Ein Briefwechsel zum iranischen Atomprogramm

Uns erreichte der folgende Leserbrief, der sich auf die Erklärung der Redaktion der World Socialist Web Site mit dem Titel "Politische Hintergründe des Streits um das iranische Atomprogramm" bezieht.

Ich bin ein langjähriger Leser, der vollkommen und gänzlich hinter allem steht, was ihr vertretet. Dank Eurer Website kann ich wichtige aktuelle Ereignisse wesentlich besser begreifen und verstehen, wie die diesbezüglichen Interessen der internationalen Arbeiterklasse zu vertreten sind. Ich lese eure Website seit Januar 1998 (seit den Anfängen) und kann ohne sie nicht leben. Sie ist wahrlich die beste (und die einzig wirklich "progressive") Alternative überhaupt zu der bösartigen Mischung aus Sensationalismus, Trivialitäten, Bedeutungslosigkeiten und dreisten, verachtenswerten Lügen im Interesse der Finanzelite, mit denen uns die Medien täglich bombardieren.

In letzter Zeit hat es - wie immer - unzählige, nicht nur gute sondern wirklich großartige Artikel gegeben, aber ich möchte euch insbesondere für "Independent journalist who attacked Harold Pinter turns on World Socialist Web Site " danken. Eure prinzipielle Opposition gegen den von den USA angeführten NATO-Angriff auf Jugoslawien - eine Haltung, die auf einem ernsthaften Studium der Geschichte, wahrem Mitgefühl für unterdrückte Menschen und einem tiefen Verständnis der modernen marxistischen Theorie (d.h. dem Trotzkismus) basiert - führte mir glasklar vor Augen, welche grundlegenden Unterschiede zwischen der Position des Internationalen Komitees der Vierten Internationale einerseits und den unzähligen ignoranten kleinbürgerlichen Radikalen und Liberalen andererseits besteht, die diesen Akt imperialistischer Aggression unterstützt haben. Der (absichtlich?) blinde, moralisierende Liberale Hari argumentiert lahm, dass er gegen mindestens 70 Prozent dessen ist, was die Großmächte tun; aber wie ihr so richtig herausgestellt habt, unterstützt er diese in allen wichtigen Fällen - wenn sie in Übersee Kriege führen, um Ressourcen, neue Produktmärkte und billige (aber ausgebildete) Arbeitskräfte unter ihre Kontrolle zu bringen. Ihr verdient größte Anerkennung, weil ihr einen Krieg als das bezeichnet, was er ist - imperialistisch - und Pinter verteidigt, da er ebenfalls den Mut und die intellektuelle Integrität hat, dies zu tun. Danke.

Ich habe allerdings eine wichtige Frage. Sie betrifft eure Haltung zu dem, was leider unvermeidlich scheint: dass Washington in irgendeiner Form den Iran militärisch angreifen wird. Es überrascht nicht, dass eure Artikel zu dieser Frage exzellent waren, aber in zwei von ihnen entdeckte ich etwas, was mir zumindest ein möglicher Widerspruch zu sein schien. In dem Artikel vom 13. Januar mit dem Titel "US, EU set to refer Iran to the UN Security Council" schreibt Autor Peter Symonds: "Die World Socialist Web Site hat keinerlei politische Unterstützung für die herrschende Theokratie im Iran übrig. Nichtsdestotrotz hat der Iran jedes Recht, sich gegen die Gefahr einer imperialistischen Aggression zu rüsten." Beide Teile dieser Stellungnahme scheinen korrekt und in Übereinstimmung mit einem wahrhaft sozialistischen Standpunkt zur Gefahr eines drohenden Konflikts zwischen Washington und Teheran. Mit anderen Worten: Auch wenn Sozialisten nicht das theokratische und von Grund auf prokapitalistische Regime in Teheran unterstützen, ist dieses Land - das von der größten Militärmaschine in der Welt bedroht wird - berechtigt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sich gegen den Aggressor zur Wehr zu setzen.

In der ebenfalls exzellenten Erklärung mit dem Titel "Politische Hintergründe des Streits um das iranische Atomprogramm" vom 21. Januar schreibt die Redaktion: "Die Arbeiterklasse kann allerdings keineswegs den Bau einer iranischen Atomwaffe unterstützen." Steht diese Stellungnahme im Widerspruch zu dem Artikel vom 13. Januar, den ich oben zitiert habe? Wenn ihr sagt, der Iran habe "jedes Recht, sich gegen die Gefahr einer imperialistischen Aggression zu rüsten", meint ihr dann damit, dass die normale Bevölkerung dieses Landes alles in ihrer Macht Stehende tun und auch Gewalt anwenden kann, um die Angreifer zurückzuschlagen? Wenn der Iran "jedes Recht [hat], sich gegen die Gefahr einer imperialistischen Aggression zu rüsten", bedeutet dies dann nach eurem Verständnis, dass das Land alles zur eigenen militärischen Verteidigung tun darf - mit der Ausnahme des Atomwaffenbaus? Ich muss zugeben, dass ich in dieser Frage etwas verwirrt bin.

Auf jeden Fall möchte ich euch dafür beglückwünschen, dass ihr solch eine durchgehend fantastische Site habt, und euch um eure Hilfe bitten, diese Frage zu klären.

AW

Orlanda, Florida

* * *

Lieber AW,

danke für Ihre anerkennenden Worte zur World Socialist Web Site.

In Bezug auf den Iran hat eben jene Passage aus dem Artikel vom 13. Januar, auf die Sie Sich beziehen, eine Diskussion in der WSWS-Redaktion ausgelöst, in deren Verlauf die Frage geklärt wurde. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) verurteilt zwar die räuberischen Aktivitäten der Vereinigten Staaten und anderer imperialistischer Mächte im Mittleren Osten, unterstützt aber auch in keinerlei Weise die Ambitionen der iranischen Bourgeoisie, an Atomwaffen zu gelangen. Die Erklärung der Redaktion vom 21. Januar wurde geschrieben, um unsere Position in dieser Frage näher auszuführen.

Der Ausgangspunkt des IKVI ist die Strategie der sozialistischen Weltrevolution, die nichts gemein hat mit den erbärmlichen Manövern irgendeines Teils der herrschenden Klasse im Iran. Bei jeder Frage, die wir betrachten und einschätzen, stützen wir uns auf das, was die Einheit der Arbeiterklasse stärkt, ihre politische Bildung sowie ihr politisches Bewusstsein fördert und sie entschlossener macht, für eine sozialistische Zukunft zu kämpfen. In Ländern wie dem Iran ist der Kampf von Arbeitern gegen die imperialistische Aggression vor allem mit dem Schicksal der sozialistischen Revolution in den Vereinigten Staaten selbst verbunden.

Selbst wenn dies nur in Vergeltung auf einen Militärschlag passierte, spielt die Drohung, Atomwaffen zu entwickeln und gegen die Vereinigten Staaten oder ihre Alliierten wie Israel einzusetzen, ausschließlich den reaktionärsten Elementen in Washington in die Hände und untergräbt die Einheit der Arbeiter in Nordamerika und dem Mittleren Osten. Man muss sich nur in Erinnerung rufen, wie die Bush-Regierung die Terroranschläge auf New York am 11. September als Vorwand für ihren angeblichen "Krieg gegen den Terrorismus benutzt hat, um die politischen Gefahren zu erkennen.

Im Verlauf der Diskussion in der Redaktion wurde auf die Position der marxistischen Bewegung im Vorfeld des Ersten Weltkriegs verwiesen. Die Zweite Internationale musste eine Haltung einnehmen zu den militärischen Drohungen, die das österreichisch-ungarische Reich gegen das serbische Königreich ausstieß. Serbien hatte zweifellos das Recht auf nationale Selbstverteidigung und Einheit, aber die Ausübung dieses "Rechts" hätte mit Sicherheit einen europäischen Krieg provoziert und unvermeidlich die sich entwickelnde Revolution in Europa zurückgeworfen. Die europäischen Sozialisten, auch diejenigen in Serbien, widersetzten sich daher den räuberischen Ambitionen Österreich-Ungarns auf dem Balkan ebenso wie den Intrigen der serbischen Nationalisten.

Leo Trotzki erklärte in Der Krieg und die Internationale : "Wenn die internationale Sozialdemokratie zusammen mit ihrem serbischen Teil den serbischen nationalen Ansprüchen einen unbeugsamen Widerstand leistete, so sicher nicht um des historischen Rechts Österreich-Ungarns auf Unterdrückung und Zersplitterung der Nationalitäten, und ganz sicher nicht um der befreienden Mission der Habsburger willen, von der bis August 1914 niemand wagte ein Wörtlein fallen zu lassen, außer den schwarz-gelben Schreibermietlingen.

Uns leiteten hierin Motive ganz anderer Art. Vor allem konnte das Proletariat, obgleich es die historische Gesetzmäßigkeit des Strebens der Serben zu nationaler Einheit keinesfalls bestritt, die Lösung dieser Aufgabe nicht jenen Händen anvertrauen, die jetzt die Geschicke des serbischen Königreiches leiten. Zweitens aber - und diese Erwägung war für uns entscheidend - konnte die internationale Sozialdemokratie den Frieden Europas nicht der nationalen Sache der Serben zum Opfer bringen, deren Einheit, außer durch eine europäische Revolution, nur durch einen europäischen Krieg erreicht werden konnte."

Auch wenn keine exakte Analogie zwischen Österreich-Ungarn und Serbien im Jahre 1914 und den Vereinigten Staaten und dem Iran im Jahre 2006 gezogen werden kann, liegt die Bedeutung in der Herangehensweise. Alle jene Mittel sind geboten, die die Einheit der Arbeiterklasse und ihre Fähigkeit zum revolutionären Kampf stärken. All jene, die Verwirrung, Orientierungslosigkeit, Zwietracht fördern und die Entwicklung von sozialistischem Bewusstsein in der Arbeiterklasse hemmen, müssen zurückgewiesen und abgelehnt werden.

Wie im Falle des Iraks stellt sich die WSWS eindeutig gegen jegliche imperialistische Aggression gegen den Iran - sei sie in Form von Luftangriffen oder einer direkten Militärinvasion - und verteidigt das Recht der iranischen Bevölkerung auf Widerstand, auch mit Waffengewalt. Aber wir stehen den Methoden, die dabei zum Einsatz kommen, politisch nicht gleichgültig gegenüber. Die WSWS hat wiederholt die reaktionären und sinnlosen religiös-ethnisch motivierten Angriffe verurteilt, die im Irak gegen Schiiten und Kurden durchgeführt wurden, und ebenso die Ermordung ausländischer Geiseln, die nur aufgrund ihrer Nationalität entführt werden. Solche Taten spielen Washington und seinen politischen Marionetten in Bagdad direkt in die Hände, heizen den Brudermord im Irak an und entzweien die internationale Arbeiterklasse.

Ähnliche Erwägungen treffen auf den Bau und Einsatz von Atomwaffen durch das iranische Regime zu, das sich auf Fremdenhass und das Schüren ethnisch-religiöser Gegensätze stützt. Angesichts einer scharfen sozialen Krise im Innern hat der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad gezielt Nationalismus und Antisemitismus gefördert, um die Theokratie zu stützen. Wie im Falle von Indien und Pakistan würde ein iranischer Atomwaffentest unvermeidlich mit einem Schwall von reaktionärem und entzweiendem Nationalismus einhergehen.

Wenn ein Teil der iranischen Bourgeoisie Atomwaffen zu bauen versucht, besteht der Sinn und Zweck dieses Unterfangens in jedem Fall nicht darin, die iranische Bevölkerung vor einer imperialistischen Aggression zu schützen. Vielmehr will man den Iran damit zu einer regionalen Macht aufsteigen lassen und vorteilhaftere Beziehungen zu den Großmächten, vor allem auch Washington, erreichen. Wie ihre Gegenspieler in Israel, Indien und Pakistan wollen die Befürworter eines Atomwaffenarsenals in der herrschenden Elite des Irans ihr Gewicht in der Region vergrößern und steigern damit die Gefahr eines nuklearen Wettrüstens und eines Atomkriegs.

Darüber hinaus würden solche Waffen den Iran nicht in die Lage versetzen, sich gegen einen US-Militärangriff zur Wehr zu setzen. Mit oder ohne Atomwaffen kann sich das iranische Militär gegen die US-Armee in einem konventionellen Krieg nicht besser verteidigen als beispielsweise das irakische Militär. Der Bau iranischer Atomwaffen würde einen solchen Angriff nicht verhindern sondern in der Tat eher wahrscheinlicher machen, da dies als Vorwand für die amerikanischer Aggression dienen würde.

Zweifellos ist die Gefahr einer US-Militäraggression gegen den Iran und auch andere Länder wie Nordkorea und Syrien real gegeben. Aber die Antwort besteht nicht darin, den Einsatz von Atomwaffen gegen Millionen unschuldiger Zivilisten anzudrohen oder gar in die Tat umzusetzen. Die Arbeiterklasse im Mittleren Osten, Asien und anderswo muss vor allem eine revolutionäre sozialistische Strategie annehmen, die nichts Geringeres als die Abschaffung der kapitalistischen Ordnung zum Ziel hat, aus der die imperialistische Unterdrückung entspringt.

Wie wir am Ende der WSWS-Erklärung vom 21. Januar schreiben: "Die Drohung mit dem Atomkrieg ist keine Antwort auf imperialistische Aggression sondern ein sicherer Weg zum atomaren Inferno im Mittleren Osten und anderswo. Die einzige realistische Alternative zur räuberischen Politik der Imperialismus und der Gefahr des Atomkriegs ist das Programm des revolutionären Klassenkampfs."

Wenn Sie weitere Fragen haben, zögern Sie bitte nicht uns zu schreiben.

Mit freundlichen Grüßen

Peter Symonds

Siehe auch:
Politische Hintergründe des Streits um das iranische Atomprogramm
(24. Januar 2006)
Independent journalist who attacked Harold Pinter turns on World Socialist Web Site
( 12. Januar 2006)
US EU set to refer Iran to the UN Security Council
( 13. Januar 2006)
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