Lügen und Heuchelei nach Milosevics Tod

Der Tod des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic, der am vergangenen Samstag in seiner Gefängniszelle in Den Haag tot aufgefunden wurde, hat eine Flut historischer Verdrehungen und Lügen ausgelöst und die Propagandakampagne zur Rechtfertigung des Kriegs, den USA und NATO vor über sieben Jahren gegen dieses Land führten, wieder aufleben lassen.

Vertreter des UN-Kriegsverbrechertribunals berichteten, Milosevic sei einem akuten Herzversagen erlegen, wollten jedoch über die Ursachen erst Auskunft geben, wenn ein toxikologischer Bericht vorliege.

Carla del Ponte, Chefanklägerin am Haager Tribunal, deutete an, der ehemalige jugoslawische Präsident könnte auch Selbstmord verübt haben, um einem bevorstehenden Schuldspruch und einer lebenslangen Gefängnisstrafe zuvor zu kommen. Aber Milosevics Rechtsanwalt berichtete, sein Klient habe noch am Tag vor seinem Tod einen Brief an den russischen Außenminister Sergej Lawrow geschrieben, um ihn um Hilfe zu bitten. Er habe darin seine Gefängniswärter beschuldigt, ihm gefährliche Drogen zu verabreichen, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Wie das holländische Fernsehen berichtete, zeigte eine Blutprobe von Milosevic vom vergangenen Monat Spuren eines starken Lepra-Medikaments, das möglicherweise dazu diente, die Wirkung anderer Medikamente, die der ehemalige jugoslawische Führer gegen Bluthochdruck und Herzschwäche genommen hatte, zu neutralisieren.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Milosevic umgebracht worden ist. Aber es besteht kein Zweifel, dass das UN-Tribunal und Washington, das im Hintergrund die Fäden zieht, die volle Verantwortung für seinen Tod tragen. Es war bekannt, dass Milosevic ernste Herzprobleme hatte, aber erst letzten Monat verweigerte der Vorsitzende Richter einen Antrag, Milosevic vor Abschluss der Verhandlungen für eine medizinische Behandlung nach Russland reisen zu lassen.

Außerdem ist offensichtlich, dass der Prozess, der von westlichen Regierungen und Medien allgemein als "der wichtigste seit Nürnberg" bezeichnet wird, immer peinlicher geworden ist, weil er keine wirklichen Beweise für eine direkte Verantwortung Milosevics für die schrecklichen Verbrechen erbracht hat, die im Bürgerkrieg in den 1990er Jahren in Jugoslawien begangen wurden. Er drohte zu einem noch größeren Problem für seine Veranstalter zu werden, als Milosevic Ende Februar forderte, den ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton vorzuladen. Damit wollte er offensichtlich demonstrieren, dass Washington, das den illegalen Krieg gegen Jugoslawien führte und wiederholt zivile Ziele bombardierte, selbst Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat.

In der Reaktion der Medien auf Milosevics Tod gibt es keinerlei Hinweise auf die zentrale Rolle, die Washington und andere Westmächte beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens und den darauf folgenden Massakern gespielt haben. In den meisten Nachrichtensendungen wird der jugoslawische Ex-Präsident in der Regel einfach nur als ein heutiger Hitler verleumdet und darüber lamentiert, dass er jetzt nicht seiner gerechten Strafe zugeführt werden könne.

Ein typisches Beispiel dafür war der Kommentar Christiane Amanpours, der internationalen Chefkorrespondentin von CNN, die am Samstag erklärte: "Vom Moment seines Aufstiegs an die Spitze der Macht klammerte er sich daran fest und bestimmte aus dieser Position, was auf dem Balkan geschah - nämlich die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Europa und die Welt seit dem Zweiten Weltkrieg gesehen haben. Das ging so den größten Teil der 1990er Jahre. Er war bei seinen Feinden und seinen Opfern als ‚der Schlächter des Balkan’ bekannt."

Amanpours Behauptungen sind genau so grotesk übertrieben und unbelegt wie der Vorwurf des Völkermords an den Kosovo-Albanern, der 1999 als Vorwand für den US-Krieg gegen Jugoslawien herhalten musste - und damals vom Sprecher des Außenministeriums erhoben wurde, der zufällig der Ehemann Amanpours ist.

Ähnlich veröffentlichte Roger Cohen, der ehemalige Auslandschef der New York Times, am Sonntag einen selbstgefälligen, zynischen Artikel auf der Titelseite der Zeitung, in dem er Milosevic als einen Mann porträtierte, für den "die Wahrheit immer eine Ware war, die im Sinne der Erhaltung der Macht manipuliert werden konnte". Als Beispiel führt er an, der jugoslawische Führer habe die Kroaten "als Zweite-Weltkrieg-Faschisten neu erfunden".

Will er damit sagen, dass der Massenmord der faschistischen Ustascha an etwa 900.000 Serben und Juden im Zweiten Weltkrieg entweder nicht stattgefunden hat oder einfach graue Vorzeit ist, oder dass die Ideologie der politischen Erben der Ustascha keine Rolle beim Wiederaufleben des kroatischen Nationalismus und Separatismus gespielt hat? Trotz seiner Beteuerungen, er sei der Wahrheit verpflichtet, macht er sich nicht die Mühe, das klar zu sagen.

Dann charakterisiert er Milosevic als "außerordentlich rücksichtslosen Herrscher, der immer, in mehreren Kriegen bereit war, Gewalt anzuwenden, von Kroatien 1991 bis Kosovo 1999". Er fährt fort: "Im Endeffekt zerstörte Milosevic die empfindliche Machtbalance in Jugoslawien, die er zu verteidigen vorgab, und wunderte sich dann über seine gewaltsame Zerstörung."

Ohne Zweifel trug Milosevic eine gerütteltes Maß an Verantwortung für die politischen Entwicklungen, die zur Zerstörung Jugoslawiens geführt haben. Wenn die westlichen Medien ihn aber als allmächtigen Finsterling präsentieren, der "entschied, was auf dem Balkan geschah", oder im Alleingang "die empfindliche Machtbalance Jugoslawiens zerstörte", dann ist das genau so falsch, wie es eine Schutzbehauptung ist.

Diese zusammengeschusterte jüngste Geschichte Jugoslawiens, die alle Ereignisse auf den "Bösewicht Milosevic" zurückführt, lässt die entscheidende Rolle der imperialistischen Mächte völlig weg. Die USA und besonders Deutschland arbeiteten bewusst auf das Auseinanderbrechen des Landes hin und scherten sich dabei nicht im Geringsten um die unvermeidlich tragischen Folgen ihres Eingreifens.

Es ist daran zu erinnern, dass Milosevic, ähnlich wie der andere Erzbösewicht, Saddam Hussein im Irak, einmal Washingtons Liebling war, das ihn in den 1980er Jahren unterstützte, als er vom IWF diktierte Marktreformen und die Privatisierung von Staatsbetrieben befürwortete. Wie seine Kollegen in den anderen jugoslawischen Teilrepubliken - Franjo Tudjman in Kroatien, Alija Izetbegovic in Bosnien und Milan Kucan in Slowenien - versuchte Milosevic, die Unzufriedenheit über den resultierenden Verlust von Arbeitsplätzen und das Sinken des Lebensstandards durch das Anheizen von ethnischem Nationalismus abzulenken. Er war aber nicht der Erfinder dieses Prozesses. Vielmehr reagierte er, wie andere reaktionäre stalinistische Bürokraten, auf die dadurch bewirkten zentrifugalen Kräfte.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands 1991 hatte sich die geopolitische Position Jugoslawiens grundlegend verändert. Der erstarkte deutsche Imperialismus sah seine Interessen auf dem Balkan - ein traditionelles Einflussgebiet Deutschlands - am besten durch die Unterstützung der Sezession Sloweniens, der wohlhabendsten Region Jugoslawiens, und dann Kroatiens vertreten.

Washington war zuerst gegen die deutsche Intervention und die Auflösung Jugoslawiens. Doch dann entschloss es sich, auf den Zug aufzuspringen, um so seinem Ziel näher zu kommen, die ehemaligen Ostblockländer, die gerade für die kapitalistische Ausbeutung geöffnet worden waren, seiner Vorherrschaft zu unterwerfen. Es wurde zum stärksten Befürworter der Unabhängigkeit Bosniens und unterstützte später den albanischen Nationalismus und die separatistische Kosovo Befreiungsarmee. So wurde der Krieg der USA und der Nato gegen Serbien im Jahr 1999 vorbereitet.

Alle, die etwas von jugoslawischer Geschichte und Politik verstanden, warnten damals, dass dieses stückweise Zerlegen der jugoslawischen Föderation unvermeidlich zum Bürgerkrieg führen musste. Die Bildung neuer Nationalstaaten auf der Grundlage von ethnischem Nationalismus führte unausweichlich zu den "ethnischen Säuberungen".

Nachdem Washington sich hinter die Auflösung Jugoslawiens gestellt hatte, erkor es sich Serbien, das den Einheitsstaat verteidigte, zum Feind. Die USA protestierten nur dann gegen ethnische Säuberungen, wenn sie von Serben begangen wurden, unterstützten sie aber aktiv, wenn Kroatien, Bosnien und die Kosovoalbaner identische Ziele mit den gleichen blutigen Methoden verfolgten.

Das entschuldigt natürlich nicht die Verbrechen, für die Milosevic verantwortlich ist. Es ist jedoch eine Tatsache, dass diejenigen, die den Prozess gegen ihn initiiert haben, direkt für das Blutbad auf dem Balkan verantwortlich sind.

Der Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag trug alle Merkmale von Siegerjustiz. Milosevic wurde mittels eines korrupten Handels aus Serbien sozusagen entführt. Der Regierung in Belgrad, die ihn abgelöst hatte, erhielt die Zusage von Wirtschaftshilfe, wenn sie den Ex-Präsidenten auslieferte.

Die Anklageschrift gegen Milosevic war ein politisches und kein juristisches Dokument. Sie war erstellt worden, als noch die Bomben der USA und der Nato auf Serbien regneten. Das Tribunal selbst wurde von den gleichen Mächten eingerichtet und finanziert, die den illegalen Krieg gegen Jugoslawien begonnen hatten und im Rahmen der Intervention selbst Kriegsverbrechen begingen, nämlich die Bombardierung ziviler Ziele.

Der Beweis für den betrügerischen Charakter der ganzen Unternehmung liegt darin, dass die USA als wichtigster Organisator dieses Prozesses auftreten. Washington selbst akzeptiert weder internationales Recht noch die Zuständigkeit irgendeines internationalen Gerichts über sein eigenes Vorgehen in der Weltarena. Es boykottiert den Internationalen Strafgerichtshof und setzt Regierungen in aller Welt unter Druck, in bilateralen Abkommen amerikanisches Personal und amerikanische Truppen von jeder Verantwortung für Kriegsverbrechen gegen ihre Völker freizustellen.

Überdies, wenn es beim Prozess gegen Milosevic um Menschenrechte und Völkerrecht ginge, dann stellt sich die offensichtliche Frage: Warum hat die UNO nicht George W. Bush vor das Gericht gestellt? Es steht außer Frage, dass Bush, Cheney, Rumsfeld und andere in der US-Regierung, die einen unprovozierten, illegalen Krieg gegen den Irak geführt haben, für viel größere Kriegsverbrechen und für den Verlust von viel mehr Menschenleben verantwortlich sind, als Milosevic.

Der stärkste Vorwurf, der gegen Milosevic erhoben werden kann - und den Cohen in der Times vorbringt - ist der, dass er versuchte, politischer Ziele mit dem Mittel des Kriegs zu erreichen. Um wie viel größer ist dann die Schuld des amtierenden amerikanischen Präsidenten? Immerhin konnte Milosevic geltend machen, dass er mit militärischen Mitteln gegen die Zerstörung seines eigenen Landes kämpfte, die weitgehend auf die Intrigen mächtiger fremder Mächte zurückging.

Wie kann sich Bush rechtfertigen? Jeder Vorwand für die Invasion des Irak hat sich als Lüge herausgestellt. Letztendlich bleibt nur die Schlussfolgerung, dass das Militär des mächtigsten imperialistischen Landes auf ein kleines, schon durch Krieg verwüstetes Land losgelassen wurde, um die Vorherrschaft des US-Kapitalismus über eine strategische Region und ihre Ölvorräte durchzusetzen. Mit anderen Worten, es war ein krimineller Raubkrieg.

Dass Milosevic angeklagt wurde, Bush aber als einer seiner Ankläger auftreten konnte, entlarvt das sogenannte internationale Rechtssystem als Instrument imperialistischer Außenpolitik.

Siehe auch:
Haager Kriegsverbrechertribunal verbietet Milosevic sich selbst zu verteidigen
(10. September 2004)
Wann ist ein Kriegsverbrecher kein Kriegsverbrecher?
( 9. Mai 2002)
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