Peer Steinbrücks Tirade gegen den Sozialstaat

In einer Grundsatzrede vor der Industrie- und Handelskammer (IHK) hat Bundesfinanzminister Peer Steinbück (SPD) in der vergangenen Woche erneut bewiesen, dass die Sozialdemokraten in der großen Koalition nicht die Rolle des Bremsers spielen, sondern die Aufgabe des Einpeitschers übernehmen, wenn es um den Abbau sozialer Errungenschaften und Rechte geht.

Unter dem Beifall der versammelten Unternehmensvertreter erklärte Steinbrück, der Staat solle sich künftig nur noch auf seine "unverzichtbaren Aufgaben" konzentrieren und dürfe sich sozialstaatliche Leistungen auf dem derzeitigen Niveau nicht länger leisten. Er erteilte eine deutliche Absage an die "ungebrochen hohen" Erwartungen, die - angefangen bei den "Bedürftigen" bis hin zur "oberen Hälfte" der Bevölkerung - an den Staat gerichtet würden. Der "auf Alimentation ausgerichtete Sozialstaat" müsse abgeschafft werden.

Der Staat wolle aktivierend wirken, betonte der Finanzminister, daher werde man künftig im sozialpolitischen Bereich alles abbauen, "was zu Passivität und übertriebener Anspruchshaltung führt". Ziel und Aufgabe des "modernen Staates" könne es nicht sein, "jeden Einzelnen gegen alle Unwägbarkeiten des Marktes zu schützen". Die wichtigste Funktion der Sozialpolitik bestehe darin, dem "Bürger zu ermöglichen, [...] seine Existenz aus eigener Kraft zu sichern".

Jeder, der die sozialpolitische Entwicklung in Deutschland in den vergangenen Jahren erlebt hat, weiß, dass diese Worte einer verschärften Kampfansage an die große Mehrheit der Bevölkerung gleichkommen. Denn was sind die "Unwägbarkeiten des Marktes", vor denen der Staat die Menschen nicht länger schützen soll? Entlassungen und Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Hungerlöhne, die zur Ausübung von zwei oder mehr Jobs zwingen und kein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Und auch was Steinbrück schönfärberisch als "aktivierende" Sozialpolitik bezeichnet, ist vielen durch Hartz IV bereits bekannt und besteht bislang im Streichen von Leistungen, Ein-Euro-Jobs und dem Zwang, jede angebotene Arbeit anzunehmen.

Als Rechtfertigung für den fortwährenden Sozialabbau führt Steinbrück die Verschuldung der öffentlichen Haushalte an. Die soziale Sicherung sei darüber hinaus aufgrund der Erosion sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr finanzierbar. Der Finanzminister verschweigt dabei bewusst, wer die Verantwortung für diese Entwicklung trägt.

Die Austrocknung der öffentlichen Kassen sowie die stetige Abnahme von regulären und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen sind eng verbunden mit der Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die die Schröder-Regierung in den vergangenen sieben Jahren verfolgt hat und die vor ihr bereits von der Kohl-Regierung eingeleitet wurde. Kern dieser Politik war eine gewaltige Umverteilung des gesellschaftlichen Vermögens von unten nach oben, deren Folgewirkungen jetzt die nächste Sparrunde zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung legitimieren sollen.

Belastet wurden die Staatsfinanzen in den vergangenen Jahren vor allem durch die umfassenden Steuergeschenke und Subventionen für Unternehmen und Wohlhabende. Der Spitzensteuersatz sank unter der Regierung Schröder von 53 auf 42 Prozent, die Körperschaftssteuer von 42 auf 25 Prozent. Die öffentlichen Haushalte stützen sich in wachsendem Maße auf Einnahmen aus der Lohnsteuer und aus Massensteuern wie der Mehrwertsteuer, deren nächste Erhöhung von der neuen Regierung für das Jahr 2007 beschlossen wurde.

Die stagnierenden oder gar sinkenden Reallöhne, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und die fortschreitende Vernichtung regulärer Arbeitsplätze zu Gunsten von Minijobs, freiberuflicher Tätigkeit, so genannter "Praktika" etc. führen in der Tat dazu, dass die Einnahmen des Staates aus der Lohnsteuer abnehmen. Aber auch hier kommt der Regierungspolitik der vergangenen Jahre eine höchst wichtige Rolle zu, da sie insbesondere durch die Hartz-Reformen, aber auch durch andere Maßnahmen wie Privatisierungen, Lockerung des Kündigungsschutzes, Anhebung der Wochenarbeitszeit im Öffentlichen Dienst etc. dieser Entwicklung selbst Vorschub geleistet hat.

Resultat dieser Umverteilung ist, dass die Unternehmen Rekordgewinne melden und die Zahl der Millionäre in der Bundesrepublik so hoch wie nie zuvor ist, während gleichzeitig nicht nur die öffentlichen Kassen leer, sondern die arbeitende Bevölkerung sowie die Rentner und Arbeitslosen insgesamt mit einem kontinuierlich sinkenden Lebensstandard konfrontiert sind.

Für Steinbrück stellt sich dieser erzwungene Verzicht beim Gros der Bevölkerung als "Mentalitätswechsel" vom "‘Sowohl als auch’ hin zum ‘Entweder-oder’ der knappen Kassen" dar. "Neuer Fernseher zur Fußball-WM oder Jahresurlaub? Neues Auto oder neuer energiesparender Kühlschrank? Alles auf einmal geht nicht. Das ist beim Staat wie bei den meisten seiner Bürger", erklärte er selbstgefällig vor dem IHK-Publikum, das finanzielle Probleme dieser Art wohl selbst kaum kennen dürfte.

Zur gleichen Zeit mahnte Steinbrück die Wirtschaftsvertreter, die Implikationen der Umverteilung und des Sozialabbaus nicht zu übersehen und leichtfertig zu glauben, sie könnten am besten gänzlich auf den Staat verzichten. Er wies auf die wachsende soziale Kluft und Spannungen hin, die "Fliehkräfte", die den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdeten: "Diese Fliehkräfte werden immer stärker spürbar: zwischen armen und reichen Stadtteilen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Familien mit Kindern und Kinderlosen, zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten, und nicht zuletzt auch zwischen organisierten und unorganisierten Interessensgruppen. Ich warne davor, diese Fliehkräfte zu unterschätzen oder sie erst zu Kenntnis zu nehmen, wenn sie auch in den besseren Stadtvierteln spürbar werden."

Steinbrück konnte jedoch seinen Zuhörern versichern, dass der Staat um die Aufrechterhaltung der Ordnung Sorge tragen und ihre "besseren Stadtviertel" schützen werde. "Um solche Fliehkräfte vorbeugend einzudämmen", so der Minister, "braucht es einen handlungsfähigen Staat."

In diesem Zusammenhang stellte Steinbrück exemplarisch die Haushaltsposten für Soziales in Höhe von 128 Milliarden Euro und für "Sicherheit" (Armee, Polizei etc.) von 30 Milliarden Euro gegenüber. Er nahm diese Zahlen zum Anlass, über die "Widersprüche und Selbsttäuschungen" hinsichtlich der gesellschaftspolitischen Bedeutung dieser staatlichen Politikfelder zu sinnieren: Im Bewusstsein der Konsequenzen seiner Politik und in Erwartung kommender sozialer Unruhen setzt der Sozialdemokrat auf die deutsche Polizei und den starken Staat.

Doch bei allen Warnungen vor den gesellschaftlichen "Fliehkräften" wollte Steinbrück am Ende nicht als Sündenbock für diese Politik dastehen. So appellierte er an die versammelten mächtigen Männer der deutschen Wirtschaft sowie an die anwesenden Medienvertreter, "in der Öffentlichkeit nicht den falschen Eindruck [zu vermitteln], die Politik versage durchweg und treffe meist fehlerhafte oder unzureichende Entscheidungen". Die in Deutschland "verbreitete Empörungskultur" sei Schuld an mangelnder Zuversicht, "verunsichert auch die Menschen und verhindert damit ihre Einbindung und ihre Aufgeschlossenheit für weitere Reformschritte".

Wie schon Schröders Kabinett führt auch die neue Regierung die Unzufriedenheit und Opposition gegen ihren sozialpolitischen Kurs auf ein Vermittlungsproblem zurück!

Dass die Regierung und ihr Finanzminister indes entschlossen sind, ihren Kurs auch gegen gesellschaftlichen Widerstand durchzusetzen, wurde in den abschließenden Bemerkungen Steinbrücks deutlich. Der "neue gesellschaftspolitische Grundkonsens", den Steinbrück einfordert, bedürfe "einer politischen Kraftanstrengung, wie sie wohl nur eine große Koalition wird aufbringen können". In jeder anderen Konstellation würden sich die "Lobby, die versammelte Wissenschaft, alle Interessensvertretungen und Verbände [...] mit ihren Forderungen und Protesten hinter eine der beiden Volksparteien klemmen".

Siehe auch:
Peer Steinbrück wird Finanzminister
(14. Oktober 2005)
Loading