30.000 Ärzte demonstrieren gegen die Gesundheitspolitik der Großen Koalition

Mit Trillerpfeifen, Rasseln und Plakaten demonstrierten gestern etwa 30.000 niedergelassene Ärzte und Arzthelferinnen in Berlin gegen die Auswirkungen der Gesundheitsreformen auf die Praxen und die Krankenversorgung. Zu der Demonstration hatte ein Bündnis von 50 Ärzte-Verbänden niedergelassener Ärzte aufgerufen. Darunter befanden sich die beiden wichtigsten Verbände Hartmann-Bund und NAV-Virchow-Bund.

Diese bisher größte Demonstration steht in einer Folge mit den Demonstrationen der Praxisärzte im vergangenen Jahr sowie Mitte Januar und markiert den Auftakt zu einer nationalen Protestwoche. In dieser soll es von nächster Woche an bundesweit zu Protestaktionen und Praxisschließungen kommen.

In einem Aufruf vom 7. März 2006 wenden sich die oben genannten Organisationen vorrangig gegen die "Abschaffung der staatlichen Gebührenordnung GOÄ", "die Erweiterung der Machtbefugnisse der Krankenkassen", die "Zerstörung des vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses" und den "Kontrollstaat durch Kopplung der elektronischen Gesundheitskarte an zentrale Datenserver". Sie fordern die angemessene Vergütung der von den Hausärzten erbrachten Leistungen, die Rücknahme des neuen AVWG ("Arzneimittelverordnungswirtschaftlichkeitsgesetz") sowie die Rückübertragung der finanziellen Verantwortung für das Krankheitsrisiko auf die Krankenkassen.

Seit Jahren schmälert die wiederholte Senkung der Vergütung ärztlicher Leistungen das Einkommen der Praxen. Diese können tatsächlich vielerorts kaum noch wirtschaftlich betrieben werden. Überlange Arbeitszeiten und die teilweise unangemessen niedrige Bezahlung der betroffenen Ärzte und ihrer Angestellten sind die Folgen. Doch auch die Versorgung der Patienten leidet.

Zum einen müssen Arztpraxen wegen Unrentabilität geschlossen werden. In einigen Bundesländern, besonders Ostdeutschlands, hat dies bereits zum Notstand geführt, weil keine neuen Praxen öffnen. Zum anderen sollen die Ärzte zu "sparsamer" Verschreibungspraxis angehalten werden. So sieht es das neue Arzneimittel-Spargesetz (AVWG) vor. Mit einem an Verkaufsstrategien der privaten Wirtschaft angelehnten "Bonus-Malus-System" sollen teure Verschreibungen finanziell bestraft werden. Dies geht "besonders zu Lasten der chronisch kranken Patienten, deren angemessene Versorgung Ärzte sich nicht mehr werden leisten können", heißt es im Aufruf der Freien Ärzteschaft. "Das derzeitige System belohnt das ‚Vergraulen? dieser Kranken."

Der Aufruf stellt auch fest, dass Ärzte für ihre Verordnungen mit eigenem Honorar haften und damit das Krankheitsrisiko der Patienten von den Krankenkassen auf sie abgewälzt wird. Dr. Kuno Winn, Vorsitzende des Hartmannbundes, äußerte in einem Fernsehinterview: "Besonders im Medikamentenbereich können wir nicht mehr das verordnen, was der Patient wirklich braucht."

Vor allem gegen das Arzneimittel-Spargesetz wandten sich die gestrigen Demonstranten. Dieses Spargesetz soll zur Einsparung von 1,3 Mrd. Euro allein in diesem Jahr führen. Die Redner betonten wiederholt die brisante Situation der Ärzte. So erklärte Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer: "Wir wollen nicht länger hoch qualifizierte Leistungen zu Dumpingpreisen erbringen müssen. Wir sind keine Billiglohnarbeiter!" Andere Redner verwiesen darauf, dass Ärzte gezwungen wären, wie "Handelsvertreter" zu arbeiten. Sie drohten, die Streiks seien "steigerungsfähig", was besondere Beifallsbekundungen unter den Demonstrierenden hervorrief.

Insgesamt verbreiteten die verschiedenen Redner jedoch ein recht unsoziales Klima. So verlangte z. B. der Sprecher der Zahnärztlichen Vereinigung, dass den Patienten deutlich höhere Eigenbeiträge auferlegt werden müssten. Wer qualitativ hochwertige medizinische Versorgung verlange, müsse die entsprechend hohen Kosten akzeptieren. Doch die Politiker seien nicht in der Lage, dies "dem Wähler zu vermitteln. Was man nicht bezahlen kann, darf man den Bürgern nicht versprechen."


Das begeisterte Klatschen und Trillerpfeifen der Zuhörer zeigte ihr geringes politisches Verständnis, teilweise gepaart mit sozialer Gleichgültigkeit. Weiterhin forderte der Zahnarztvertreter ebenso wie einige andere Redner, die strikte Durchsetzung eines Kataloges öffentlich finanzierter "wirklich notwendiger" Leistungen im Gegensatz zu Wahlleistungen, die der Patient selbst zu zahlen habe. Doch er ging noch einen Schritt weiter: Patienten sollten nach dem Arztbesuch eine transparente Rechnung erhalten, diese selbst bezahlen und das Geld "unbürokratisch" von den Krankenkassen zurückerhalten. Auch diese Forderung erhielt großen Beifall.

"Ulla muss weg!" (gemeint ist die Bundesgesundheitministerin Ulla Schmidt - SPDd. Verf.) und Plattitüden wie "Wir sind die Ärzte!" machten das Gros der Forderungen auf Plakaten und Transparenten aus.

Keiner der Redner wandte sich grundsätzlich gegen die Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen. Es seien lediglich die vorhandenen Mittel besser zu verteilen und zusätzlich neue Geldquellen zu erschließen. Wiederholt wandten sich einige der Sprecher gegen das angeblich "sozialistische", nämlich "planwirtschaftlich" von Ulla Schmidt geführte Gesundheitssystem. Mit einer höheren Eigenbeteiligung der Patienten an den Kosten würde deren Verantwortung für die Nutzung des medizinischen Angebots erhöht werden. Der Schwarze Peter der gegenwärtigen Situation wird somit der angeblichen Unvernunft der Patienten zugeschoben.

Positiv heraus stach die Rede des Sprechers der Patientenvereinigung, der vehement und mehrfach den "Zusammenhalt zwischen Ärzten und Patienten aller sozialen Schichten" forderte. Als einziger ging er auf den Zusammenhang zwischen der sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten und dem Wegbrechen gesundheitlicher Strukturen ein. Zur Situation der wohnortsnahen Versorgung warnte er, diese sei durch nicht erstattete Transportkosten (für die Patienten), ausgedünnte Präsenz von Arztpraxen bei einer gleichzeitig sozial ins Abseits gedrängten Bevölkerung gefährdet.

Eine Vertreterin der Schwestern und Arzthelferinnen wies darauf hin, dass die Folgen der Gesundheitspolitik Minijobs und Arbeitslosigkeit für die Arzthelferinnen seien. Wenn es so weiterginge, müssten Arzthelferinnen Ich-AG’s gründen, Patienten auf den Arztbesuch vorbereiten und zu Eigenleistungen wie der Reinigung von Gerätschaften etc. veranlassen. Sie sagte, man solle die Ärzte mit ihren Patienten in "Frieden und Ruhe" arbeiten lassen. Die Zahlungen für medizinische Leistungen seien so niedrig, dass sie forderte, "endlich in Euro bezahlt" zu werden.

Die World Socialist Web Site sprach während der Abschlussveranstaltung vor dem Brandenburger Tor mit Frau Dr. Beate Poggemann aus Cloppenburg, die seit 2001 im Bereich Kinderheilkunde niedergelassen ist.

Im Schnitt sei ihr heute eine Vergütung von 10 Euro pro Patient und Quartal zugestanden, ein Asthmapatient bringe es im Quartal aber auf 300 Euro Behandlungskosten. Es seien ihr des weiteren nur noch 1.400 Patienten im Quartal erlaubt, sie sei daher zu mehr Schließzeiten gezwungen. "Bei Überschreitung wird man vor die Kassenärztliche Vereinigung zur Erklärung und Aussprache zitiert." Sie forderte ein Grundversorgungspaket, alles was darüber hinausginge (wie z.B. alternative Medizin o.ä.) müsse vom Patienten aus eigener Tasche bezahlt werden. Sie stimmte zu, dass heute auch vieles Notwendige (bspw. gewisse, auch von der Ständigen Impfkommission empfohlene Impfungen) nicht mehr von den Kassen übernommen würde.

Ein Chirurg aus einem Krankenhaus in Brandenburg und seine Frau, Ärztin in der Rettungsstelle, waren mit ihren drei Kindern zur Demonstration gekommen.

Er überlege sich bei der jetzigen Entwicklung die ursprünglich angestrebte Selbständigkeit sehr genau, da er in der Klinik trotz schlechter Bezahlung und Arbeitsbedingungen noch immer größere Existenzsicherheit als niedergelassene Ärzte habe. In seiner Klinik würden Überstunden zwar noch aufgeschrieben, aber nicht bezahlt.

Er berichtete, im Krankenhaus von Seelow, wo er zuvor gearbeitet habe, seien inzwischen aus Mangel an deutschen Ärzten viele ausländische Ärzte, z.B. aus Polen, Russland oder dem Iran, beschäftigt. Diese sprächen oftmals nur gebrochen deutsch, es käme daher oft zu großen Verständigungsproblemen mit den Patienten und der Schwesternschaft.

Seine Frau äußerte, in den Praxen brächten nur Privatversicherte das Geld, Kassenpatienten müssten quasi umsonst behandelt werden. Auch sie war der Ansicht, Patienten sollten mehr daran denken, dass ihre oft unnötig in Anspruch genommenen ärztlichen Leistungen viel Geld kosten. Daher sollte man Patienten Kostenaufstellungen für ihre jeweilige individuelle Behandlung mitgeben, ohne deren Bezahlung zu verlangen, um ein höheres Kostenbewusstsein in der Bevölkerung zu entwickeln.

Sie stimmten zu, gerade in Brandenburg sei die Situation in der Versorgung mit niedergelassenen Ärzten katastrophal. Das Risiko, sich dort niederzulassen, sei schlicht zu groß, weswegen viele Praxen schlössen.

Zwei Arzthelferinnen, die aus Niedersachsen anreisten und in einer Doppelpraxis für Neurologie und Psychiatrie arbeiten, erzählten, dass ihre Chefs aufgrund der Gesundheitsreformen immer weniger Einnahmen hätten. Aus diesem Grund müssten sie ständig mehr Patienten annehmen, was zu längeren Wartezeiten und Überstunden führt.

Trotz der Mehrarbeit ist die Arbeitsstelle der einen Arzthelferin, die nun seit vier Jahren in diesem Bereich arbeitet, gefährdet. Dass die Patienten mehr medizinische Leistungen selber bezahlen sollten, halten beide für falsch. Ihnen ist klar, dass die meisten Patienten die höheren Eigenkosten gar nicht aufbringen könnten.

Siehe auch:
Klinikärzte demonstrieren in Hannover
(24. März 2006)
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