Zeitgleich mit Berlin fand auch in Straßburg, dem Sitz des Europa-Parlaments, eine Demonstration gegen die Bolkestein-Richtlinie statt. Rund 15.000 Menschen nahmen daran teil. Viele Teilnehmer, die in Delegationen vor allem aus Frankreich, Deutschland und Belgien aber auch aus einigen anderen Ländern angereist waren, gehörten zu politischen Gruppierungen wie Attac, der französischen Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), der französischen Kommunistischen Partei (KPF), der deutschen maoistischen MLPD und einigen Gewerkschaftsgruppen.
Während in Berlin die Spitzenvertreter der Gewerkschaften und Regierungsmitglieder einige minimalen Änderungen als Erfolg darstellten und sich für eine Annahme der veränderten Richtlinie einsetzten, lehnten die Redner in Straßburg die bisherigen Zugeständnisse als unzureichend ab. Mehrere Redner forderten die völlige Verhinderung der europäischen Dienstleistungsrichtlinie.
Aber nicht einer von ihnen setzte sich ernsthaft und kritisch mit der Rolle der Gewerkschaften und Sozialdemokraten auseinander. Niemand wagte es, die schlichte Tatsache auszusprechen, dass die Bolkestein-Richtlinie ein Kernstück der Europäischen Union darstellt und der Kampf dagegen eine sozialistische Perspektive erfordert, die sich nicht nur gegen einzelne Aspekte der EU-Politik richtet, sondern deren kapitalistische Grundlage in Frage stellt.
So warnte der Berliner Politikprofessor Peter Grottian vom Aktionsbündnis Sozialproteste zwar davor, sich auf einen Kompromiss zur Bolkestein-Richtlinie einzulassen, und rief: "Bolkestein kann man nicht reformieren, sondern nur abschaffen!" Doch seine ganze Perspektive beschränkte sich darauf, einen "Produkt- und Dienstleistungsboykott" gegen die "neoliberale Politik der EU" zu organisieren.
Noch deutlicher wurde die opportunistische Ausrichtung der Demonstration, als Francis Wurtz, ein führendes Mitglied er französischen KP und Vorsitzender der Fraktion "Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke" im Europaparlament ans Mikrophon trat. Er rief: "Wir haben die Befürworter der Richtlinie in die Defensive gedrängt. Viele Bereiche wurden bereits ausgeklammert. Unterschätzen wir nicht diese Veränderungen, wir haben viel dafür getan." Zwar bleibe der "marktradikale Charakter der gesamten Richtlinie" von den Veränderungen weitgehend unberührt, und es gebe "durchaus keine Garantie, dass diese Zugeständnisse Bestand haben", aber das "Bündnis der fortschrittlichen Kräfte" habe bereits wichtige Erfolge erzielt.
Francis Wurtz Rede machte deutlich, dass es sich bei der Straßburger Demonstration im Wesentlichen um eine Alibi-Veranstaltung handelte. Mit radikalen Worten wurde versucht, den wachsenden Widerstand gegen die reaktionäre Politik der Brüsseler EU-Bürokratie aufzufangen und hinter die Politik der Gewerkschaften und Sozialdemokraten zu kanalisieren, die sich bereits für eine Verabschiedung der Richtlinie stark machen.
Im Gegensatz dazu verbreiteten Reporter der WSWS auf der Demonstration ein Flugblatt in deutscher und französischer Sprache, das mit den Worten begann: "Der Kampf gegen die EU-Institutionen erfordert eine sozialistische Perspektive". Weiter heißt es: "Die wichtigste Aufgabe, vor der die Demonstranten in Berlin und Straßburg stehen, besteht darin, sich mit einer sozialistischen Perspektive vertraut zu machen. Die Proteste müssen zum Ausgangspunk einer breiten politischen Mobilisierung gemacht werden, in der die europäische Bevölkerung den Brüsseler EU-Behörden und den hinter ihr stehenden Großkonzernen und Regierungen entgegentritt und eine tiefgreifende Umwälzung der Gesellschaft anstrebt, in der die Bedürfnisse der Bevölkerung höher gestellt werden als die Profitinteressen der Wirtschaft."
Über diese Fragen fanden viele Gespräche mit Teilnehmern der Demonstration statt. Einer davon war Jean-Louis. Er ist Mitglied der Gewerkschaft CGT im Ortsverband Roissy bei Paris (etwa 480 km von Straßburg) und auch bei Attac aktiv. Er war mit zwei Kolleginnen zur Demonstration gekommen.
"Ich bevorzuge es, heute hier in Straßburg zu demonstrieren anstatt am Dienstag mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund, weil der beim EU-Referendum [gegen die europäische Verfassung in Frankreich] eine Ja-Stimme empfohlen hatte. Ich bin mit der Haltung des EGB (Europäischen Gewerkschaftsbunds) nicht einverstanden und demonstriere lieber heute mit den sozialen Bewegungen gegen Bolkestein.
Ein Nein’ zu Bolkestein ist die Fortsetzung der Ablehnung des Verfassungsreferendums vom 29. Mai. Damit wenden wir uns gegen die Maßnahmen, die man heute schon in Frankreich bei allen Werften finden kann, wie zum Beispiel in Saint-Nazaire am Atlantik oder auch bei Alstom, wo billige Arbeitskräfte und Subunternehmer in Hülle und Fülle eingesetzt werden."
Auf die Rolle der CGT angesprochen, die der KPF nahe steht, berichtete Jean-Louis von den Vorbereitungen des kommenden Gewerkschaftskongresses, der im April stattfinden soll und auf dem er heftige Auseinandersetzungen erwartet.
"Wir haben Führer, denen man auf die Finger hauen muss. Es gibt Leute bei der CGT, die man ersetzen müsste, Bernard Thibault (Generalsekretär), ganz speziell aber auch Jean-Christophe Le Guigou (nationaler Sekretär, zuständig für Wirtschaftsfragen). Die haben bei dem Referendum mit Ja gestimmt, ohne sich groß um Bolkestein zu kümmern oder auch um das Problem der zu Ende gehenden Energievorräte und die Umweltbelastungen."