Türkei: Prozess gegen Schriftsteller Orhan Pamuk eingestellt

Der Strafprozess gegen den türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk wird aus formalen Gründen eingestellt. Das hat das zuständige Gericht in Istanbul entschieden. In vielen ähnlich gelagerten, aber weniger öffentlich bekannten Fällen sind aber Journalisten, Schriftsteller, Menschenrechtler und Politiker angeklagt und teils auch schon zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt worden.

Pamuk war der "öffentlichen Verunglimpfung des Türkentums" angeklagt, weil er im Februar 2005 in einem Interview mit dem Züricher Tages-Anzeiger gesagt hatte, dass im Osmanischen Reich und in der Türkei eine Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht worden seien, aber niemand sich traue, davon zu sprechen. Dafür drohten dem Schriftsteller im Falle eines Schuldspruchs bis zu vier Jahren Haft.

Der gegen Pamuk herangezogene Paragraf 301 über Verunglimpfung des Türkentums, der Republik, der Grundlagen und Institutionen des Staates wurde am 1. Juni 2005 eingeführt und ersetzte Paragraf 159 des alten Strafgesetzbuches. Für Altfälle gab es eine Amnestie. Der neue Paragraf war Teil der Reformen, die als Voraussetzungen zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU verabschiedet wurden und angeblich mehr Meinungsfreiheit schaffen sollten. Tatsächlich zeigte sich aber bald, dass im Wesentlichen alter Wein in neue Schläuche gegossen wurde.

Mit Gefängnisstrafen bedroht sind nach dem neuen Paragrafen 301 die "Öffentliche Verunglimpfung" des "Türkentums", der Republik, des Parlaments, der Gerichte, des Militärs oder der Sicherheitskräfte. Wird die Tat im Ausland begangen, wirkt dies strafverschärfend. Bloße Kritik soll zwar ausdrücklich straffrei bleiben, die Abgrenzung zwischen "Verunglimpfung" und Kritik bleibt aber weitgehend der Willkür von Gerichten und Staatsanwälten überlassen. Im Herbst wurde Anklage gegen Pamuk und andere erhoben. Nach Angaben des türkischen Presserates, der größten Journalistenvereinigung des Landes, wurden seit der Strafrechtsreform mehr als 70 Verfahren gegen Publizisten, Schriftsteller und Verleger eingeleitet. Dabei ging es um Äußerungen zum Völkermord an den Armeniern, zum Kurdenkonflikt, und der Vorherrschaft des Militärs.

Zu den prominenteren Angeklagten gehört auch Joost Lagendijk, Vorsitzender der Türkei-Kommission des EU- Parlaments. Am 17. Dezember beschuldigte er in Istanbul die Generäle, hinter Provokationen wie in Semdinli zu stecken. In Semdinli waren zwei Unteroffiziere und ein PKK-Abschwörer dabei erwischt worden, wie sie eine Bombe in den Buchladen eines kurdischen Nationalisten gelegt hatten. Bei der Explosion und als einer der Unteroffiziere später in die Menge schoss, kamen insgesamt zwei Menschen um. Der General der Landstreitkräfte Yasar Büyükanit lobte später öffentlich den Schützen und nahm ihn in Schutz. Er wurde auch nur wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, einer Verwicklung der Armee in Terroranschläge wollte das Gericht erst gar nicht nachgehen. Der EU-Abgeordnete Lagendijk erklärte mit Bezug auf den Vorfall, der andauernde Kleinkrieg mit der PKK sichere den Militärs Einfluss auf die Politik. Er wurde prompt wegen Beleidigung der Streitkräfte angeklagt.

Die Anzeigen, die den zahlreichen Verfahren vorausgingen, kommen meistens von einer ultrarechten, den faschistischen "Grauen Wölfen" nahe stehender Anwaltsvereinigung. Innerhalb des Staatsapparates, aber auch der Regierung ist der Umgang mit Dissidenten, und besonders mit der Kurdenfrage umstritten. Tendenzen des kurdischen Separatismus sind durch die US-Besatzung des Irak gestärkt worden, die kurdischen Nationalisten im benachbarten Nordirak sind die einzige verlässliche Stütze der Besatzer und erhalten von diesen im Gegenzug weitgehende Autonomie. In der Türkei treten große Konzerne und Banken eher für eine Orientierung auf die EU ein, auf die sie wirtschaftlich angewiesen sind. Während sie die sozialen Spannungen mit einer begrenzten politischen Liberalisierung unter Kontrolle halten und mit den kurdischen Nationalisten im Nordirak zusammenarbeiten wollen, setzt ein Flügel in der Bürokratie und dem Militär auf rücksichtlose Unterdrückung.

Die Regierung der AKP steht dazwischen. Außenminister Abdullah Gül hat den Prozess gegen Pamuk indirekt kritisiert, Justizminister Cemil Cicek dagegen kaum verhohlen seine Sympathie für diejenigen gezeigt, die Pamuk als Landesverräter beschimpfen. Die EU-Kommission nannte den Prozess gegen Pamuk eine Provokation und einen Test für die Reformfähigkeit des Landes. In den EU-Ländern lieferte das Gerichtsverfahren all jenen Kräften Argumente, die gegen einen EU-Beitritt der Türkei sind.

Das Verfahren gegen Pamuk begann, begleitet von Tumulten türkischer Nationalisten, die den Schriftsteller und ausländische Prozessbeobachter unter Duldung der Polizei tätlich angriffen, am 16. Dezember. Das Gericht vertagte den Prozess jedoch und setzte einen Termin auf den 7. Februar an. Zur Begründung erklärte es, eine Anklage gegen Pamuk nach Paragraf 301 sei nicht zulässig, da diese Strafbestimmung erst nach dem umstrittenen Interview in Kraft trat. Gegen Pamuk könne daher nur nach dem im Februar 2005 geltenden alten Recht verhandelt werden. Voraussetzung dafür wäre eine ausdrückliche Ermächtigung des Justizministers gewesen. Justizminister Cemil Cicek vermied es jedoch, sich nach einer Seite hin festzulegen. Er argumentierte spitzfindig, da das alte Recht nicht mehr gültig sei, habe er auch keine Kompetenz mehr, eine solche Erlaubnis zu erteilen. Cicek erklärte sich in einem Schreiben vom 20. Januar für nicht zuständig und forderte das Gericht auf, über Fortsetzung oder Einstellung des Verfahrens zu entscheiden. Das Gericht interpretierte dies wenige Tage später als Weigerung des Ministeriums, das Verfahren zu autorisieren, und stellte es ein. Alle anderen Dutzenden von Verfahren nach dem neuen Paragrafen gehen natürlich weiter.

Siehe auch:
Türkei: Proteste gegen Bombenanschlag durch Todesschwadronen
(18. November 2005)
Konflikt über Beitrittsverhandlungen mit Türkei zeigt Krise der EU
( 14. Oktober 2005)