklichkeit ist der ganze Film von Szenen der Geiselnahme in München und ihrem blutigen Ausgang durchzogen, die den Zuschauer immer wieder an das schreckliche Ereignis erinnern. Stephens ist einfach unaufrichtig, wenn er schreibt, es sei "nichts Falsches daran, Palästinenser als vollwertige menschliche Wesen darzustellen".

Den Israelis, behauptet er, werden im Film gute Argumente für ihren Rachefeldzug verweigert. Es kommt Stephens natürlich niemals in den Sinn, dass solche "guten Argumente" einfach nicht existieren.

Wenn man die tragischen Hintergründe der heutigen Situation im Nahen Osten objektiv untersucht - eingeschlossen den Mord an sechs Millionen europäischen Juden durch den deutschen Faschismus und die Vertreibung von hunderttausenden Palästinensern aus ihrem Land durch die Zionisten - so wäre eine Politik der Rache von Anfang an auszuschließen. Der Kommentator des Journal ist erzürnt darüber, dass zu dem Kommando ein blutlüsterner Südafrikaners gehört, dessen Credo lautet: "Das einzige Blut, das für mich zählt, ist jüdisches Blut". Unglücklicherweise ist diese reaktionäre und faschistoide Rhetorik in Israel nicht ohne Erfolg kultiviert worden.

Der Film, argumentiert Stephens, etabliere einen "falschen Gegensatz" zwischen "jüdischen Idealen und israelischen Taten". Als Beweis führt er an, dass "Thora und Talmud voll sind mit Beschreibungen von gerechtfertigten Gewalttaten gegen den einen oder anderen Feind. [...] Es ist das Christentum, nicht das Judentum, das rät, die andere Wange hinzuhalten."

Stephens bringt nicht nur zahllose blutdürstige christliche Fundamentalisten in Verlegenheit sondern stützt sich auch in entlarvender Weise auf die primitive und brutale Tradition des "Auge um Auge", die vor einigen tausend Jahren in den Frühstadien der menschlichen Zivilisation erstmals formuliert worden war, um die aktuelle israelische Politik zu rechtfertigen.

Stephens rügt den Film dafür, einen Charakter zu zeigen, "den Sohn zionistischer Pioniere", dessen Enttäuschung über Israel wächst und der zum Ende des Films "seine Familie nach Brooklyn bringt und davon überzeugt ist, dass der Mossad ihn auf die Abschussliste gesetzt hat". Mit anderen Worten: Er rügt München für eines seiner sehr wohl überlegten und bewussten Themen, nämlich, dass zionistische Politik für diejenigen eine moralische Katastrophe ist, die berufen sind, sie durchzusetzen. Stephens sagt uns nicht, ob er eine solche Entwicklung für möglich hält, er stellt nur klar, dass er sie nicht schauspielerisch dargestellt sehen möchte.

Schließlich kritisiert Stephens die Entscheidung der Filmemacher, "das eigentliche Blutbad an den israelischen Athleten (auf bizarre Weise durch eine besonders vulgäre Sexszene unterbrochen) am Ende des Films und nicht am Anfang zu zeigen. Der Effekt ist die Vertauschung von Ursache und Wirkung, um das Massaker wie eine Antwort auf die israelischen Gräueltaten erscheinen zu lassen."

Das ist offensichtlich unwahr. Die Geiselsequenz, die am Anfang ziemlich brutale Sequenzen enthält, taucht während des ganzen Films immer wieder auf. Hätten Spielberg und Kushner den Tod der Athleten an den Beginn ihres Films gestellt, würde sich Stephens bestimmt darüber beschweren, dass das Publikum sie am Ende des Films wieder vergessen haben sollte.

Stephens zitiert Kushners Kommentar, "Wenn man damit beginnt, eine Rechnung begleichen zu wollen, dann schreibt man ein schlechtes Stück oder einen schlechten Film", und er schließt mit den Worten: " München anzuschauen heißt, die Wahrheit dieser Aussage zu erkennen."

Dieser schwache Versuch eines flotten Spruchs geht in die Hose, weil Stephens nirgendwo dargelegt hat, dass München ein "schlechter Film" ist oder eine Rechnung begleichen will. Wir haben lediglich erfahren, dass er den Film missbilligt und unglücklich darüber ist, dass das Publikum ihn anschaut. Rechte Kommentatoren werden nicht müde zu behaupten, dass Marxisten nur auf der Suche nach der 'korrekten' Ideologie und daher unfähig seien, in der Kunst über den Tellerrand ihrer Politik hinauszusehen. In Wirklichkeit nimmt die echte marxistische Kritik eine weitaus anspruchsvollere und objektivere Haltung zu künstlerischen Arbeiten ein. Es ist ohne weiteres möglich, eine 'falsche' Politik zu verfolgen und einen ehrlichen und wertvollen Film zu machen. Wir sind in vielen sehr wichtigen Fragen mit Spielberg und Kushner nicht einverstanden.

Stephens jedoch sagt nichts über die künstlerische Qualität des Films, über die Glaubwürdigkeit seiner Darstellung. Seine schäbigen intellektuellen Methoden, die eines wütenden Ideologen - Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Ablenkungsmanöver, Verleumdungen - entlarven vor allem ihn selbst als einen Mann, "der eine Rechung begleichen will".

München hat Teile des politischen Establishments in den Vereinigten Staaten nervös gemacht — bis zu einem gewissen Grad deshalb, weil der Film aus gutem Grund als Teil eines beunruhigend kritischen Trends gesehen wird (Fahrenheit 9/11, Good Night and Good Luck, Syriana, etc.). Aber München bleibt den Rechten auch aus ganz eigenen Gründen im Halse stecken.

Seine kritische Herangehensweise an die israelische Politik bereitet den "als israelfreundlich bekannten Leuten" zweifellos Unbehagen, und das sollte sie auch. Die Unterdrückung solcher Kritik ist eines der abscheulichsten Charakteristika der Medien- und Unterhaltungsindustrie in Amerika. Dass die Palästinenser seit Jahrzehnten schikaniert und unterdrückt werden, dass sie eine tragische Geschichte haben, die erzählt werden muss, oder einfach, dass sie wie andere Menschen leben und sterben — dies sind wohl gehütete Geheimnisse in den Vereinigten Staaten.

Es gibt allerdings darüber hinaus noch eine generelle Besorgnis, die der Feindseligkeit gegen das Werk von Spielberg und Kushner Auftrieb verleiht.

München ist ein Film mit bestimmten künstlerischen und ideologischen Beschränkungen. Er bietet bezüglich der israelisch-palästinensische Frage nichts wirklich Neues, geschweige denn etwas Radikales. Er nimmt eine allgemein liberale, pazifistische Haltung ein. Sein echter Verdienst liegt darin, den Tod der Opfer des geheimen Kommandos, einschließlich jener, die möglicherweise Terrorakte ausgeführt haben, in erschreckenden Farben zu zeichnen.

Spielberg und Kushner sind sich über vieles nicht bewusst, aber sie haben eine klare Vorstellung von der Unmenschlichkeit staatlicher Gewalt und staatlichen Mordens. Die Feinfühligkeit und das Interesse am Detail, die in die Darstellungen der Tode eingingen, sind auffällig und lobenswert. Es sind echte menschliche Wesen, die erschossen und vernichtet werden.

Der Film hinterfragt indirekt die offizielle Politik der zwei großen Parteien in den USA seit dem 11. September 2001 und die rachsüchtigen Argumente, die bemüht werden, um den so genannten globalen Krieg gegen den Terror zu rechtfertigen. Darüber hinaus hinterfragt er eine jahrzehntelang im amerikanischen Leben kultivierte Haltung der Brutalität und Rachsucht, die unter anderem Fragen wie die Behandlung der Armen, die Todesstrafe etc. betrifft.

Die herrschenden Elite der Vereinigten Staaten, ihren Repräsentanten und ihre Medien haben sich enorm ins Zeug gelegt, um die amerikanische Bevölkerung an Brutalität im In- und Ausland zu gewöhnen. Keine Kosten wurden gescheut, keine Gelegenheit verpasst, weder in der unmittelbaren Regierungspropaganda, noch in der quasi staatlich gesponserten Propaganda (Kabelfernsehsender, Hollywood 'Blockbuster' etc.) oder auch in der so genannten 'Gegenkultur' (Filmen von Tarantino, Scorsese und anderen) sowie Videospielen, Popmusik und so weiter. Gleichgültigkeit und Abstumpfung gegenüber den Folgen von Gewalt sind in den letzten Jahrzehnten ein zentrales Motiv der amerikanischen Popkultur gewesen.

München muss man zugute halten, dass der Film eine andere Richtung einschlägt, die Bevölkerung für die Folgen von Gewalt gegen andere Menschen sensibilisieren will und dabei auch darauf hinweist, was diese Gewalt mit den Tätern macht. Das war einer unserer Kritikpunkte an Spielbergs Saving Private Ryan (Der Soldat James Ryan) und den Behauptungen, es handle sich um einen Antikriegsfilm: "Was bedeutet die Phrase 'Antikrieg'? Das heißt nicht einfach, dass man gegen das ist, was einem selbst und der Armee des eigenen Landes angetan wird. Es beinhaltet auch, dass man gegen das ist, was dem Feind angetan wird und was man selbst dem Feind antut. Es beinhaltet moralische Selbstkritik." Dieses Element ist in München präsent und es ist eindeutig eine Antwort auf die Politik der herrschenden Elite nach dem 11. September, und zwar sowohl in Hinblick auf ihren Kolonialkrieg im Irak als auch auf ihre Unterhöhlung grundlegende Rechte in den Vereinigten Staaten - eine Politik, die insgesamt auf heuchlerische und verlogene Weise mit dem Kampf gegen Terrorismus gerechtfertigt wird.

Im November 2001 trafen sich einige Dutzend Vertreter der Hollywoodstudios, Fernsehsender und Gewerkschaften der Unterhaltungsindustrie für zwei Stunden mit Karl Rove, George W. Bushs politischem Chefberater, um zu diskutieren, wie die Filmwelt zum "Krieg gegen den Terror" beitragen könne. Nach allem, was man hörte, versprachen die Anwesenden (einschließlich den Vertretern von DreamWorks SKG, dem von Spielberg mitbegründeten Studio) enthusiastisch, den Krieg zu unterstützen.

Die Dinge haben sich nicht wie geplant entwickelt, auch für Rove persönlich nicht. Das Desaster im Irak steht im Zentrum dieser Schwierigkeiten. Während es unzweifelhaft in einem aufgeheizten Teil der Bevölkerung Unterstützung für neues und größeres Blutvergießen gibt, haben die Barbarei und das Chaos im Irak auf einen Großteil der Bevölkerung eine gegenteilige Wirkung gehabt und sie stärker für menschliches Leiden sensibilisiert. Und wenn solch eine Reaktion eine breite Öffentlichkeit auf tausenden Kinoleinwänden erreicht, kann das für Stephens und die verantwortlichen beim Wall Street Journal nur sehr beunruhigend sein.

Siehe auch:
Kunst als Mittel zur Menschlichkeit
(28. Januar 2006)
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