Unmittelbar nach Ablauf der Friedenspflicht, die während der Laufzeit eines Tarifvertrages Arbeitskampfmaßnahmen verbietet, legten am Mittwoch mehr als 80.000 Metallarbeiter in über 300 Betrieben vorübergehend die Arbeit nieder.
Schwerpunkt der ersten Warnstreikwelle war Nordrhein-Westfalen. Dort beteiligten sich nach Angaben der IG Metall mehr als 33.000 Beschäftigte in 181 Betrieben an dem Ausstand. Die größte Kundgebung fand mit rund 10.000 Teilnehmern bei den Ford-Werken in Köln statt. In Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Thüringen beteiligten sich nach Zählung der Gewerkschaft 22.000 Metall-Beschäftigte an den Streikaktionen. In Bayern waren es rund 10.000, darunter die Nachtschichten von Osram, MAN-Roland und EADS in Augsburg, sowie Epcos, Infineon und Bosch in München. In Baden-Württemberg demonstrierten rund 8400 Beschäftigte, in Niedersachsen etwa 6.200 und in Berlin 3.500.
Am zweiten Tag der Warnstreiks weiteten die Gewerkschaften die Aktion aus. Knapp 70.000 Metaller aus 199 Betrieben legten am Donnerstag die Arbeit nieder. Die Autobauer DaimlerChrysler und BMW standen im Mittelpunkt der Aktionen. 12.000 Beschäftigte verließen im DaimlerChrysler-Werk Sindelfingen vorzeitig ihren Arbeitsplatz. Im bayerischen BMW-Werk Dingolfing legten 11.000 Beschäftigte die Arbeit zeitweise nieder.
Die IG Metall fordert für die 3,4 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie fünf Prozent mehr Einkommen. Die Gewerkschaft kritisiert, dass die Arbeitgeber trotz hoher Gewinne und nachweislich voller Auftragsbücher bislang kein Angebot vorgelegt haben. Stattdessen hätten Sprecher des Arbeitgeberverbandes lediglich eine Anhebung der Einkommen um 1,4 Prozent als akzeptabel bezeichnet.
Vor rund 3.000 streikenden Ford-Beschäftigten in Saarlouis rief IG-Metall-Chef Jürgen Peters die Arbeitgeber auf, "Schluss mit dem Kasperletheater" zu machen und ein "verhandlungsfähiges Angebot" vorzulegen. Man sei nicht an einem Konflikt, sondern an Lösungen interessiert. Falls nötig, werde man den Konflikt jedoch nicht scheuen, betonte Peters.
Der IG-Metall-Bezirksleiter in Nordrhein-Westfalen, Detlef Wetzel, kündigte in einem Interview die Bereitschaft der Gewerkschaft an, nach Ostern eine Urabstimmung über einen unbefristeten Streik durchzuführen. Die Unternehmer sollten sich keine falschen Vorstellungen machen, erklärte Wetzel, die Streikbereitschaft in den Metall- und Elektrobetrieben sei sehr groß.
Doch die Metall-Arbeitgeber zeigten sich unbeeindruckt und sprachen sich in scharfen Worten gegen die Warnstreiks aus. Derartige Aktionen seien völlig überflüssig und brächten "die Tarifverhandlungen kein Stück voran", sagte der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegiesser. "Egal, was wir vorschlagen, die IG Metall kommt nicht aus ihren alten Ritualen heraus", fügte Kannegiesser hinzu und warf der Gewerkschaft eine "Verweigerungshaltung" vor. Die Arbeitgeber hätten eine "deutliche Struktur für eine mögliche Lohnerhöhung" in Aussicht gestellt.
Die Fünf-Prozent-Forderung der IG Metall sei deshalb nicht zu akzeptieren, weil sie vor allem kleinere Unternehmen gefährde, die seien "regelrecht eingeklemmt zwischen steigenden Rohstoffkosten und den Sparzwängen ihrer Abnehmer". Kannegiesser forderte eine stärkere Differenzierung der Löhne. Neben einem Grundgehalt sollten die Beschäftigten je nach Berufsgruppen ein Leistungsentgelt und eine Beteiligung am Unternehmenserfolg erhalten.
Fakt ist, dass das Realeinkommen der Beschäftigten seit Jahren zurückgeht. Die so genannten realen Bruttolöhne, also die Löhne, bei denen die Preisentwicklung berücksichtigt wird, seien seit 2003 in Deutschland ständig gesunken, berichtet Claudia Witte in einem Beitrag für tagesschau.de. Der durchschnittliche Arbeitnehmer verlor laut Statistischem Bundesamt 2,7 Prozent an Kaufkraft. Ein Blick auf die Reallohnentwicklung der EU-Staaten der vergangenen zehn Jahre (1995 - 2004) zeigt Deutschland ganz hinten: Während die Reallöhne im EU-Schnitt um 9,9 Prozent stiegen, sanken sie in Deutschland um 0,9 Prozent.
"Es gibt eine Umverteilung hin zu Gewinneinkünften", erklärt Reinhard Bispinck, Tarifexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, und ergänzt: "Während die Unternehmensgewinne kräftig steigen, haben die deutschen Arbeitnehmer erstmals seit der Wiedervereinigung auch auf dem Papier weniger verdient als im Vorjahr. Die Arbeitnehmerentgelte, also die Summe der Bruttolöhne zuzüglich der Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber, fielen gegenüber 2004 um 0,5 Prozent. Dagegen legten die Unternehmens- und Vermögenseinkommen im vergangenen Jahr um 6,1 Prozent und 2004 sogar um 11,7 Prozent zu."
Eine der Ursachen für die Talfahrt der Löhne besteht darin, dass sich der Arbeitsmarkt stark verändert. So genannte prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Minijobs, Teilzeit und Ein-Euro-Jobs nehmen zu. Der Niedriglohnsektor wachse und übe starken Druck auf das Lohngefüge aus, betont Bispinck. Zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2004 sank die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um mehr als sieben Prozent, die Zahl der geringfügig Entlohnten stieg um 18 Prozent, die der Teilzeitkräfte um knapp zehn Prozent.
Obwohl die Lohnforderung von fünf Prozent also gut begründet und vollauf gerechtfertigt ist, signalisiert die Gewerkschaft Kompromissbereitschaft und macht deutlich, dass sie durchaus auch zu einem niedrigeren Abschluss bereit ist. In einem Gespräch mit der Passauer Neuen Presse betonte der stellvertretende Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, dass die Gewerkschaft immer ein hohes Maß an gesellschaftlicher Verantwortung gezeigt habe. Auch jetzt dienten die Warnstreiks vor allem dazu, den Unternehmern vor Augen zu führen, dass sie ein ernsthaftes Angebot machen müssten.
Mit Hinweis auf den seit sieben Wochen anhaltenden Streik im öffentlichen Dienst sagte Huber: "Die Metall- und Elektroindustrie ist nicht der öffentliche Dienst. Wir wollen eine Lösung, wenn möglich noch vor dem Arbeitskampf."
Beide, Jürgen Peters als Vorsitzender der IG Metall und Berthold Huber als sein Stellvertreter, sind langjährige Mitglieder der SPD und bestens darüber informiert, dass der Arbeitsminister der Großen Koalition und ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering drastische Angriffe auf den Kündigungsschutz plant. So ist im Koalitionsvertrag festgelegt, dass die Berliner Regierung dieselben Maßnahmen anstrebt, gegen die in Frankreich gegenwärtig Studentenverbände, Gewerkschaften und große Teile der Bevölkerung Sturm laufen. Im Unterschied zu Frankreich sollen hier aber nicht nur Jugendliche unter 26 Jahren in den ersten beiden Beschäftigungsjahren ohne Angabe von Gründen gefeuert werden können, sondern alle Beschäftigten.
Anstatt den Lohnkampf und die Streikbereitschaft in der Elektro- und Metallindustrie als Auftakt für eine breite politische Mobilisierung gegen die unsozialen Angriffe der Großen Koalition zu sehen und gemeinsam mit den Studenten und Arbeitern in Frankreich einen europaweiten Widerstand gegen diese Politik aufzubauen, tut die IG Metall genau das Gegenteil. Sie versucht die Mobilisierung in den Betrieben auf isolierte Protestaktionen zu beschränken, während sie gleichzeitig mit der Regierung zusammenarbeitet und sie berät.
