Klinikärzte weiten Streik aus

CDU-Länder wollen Exempel statuieren

In den frühen Morgenstunden des gestrigen Freitags brach der Vorsitzende der Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB), Frank Ulrich Montgomery, das Spitzengespräch mit dem Verhandlungsführer der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL), Niedersachsens Finanzminister Hartmut Möllring (CDU), ab und kündigte für den kommenden Montag eine deutliche Ausweitung des Streiks der Klinikärzte an.

Sichtlich enttäuscht und empört über die Unnachgiebigkeit der öffentlichen Arbeitgeber erklärte Montgomery nach dem zwölfstündigen erfolglosen Verhandlungsmarathon, dass der Marburger Bund "mit einer gehörigen Portion Kompromissbereitschaft" in dieses Spitzengespräch gegangen sei. Es mache jedoch keinen Sinn, "mit einem Herrn Möllring zu diskutieren, der den Ärzten gerade mal einen Einkommenszuwachs von 1 Prozent zubilligen will". Das "großspurig angekündigte Angebot", das Möllring zu Beginn der Verhandlungen in der sächsischen Metropole Dresden angekündigt hatte, habe sich nach stundenlangen Gesprächen als "sächsischer Treppenwitz" herausgestellt, sagte Montgomery.

Auf Möllrings Behauptung, er habe der Ärztegewerkschaft eine Gehaltserhöhung von 15 bis 16 Prozent angeboten, und mehr sei "beim besten Willen nicht zu verantworten", erwiderte der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Marburger Bundes, Lutz Hammerschlag, es handle sich um reine Demagogie. Im vergangenen Jahr seien die ohnehin sehr niedrigen Einkommen der Klinikärzte durch die Streichung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes sowie andere Einschränkungen in unerträglichem Maße reduziert worden, und das angeblich "großzügige Angebot" gleiche diese Einkommensverluste in vielen Fällen noch nicht einmal vollständig aus. Möllring versuche offensichtlich, bei den Ärzten ein Exempel zu statuieren und eine Null-Runde durchzusetzen. Das werde ihm aber nicht gelingen.

Seit Beginn des Streiks der 22.000 Klinikärzte vor acht Wochen setzt der niedersächsische Finanzminister auf Konfrontation. Obwohl die Ärztegewerkschaft in zehn Verhandlungsrunden und mehreren Spitzengesprächen weitgehende Kompromissbereitschaft signalisiert hat, verschleppte Möllring die Verhandlungen immer wieder und versucht die Gewerkschaft in die Knie zu zwingen.

Am vergangenen Wochenende hatten sich beide Seiten bei Verhandlungen in der bayerischen Landeshauptstadt München bereits auf "Eckpunkte" verständigt und ein Sprecher des MB ließ mitteilen, eine Einigung sei "zum Greifen nahe". Doch dann intervenierte Möllring und bezeichnete die bereits um mehr als die Hälfte der ursprünglichen 30 Prozent gesenkte Gehaltsforderung als "unakzeptabel" und "abwegig".

Im ZDF betonte der Hauptgeschäftsführer des Marburger Bundes, Armin Ehl, daraufhin erneut die Kompromissbereitschaft der Gewerkschaft. Die realistische Spanne der Gehaltsforderung liege zwischen 7 und 20 Prozent, erklärte Ehl. Zugleich betonte er, es gehe nicht nur um mehr Geld für die Ärzte, sondern um eine Paketlösung. Auch die Arbeitszeit müsse neu geregelt werden. Es könne nicht sein, dass Ärzte 70 bis 80 Stunden in der Woche arbeiten müssten. Man sei bereit, bis zu 48 Stunden zu arbeiten, die dann aber auch voll bezahlt werden müssten, sagte Ehl.

Als am Dienstag die Gespräche in Köln fortgesetzt werden sollten, ließ Möllring den Termin erst mehrmals verschieben und schlug dann das Spitzengespräch vor, das nun in Dresden geplatzt ist.

Dieses Vorgehen ist auch unter den öffentlichen Arbeitgebern nicht unumstritten. Die Geschäftsleitung mehrerer Kliniken hat gegen die unnachgiebige und provokative Verhandlungsführung der Tarifgemeinschaft unter Möllrings Führung protestiert. Mehrere Kliniken forderten, selbst mit der Gewerkschaft zu verhandeln. Die bisherigen Verhandlungen der Tarifgemeinschaft der Länder sind "eigentlich eine Katastrophe", erklärte der Direktor der Freiburger Universitätsklinik, Mathias Brandis. In einem Interview mit dem Deutschlandradio sagte er: "Wir hätten längst eine Einigung mit dem Marburger Bund, wenn wir selbst verhandeln könnten."

Viele Direktoren und Geschäftsführer kennen die katastrophale Situation, unter der vor allem junge Assistenzärzte zu leiden haben, und befürworten sowohl eine Verbesserung der Einkommen wie auch eine Arbeitszeitregelung, die sich an anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes orientiert. Aber Verhandlungsführer Hartmut Möllring verfolgt andere Ziele.

"Es ist etwas faul im Staate Deutschland..."

"Es ist etwas faul im Staate Deutschland, die Tarifverhandlungen der Ärzte beweisen es", kommentiert die Süddeutsche Zeitung die unnachgiebige Haltung des niedersächsischen Finanzministers und verteidigt die streikenden Ärzte. Nach Ansicht der Zeitung sind die "vielen gescheiterten Gesprächsrunden" vor allem ein Ergebnis davon, dass die "Ausbeutung der Ärzte" ein fester, selbstverständlicher Bestandteil des Medizinbetriebes sei. Das ist ohne Zweifel richtig. Doch Möllrings Konfrontationskurs steht in einem größeren politischen Zusammenhang.

Der niedersächsische Finanzminister gehört zu einer politischen Gruppierung in der Union, die gemeinsam mit führenden Kreisen der Wirtschaft und Politikern der FDP die Regierung Merkel unter Druck setzen. Ihnen gehen der Sozialabbau und die Angriffe auf Arbeitnehmerrechte nicht schnell und nicht weit genug. Möllrings Regierungschef, der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulf, ist ein Strippenzieher der rechten Seilschaft in der Union.

Seit er vor drei Jahren die Führung der Landesregierung in Hannover übernahm, hat Wulf nicht nur drastische Sozialkürzungen durchgesetzt, sondern auch den Einfluss der Landesregierung auf den Volkswagenkonzern genutzt (die Landesregierung verfügt über 18 Prozent der stimmberechtigten Stammaktien bei VW), um Mitbestimmungsrechte abzubauen und den massiven Abbau von Arbeitsplätzen zu vereinfachen.

Der medienwirksam inszenierte Rotlicht-Skandal, mit dem in vergangen Jahr aufgedeckt wurde, dass die VW-Geschäftsleitung seit Jahren Luxusreisen für Betriebsräte inklusive Bordellbesuche finanziert hat, war direkt mit der Vorbereitung von Massenentlassungen bei VW verbunden und stand in engem Zusammenhang mit der aggressiven, wirtschaftsliberalen Politik der Wulf-Möllring-Regierung.

Hinter Möllrings KO-Strategie gegenüber den Klinikärzten stehen dieselben politischen Kräfte und Wirtschaftsverbände, die im vergangenen Jahr eine Regierung von Union und FDP an die Macht bringen wollten. Angesichts des Widerstands der Bevölkerung gegen die sozialen Angriffe der rot-grünen Bundesregierung im Rahmen von Hartz IV und Agenda 2010 wollten sie so die Interessen der Wirtschaft mit Brachialgewalt durchsetzen.

Dass ihre Politik bei den Wahlen im vergangenen Herbst von einer Mehrheit abgelehnt wurde, interessiert sie nicht. Sie verlangen von der Regierung Merkel, den Abbau der Sozialstandards zu beschleunigen. Sie reagieren auf jede unsoziale Maßnahme - wie die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre durch Arbeitsminister Müntefering (SPD) oder die Beschlüsse von Finanzminister Steinbeck (SPD) zur weiteren Steuerentlastung für Reiche bei gleichzeitiger Schröpfung der Normalverdiener - indem sie immer neue und weitergehende Forderungen stellen.

Sie verfolgen das Ziel, alles was vom sozialem Ausgleich noch übrig ist - wie allgemein gültige Tarifverträge, angemessene Löhne, von denen jeder leben kann, Acht-Stunden-Tag, Kündigungsschutz und so weiter - abzuschaffen. Stattdessen wollen sie amerikanische Verhältnisse durchzusetzen, die ein willkürliches Heuern und Feuern ermöglichen.

Ein Exempel statuieren

Niemand sollte sich täuschen. Möllrings Attacken auf die Ärztegewerkschaft zielen darauf ab, eine gewerkschaftliche Organisation mit knapp Hunderttausend Mitgliedern, die weder über ein aufwendigen Verwaltungsapparat noch über eine Streikkasse verfügt, in die Knie zu zwingen. So soll ein Exempel statuiert werden, um Arbeiterrechte auf breiter Front anzugreifen.

Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang an die Zerschlagung der amerikanischen Fluglotsengewerkschaft PATCO zu erinnern, auch wenn die Größenordnungen nicht dieselben sind.

Anfang der achtziger Jahre schwappte der Begriff "Union busting" über den Atlantik. Die damalige US-Regierung unter Ronald Reagan hatte gleich zu Beginn ihrer Amtszeit einen Streik der Fluglotsengewerkschaft PATCO provoziert, alle Streikenden entlassen, die Streikführer verhaftet und die Gewerkschaft finanziell ruiniert. Das Ziel war eine große, sichtbare Niederlage der Arbeiterbewegung.

Die Zerschlagung der Fluglotsengewerkschaft bildete den Auftakt für eine ganze Reihe von Angriffen auf die amerikanische Arbeiterklasse, um drastische Lohnsenkungen und den Abbau elementarer Arbeitnehmerrechte durchzusetzen. In einem US-Konzern nach dem anderen wurden anschließend die Arbeiter in die Knie gezwungen. Die Zerschlagung von PATCO stand am Anfang einer Entwicklung, die im vergangenen Jahr darin gipfelte, dass der größte amerikanische Autoteilezulieferer Delphi von seinen 33.000 Beschäftigten eine 60-prozentige Lohnsenkung forderte und gleichzeitig ankündigte, dass die Pensionszusagen und Zahlungen für die Krankenversicherung gestrichen werden.

Die großen bürokratischen Apparate der Gewerkschaften reagierten auf diesen Druck, indem sie immer schneller und weiter nach rechts rückten. Das ist hier nicht anders, wie die wüsten Attacken der Verdi-Führung gegen den Streik der Klinikärzte zeigen. Verdi-Chef Frank Bsirske wies die Forderung des Marburger Bundes mit den Worten zurück, er habe "keinerlei Verständnis" für eine "derart übertriebene Gehaltsforderung".

Bereits vor einigen Wochen hatte Bsirske vor "überhöhten Zugeständnissen an die Mediziner" gewarnt und versucht, unter Krankenschwestern, Pflegern und anderen Krankenhausbeschäftigten Stimmung gegen die streikenden Ärzte zu machen. Mehrmals wiederholten Verdi-Funktionäre, "die Privilegien der Ärzte" gingen zu Lasten der übrigen Beschäftigten, denn das "zur Verfügung stehende Budget der Kliniken" könne nur einmal verteilt werden.

Dass die größte Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes mit mehr als zwei Millionen Mitgliedern sich in diesem Tarifkampf auf die Seite von Möllring stellt, seine Argumente übernimmt und den streikenden Ärzten in den Rücken fällt, ist von großer Bedeutung. Verdi stellt sich damit auf die Seite der reaktionärsten Teile der herrschenden Klasse. Ähnlich wie in Frankreich, wo die Gewerkschaften am Ende der Massendemonstrationen gegen den Abbau des Kündigungsschutzes Verhandlungen mit dem französischen Innenminister Sarkozy führten und damit den rechten Flügel der gaullistischen Bewegung stärkten, signalisiert Verdi seine Bereitschaft, die rechts-konservativen Kräfte zu unterstützen.

Diese Rechtswende ist ein Ergebnis davon, dass die Gewerkschaften die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und damit die kapitalistische Logik uneingeschränkt akzeptieren. Sie ziehen aus der Internationalisierung der Produktion und der Dominanz einer weltweiten Finanzoligarchie dieselben Schlussfolgerungen wie Müntefering oder Steinbrück, der das internationale Kapital als "scheues Reh" bezeichnet, das durch Zugeständnisse in Form von sinkenden Unternehmenssteuern, Niedriglöhnen und verschärften Ausbeutungsbedingungen angelockt werden müsse.

Aber noch etwas sorgt für Aufregung in den Gewerkschaftszentralen.

Dass die Klinikärzte zum ersten Mal seit mehr als dreißig Jahren in Streik getreten sind - wohl gemerkt: ohne Streikgeld! - und nun, nach acht Wochen, auch noch bereit sind, diesen Arbeitskampf auszuweiten, zeigt, dass sich hier etwas Neues entwickelt. Wer in den vergangenen Wochen die Möglichkeit hatte, mit den meist jungen, streikenden Ärzten zu sprechen, traf oft auf eine Mischung aus fast naiver Begeisterung und Unsicherheit. Viele Streikende betonten, dass es sich bei ihrem Kampf nicht um eine traditionelle gewerkschaftliche Auseinandersetzung handle.

Das ist wahr. Es handelt sich nicht um eine von Gewerkschaftsbürokraten organisierte und finanzierte Aktion, um Dampf abzulassen, wie es so viele gab in der vergangenen Zeit. Vielmehr meldet sich mit dem Streik der Ärzte eine gesellschaftliche Schicht zu Wort, die vielleicht am besten als "intellektuelles Proletariat" bezeichnet werden kann. Nicht nur in den Krankenhäusern arbeiten Akademiker nach langer Ausbildung unter unzumutbaren Bedingungen, mit Niedriglöhnen, endlosen Arbeitszeiten und unter völlig prekären Verhältnissen, die oft jegliche Zukunftsplanung unmöglich machen. Technikern, Ingeneuren und Wissenschaftlern geht es oftmals nicht besser.

Insofern ist der Ärztestreik ein Vorbote kommender sozialer Konflikte. Er erfordert vor allen Dingen eine politische Debatte über eine sozialistische Perspektive, die die Bedürfnisse der Bevölkerung höher stellt, als die Profitinteressen der Wirtschaft.

Siehe auch:
Klinikärzte demonstrieren in Hannover
(24. März 2006)
22.000 Klinikärzte beginnen unbefristeten Streik
( 18. März 2006)
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