Die Photos aus Abu Ghraib und der Schwindel mit der "Meinungsfreiheit"

Die Veröffentlichung weiterer grauenhafter Photographien und Videoaufnahmen aus dem Gefängnis von Abu Ghraib wirft ein erhellendes Licht auf den verlogenen und zutiefst bösartigen Charakter der Kampagne, die im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen antimuslimischer Karikaturen in der europäischen und internationalen Presse angeblich für die "Meinungsfreiheit" geführt wird.

Die Sendung "Dateline" des australischen Fernsehens SBS strahlte am 15. Februar eine Reihe von neuen Bildern aus dem irakischen Gefängnis von Abu Ghraib aus. Ein Video zeigt einen Mann, der mit Handschellen gefesselt seinen Kopf gegen eine metallene Zellentür schlägt. Auf anderen Bildern wird derselbe Mann gezeigt, wie er mit seinem eigenen Kot beschmiert kopfüber von der Decke baumelt. Auf einem anderen Photo ist die Leiche eines Mannes zu sehen, der anscheinend während einer Befragung durch die CIA gestorben ist. Einige Bilder zeigen Gefangene, die aus ihren Wunden bluten. SBS strahlte auch ein Video aus, auf dem fünf Männer mit über ihre Köpfe gestülpten Tüten auf Befehl der Wachen onanieren.

Unabhängig davon erhielt die Seite Salon.com einen anscheinend vollständigen Satz von Photos aus Abu Ghraib, die zwischen dem 18. Oktober und dem 30. Dezember 2003 aufgenommen wurden.

Mark Benjamin von Salon.com erklärte, das Material beinhalte einen zusammenfassenden Bericht, der sich in Teilen wie folgt liest: "Eine Sichtung des gesamten Computermaterials... erbrachte insgesamt 1325 Bilder und 93 Videoaufnahmen vermutlichen Missbrauchs von Gefangenen, 660 Bilder pornographischen Inhalts, 546 Bilder offenbar toter irakischer Gefangener, 29 Bilder von Soldaten, die sexuelle Handlungen simulieren, 20 Bilder eines Soldaten mit einem zwischen seine Augen gezeichneten Hakenkreuz, 37 Bilder von Armeehunden, die zum Missbrauch von Gefangenen verwendet werden, sowie 125 Bilder unklarer Handlungen."

Laut Benjamin zeigen die Bilder unter anderem "einen nackten, mit Handschellen gefesselten Mann in verrenkter Stellung; einen toten Mann mit Spuren harter Schläge; einen Gefangenen, der sich augenscheinlich selbst mit einem Gegenstand sexuell missbraucht; einen nackten, vermummten Gefangenen, neben einem amerikanischen Offizier stehend, der gelangweilt an eine Wand gelehnt einen Bericht schreibt. Andere Photographien stellen eine blutige Zelle dar."

Die von SBS gesendeten Bilder bedeuten "einen Quantensprung, was die Schwere des augenscheinlichen Missbrauchs angeht. Es fügt unserm Wissen um das, was wir von den Vorgängen dort gewusst haben, einiges hinzu", kommentierte Mike Carey, Chefproduzent von Dateline. Walter Shapiro von Salon bemerkte, die "bislang von Nachrichtenagenturen veröffentlichten Photographien" stellten "lediglich einen Teilausschnitt der grauenhaften Dokumentation der Regierung über Abu Ghraib dar".

Die schrecklichen Bilder von systematischer Folter, Misshandlung und Mord zeigen in aller Deutlichkeit, was die "Werte" der "westlichen Zivilisation", wie sie von den Kreuzrittern des "Kampfs der Kulturen" proklamiert werden, für große Teile der Welt wirklich bedeuten, besonders für die arabische und muslimische Welt. George W. Bush, seine Apologeten in den Medien und seine Komplizen in der Demokratischen Partei können davon plappern, die "Freiheit in den Irak zu bringen" - in den Augen gewaltiger Menschenmassen ist die US-Präsenz in jenem Land synonym mit allgegenwärtigen, sadistischen Formen von Unterdrückung und Terror.

Wie schrieb noch der Kolumnist der New York Times, David Brook, vergangene Woche als Antwort auf die Proteste gegen die rassistischen Karikaturen aus Dänemark? "Wir im Westen wurden in einer Welt geboren, welche das Erbe von Sokrates und der athenischen Agora widerspiegelt... Wir glauben an Fortschritt und die Entwicklung des Individuums. Indem wir im Durcheinander der Perspektiven schwimmen, indem wir unbequemen Tatsachen in die Augen sehen, versuchen wir, uns dem Verständnis der Dinge immer weiter anzunähern... Unsere Geisteshaltung ist fortschrittlich und vernünftig. Eure Geisteshaltung datiert von vor der Aufklärung und ist zutiefst mythologisch."

Brooks stellt lediglich das salbungsvollste Antlitz des Arguments dar, das während der vergangenen Wochen durch die Medien und das politische Establishment endlos wiederholt wurde: zwischen den "westlichen Werten" und der fanatischen und barbarischen muslimischen Welt klaffe ein unüberwindlicher Graben. Fred Barnes vom rechtslastigen Weekly Standard erklärte den Zuschauern des Nachrichtenkanals von Fox weitaus unverblümter, die Auseinandersetzung um die Karikaturen zeige uns, "dass unser Feind... nicht nur Al Quaida ist, sondern dass Muslime ganz Europas und der ganzen Welt Feinde der westlichen Zivilisation sind... Wir sehen die Verachtung der Muslime für Demokratie, Meinungsfreiheit, Freiheit der Presse, und ganz besonders die Freiheit der Religion."

Die Herausgeber der San Diego Union Tribune stellten fest (und ähnlich vorhersagbare, spießbürgerliche Kommentare können in einer beliebigen Anzahl anderer amerikanischer Zeitungen gefunden werden): "Seit nahezu drei Jahrhunderten inspiriert die Freiheit der Meinungsäußerung als ein fundamentales Menschenrecht die westliche Welt. Doch das Zeitalter der Aufklärung, das im 18. Jahrhundert dieses Kernprinzip den säkularen Gesellschaften Europas und Amerikas verlieh, ging an der muslimischen Welt vorbei."

Die Herausgeber könnten uns vielleicht verraten, wie die fundamentalen Menschenrechte inmitten des Blutes und Schmutzes von Abu Ghraib zum Ausdruck kommen.

Niemand kann ernstlich behaupten, die Schrecken der Gefangenen, die auf Tausenden von Bildern dokumentiert sind, stellten das Werk einiger weniger "schwarzer Schafe" dar. Was in Abu Ghraib stattgefunden hat, wurde entgegen dem Völkerrecht von den höchsten Ebenen des Pentagons und der Bush-Administration ermöglicht.

Die "Befehlskette", angefangen von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld über die Generäle Geoffrey Miller und Ricardo Sanchez und andere, ist klar nachvollzogen worden. Das Foltern zum Herauspressen von Informationen war offizielle Linie der Politik. Bis heute ist kein hochrangiger Offizieller bestraft worden; neun Militärangehörige aus niederen Rängen wurden zu Strafen verurteilt, die von Entlassung aus der Armee bis hin zu Gefängnisstrafen reichen. Und es besteht kein Anlass zu glauben, die grausamen und perversen Praktiken hätten seither aufgehört.

Die Photos aus Abu Ghraib führen einmal mehr vor Augen, was den Aufruhr der arabischen und muslimischen Massen der ganzen Welt verursacht hat. Auch wenn verwirrte oder offen bösartige Elemente Unverständnis über die Reaktionen auf die Veröffentlichung der dänischen Karikaturen an den Tag legen, ist an diesem Zorn der Volksmassen nichts Irrationales, noch ist er, um es in den Worten der üblen und beschränkten Herausgeber von Rupert Murdochs Australian zu sagen, eine "hysterische Überreaktion".

Die rassistischen Zeichnungen waren lediglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Aus historischen und politischen Gründen sind die Karikaturen zum Brennpunkt der Empörung geworden, mit der Hunderte Millionen auf die Gewalt und Ausbeutung reagieren, welche die Großmächte um des Öls und noch größerer Profite der Konzerngiganten willen an den Bevölkerungen des Mittleren Ostens, Nordafrikas und Zentralasiens verüben. Unter der Bush-Administration haben diese Verbrechen des Imperialismus ein starkes Wachstum erfahren.

Was haben die edlen Verfechter der "Meinungsfreiheit" über die Unterdrückung der Bilder aus Abu Ghraib durch das US-Militär, die Bush-Administration, den Kongress, die Republikanische und Demokratische Partei zu sagen?

Seitdem die Existenz der Photos und Videoaufnahmen im April 2004 der Öffentlichkeit bekannt wurde, haben sich das Pentagon und die Bush-Administration ihrer Veröffentlichung strikt entgegengestellt. Zuerst argumentierten sie in einem Prozess, den die American Civil Liberties Union (Amerikanische Union für bürgerliche Freiheiten, ACLU) gemäß dem Recht auf Informationsfreiheit angestrengt hatte, die Veröffentlichung der Bilder käme nur einer weiteren Erniedrigung der Gefangenen gleich und würde die ihnen durch die Genfer Konvention zugestandenen Rechte verletzen!

Als die ACLU einwandte, die Gesichter der Gefangenen könnten verhüllt werden, und das Gericht das Argument der Regierung zurückgewiesen hatte, kam diese im Juli 2005 in letzter Minute mit einem neuen Einwand daher: Die Bilder sollten nicht veröffentlicht werden, da hierdurch amerikanische Truppen und Zivilisten in Übersee gefährdet würden.

Lucy Daglish vom Reporters Committee for Freedom of the Press kommentierte: "Die Regierung hat in diesem Fall die Position bezogen, dass, je empörender das Verhalten, das amerikanische Truppen an den Tag legen, desto weniger die Öffentlichkeit ein Recht habe, davon zu erfahren. Ein solcher Standpunkt stellt das Gesetz über die Freiheit der Information auf den Kopf."

General Richard B. Myers, Vorsitzender des vereinigten Generalstabs, behauptete in den Anhörungen des Gerichts, die Veröffentlichung würde die Rekrutierung Freiwilliger durch Al Quaida erleichtern, die Regierungen Afghanistans und des Irak schwächen, sowie Gewalt gegen US-Truppen anstacheln. General John Abizaid, Kommandeur des amerikanischen Oberkommandos, erklärte, die Veröffentlichung der Bilder würde seine gegen den Terrorismus gerichtete Arbeit behindern. "Wenn wir weiterhin in der Wunde wühlen und diese Bilder wieder und wieder zeigen, dann entsteht hierdurch nur das - falsche - Bild, solche Sachen würden noch immer vorkommen, was nicht der Fall ist."

Die Bush-Administration bemühte sich nicht um die Unterdrückung des Materials, weil dieses ein "falsches", sondern weil es ein echtes und wahrheitsgetreues Bild der US-amerikanischen Operationen zeigt, indem es das brutale und kolonialistische Wesen des Krieges und der Besetzung des Irak offen legt. Die Bilder von Folter und Misshandlung haben die Bevölkerung des Irak und Arabiens erzürnt und die Unterstützung des amerikanischen Volkes für den Krieg untergraben. So bemerkte Verteidigungsminister Rumsfeld 2004 über die verbleibenden Bilder aus Abu Ghraib: "Wenn diese Bilder der Öffentlichkeit vorgelegt werden, dann wird hierdurch offensichtlich alles nur noch schlimmer."

Im September entschied ein Bundesrichter, die Bilder müssten freigegeben werden, obwohl die Regierung sich beschwert hatte, Amerikas Ansehen würde beschädigt und amerikanische Leben gefährdet. Die Bush-Administration legte Einspruch ein. Die Enthüllungen durch das australische Fernsehen und Salon haben diesen konzertierten Bemühungen um die Unterdrückung der Wahrheit einen schweren Schlag versetzt.

Im Gegensatz zu den dänischen antimuslimischen Karikaturen, wo es in Europa und den USA trotz des Geheules und Geschreis über die Pressefreiheit keine staatliche Zensur gab, stellt die Unterdrückung der Photos und Videos aus Abu Ghraib einen Fall von echter Zensur dar. Dennoch haben die amerikanischen Medien und die offizielle Oppositionspartei, die Demokraten, sie willig mitgetragen. Auch von den neuen Anwälten der "Meinungsfreiheit" im Lager der fremdenfeindlichen und antimuslimischen Rechten in Europa kam kein Ton.

CBS, NBC und die New York Times gehören dem Reporters Committee for Freedom of the Press an, das im Prozess der ACLU einen solidarischen Unterstützerbrief gesandt hat. Doch diese Nachrichtenunternehmen taten sich kaum als Vorkämpfer für die Enthüllungen amerikanischer Militärpraktiken in Abu Ghraib oder anderswo im Irak oder in Afghanistan hervor.

Angesichts der Ressourcen und Verbindungen, die den amerikanischen Fernsehsendern und Zeitungen zur Verfügung stehen, wäre es absurd zu behaupten, sie hätten diese Informationen nicht selbst zu Tage fördern können. Laut Financial Times wurde der australische Fernsehbericht von "Olivia Rousset verfasst, einer preisgekrönten freischaffenden Reporterin, die vermutlich über legale irakische Quellen an die Photos herangekommen ist."

Die unterwürfigen Figuren in den amerikanischen Medien, die den Angriff auf den Irak befürwortet haben und Komplizen der Verbrechen der USA sind, haben das Material nicht aufgedeckt, weil sie kein Bedürfnis verspüren, die Bush-Administration bloß zu stellen oder den Krieg weiter zu diskreditieren.

Während es der US-Öffentlichkeit verwehrt wurde, die Photos und Videos der Folterhandlungen zu Gesicht zu bekommen, erhielten die Mitglieder des Kongresses am 12. Mai 2004 einen Einblick in das Material. Republikaner wie Demokraten erklärten ihre Entrüstung über die Bilder, die sie gesehen hatten. "Was wir gesehen haben ist entsetzlich", sagte Senator Bill Frist, ein Republikaner aus Tennessee gegenüber Reportern. "Nehmen sie mich beim Wort: Sie sind ekelhaft", so Senator Mitch McConnell aus Kentucky, Scharfmacher der Mehrheitsfraktion.

Die demokratische Senatorin Dianne Feinstein aus Kalifornien kommentierte: "Die ganze Sache ist widerlich. Es ist schwer zu glauben, dass dies tatsächlich in einer militärischen Einrichtung stattgefunden haben soll." Der ebenfalls demokratische Senator Bill Nelson aus Florida sagte den Medienvertretern: "Was ich gesehen habe, ist widerlich und enttäuschend", und fügte hinzu: "Man kann mir nicht erzählen, dass all dies das Werk von sieben oder acht Armeegefreiten war. Und so stellt sich die Frage: Wie weit nach oben in der Befehlskette reichten diese Anordnungen, und wo hat sich dieses Versagen von Kontrolle und Befehlsgewalt zugetragen?"

Während republikanische Rechte und Bush-Getreue wie Senator John Warner aus Virginia, Frist und McConnell forderten, die Bilder vor der amerikanischen Öffentlichkeit geheim zu halten (Warner behauptete, die Veröffentlichung des Foltermaterials setze "die Sache der Freiheit" aufs Spiel), drängten andere Kongressangehörige wie der demokratische Senator Carl Levin aus Michigan darauf, die Bilder sollten der Öffentlichkeit überlassen werden. Er versprach, den Misshandlungen "auf den Grund zu gehen".

All das diente lediglich der Beschwichtigung der Öffentlichkeit. Politiker und Medien ließen das Thema Abu Ghraib so schnell wie möglich wieder fallen. ABC brachte am 19. Mai zwei neue Photos, Washington Post und New York Times druckten eine Handvoll mehr ab, und das war alles. Fall abgeschlossen.

Während der gerichtlichen Anhörungen über die Foltervorwürfe deutete Justizminister Alberto Gonzales Berichten zufolge an, Levin würde auf die Enthüllung von weiteren der Photos aus Abu Ghraib drängen. Er tat nichts in dieser Art. Matt Welch von Reason.com zufolge kommentierte Levins Sprecherin Tara Andringa: "Er und Senator Warner stehen auf der gleichen Seite". Ginge es nach den Demokraten im Kongress, so würden die Bilder der Öffentlichkeit noch immer vorenthalten.

Wir sehen: Die Verfechter der "westlichen Werte" gehen bei der Anwendung der Menschenrechte recht selektiv vor - die Meinungsfreiheit eingeschlossen. Was die letztere anbelangt, scheint die Formel sehr einfach: Was die muslimischen Völker provoziert und dämonisiert und im Voraus weitere Kriege und Besetzungen rechtfertigt, das sollte veröffentlicht und weithin diskutiert werden; was dagegen die Verbrechen des amerikanischen Imperialismus bloß legt, soll man besser unterdrücken.

Die Tatsachen - und Photos - sprechen für sich selbst.

Siehe auch:
Europäische Medien veröffentlichen moslemfeindliche Karikaturen: Eine üble kalkulierte Provokation
(7. Februar 2006)
Kolumnist der New York Times ruft zum "guten Kreuzzug" auf
( 22. Februar 2006)
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