Viele Ärzte kritisieren den Tarifabschluss des Marburger Bundes

Acht Wochen haben Ärztinnen und Ärzte an den 700 kommunalen Kliniken gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in Form von unbezahlten Überstunden, bürokratischer Mehrarbeit, Abbau sozialer Leistungen und schlechter Bezahlung gestreikt. Dann einigte sich die Verhandlungskommission des Marburger Bundes (MB) mit der Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände (VKA) am 16. August auf einen neuen "ärztespezifischen" Tarifvertrag.

Funktionäre der Ärztegewerkschaft sprachen sofort von einem "großen Erfolg". Der neue Vertrag bringe eine Steigerung der Tariflöhne von 10 bis 13 Prozent. Der Vorsitzende des Marburger Bundes, Frank Ulrich Montgomery, bezeichnete den Tarifvertrag als "Meilenstein": Der Abschluss sei zwar "kein Grund zu überschwänglichem Jubel", die Ärzte erhielten aber eine "anständige Gehaltserhöhung". "Erstmals ist es gelungen, einen arztspezifischen Tarifvertrag in der Fläche zu verankern."

Von der anderen Seite des Verhandlungstischs kamen entsprechende Klagen. Der Sprecher der kommunalen Arbeitgeberverbände, Otto Foit, erklärte nach dem Abschluss: "Es ist heute kein wirklich guter Tag für die Kliniken. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass der uns aufgezwungene Kompromiss für manche Klinik die Existenzfrage verschärfen wird." Durch den Abschluss entstünden den Kommunen jährliche "Mehrkosten von 500 Millionen Euro", die zu Personalabbau und in Einzelfällen auch zu Klinikschließungen führen würden.

Die betroffenen Ärzte versuchten sich selbst ein Bild zu machen, stießen aber schnell auf widersprüchliche Aussagen: Prozentzahlen ohne Bezugsdaten, angebliche Verbesserungen, die frühere Kürzungen nicht annähernd ausgleichen, und so weiter. Überall waren gezielt Nebelkerzen aufgestellt, um eine genaue Einschätzung des neuen Tarifvertrages so schwierig wie möglich zu machen.

Typisch für viele schrieb ein erboster Arzt in einem Internet-Diskussionsforum: "Je länger ich mir das Hickhack ansehe, desto klarer wird mir, dass niemand irgendetwas Genaues weiß, wir raten und rätseln doch nur vor uns hin! Kann es sein, dass die Informationspolitik des MB unter dem Begriff ‚besch...’ noch gelobt wäre? In unserer Klinik weiß niemand irgendetwas, und die Infos des MB sind so gut, dass wir nicht mal wissen, ob wir 42- oder 40-Stundenwoche haben!"

Die widersprüchlichen Angaben und die "schlechte Informationspolitik" des Marburger Bundes waren aber weder Zufall noch das Ergebnis von Unerfahrenheit, sondern Teil einer gezielten Kampagne mit dem Ziel, die schlichte Tatsache zu verschleiern, dass der MB-Vertrag nicht besser ist als der von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi abgeschlossene Tarifvertrag des öffentlichen Diensts (TVöD), den der MB bisher scharf kritisiert hatte.

Die angeblichen Lohnerhöhungen der Ärzte - von denen der MB spricht - ergeben sich nur dann, wenn man einen Verdi-Tarifvertrag zu Grunde legt, der für die Ärzte keinerlei Gültigkeit hat. Betrachtet man die Entwicklung genauer, ergibt sich ein ganz anderes Bild.

TVöD und BAT

Im Herbst vergangenen Jahres hatte Verdi den TVöD gemeinsam mit Regierungsvertretern von Bund und Gemeinden hinter dem Rücken der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes abgeschlossen und damit den bisher geltenden BAT (Bundes-Angestelltentarif) ersetzt. Das hatte in vielen Bereichen massive Verschlechterungen zu Folge.

Gerade weil der TVöD für die im öffentlichen Dienst beschäftigten Ärzte Einschnitte von durchschnittlich 12 Prozent bedeutet hätte, ist der Marburger Bund im vergangenen Herbst aus der Tarifgemeinschaft mit Verdi ausgestiegen und hat die Aufnahme eigenständiger Tarifverhandlungen durchgesetzt. Der Marburger Bund stellte damals die Forderung einer 30-prozentigen Erhöhung der TVöD-Vergütung auf, um die Verschlechterung gegenüber dem BAT und die einschneidenden Lohnsenkungen der zurückliegenden Jahre zu kompensieren.

Mit dieser Haltung gewann der Marburger Bund große Unterstützung und viele Ärzte wechselten vom Verdi zum MB. Wenn jetzt die Führungsgremien des MB den Verdi-Vertrag zu Grunde legen, um ihren eigenen Abschluss schönzureden, ist das reine Augenwischerei.

Eine objektive Bewertung ergibt sich nur dann, wenn der bisher für die Ärzte gültige Bundes-Angestelltentarif zu Grunde gelegt wird, und dann zeigt sich folgendes:

In den verschiedenen Gehaltsgruppen sinken die Gehälter im Vergleich zum BAT um 10-12 Prozent. Je nach Berufsjahr und Einstufung ergeben sich Gehaltskürzungen von mehreren hundert Euro monatlich, bis zu 569 Euro. Ein 29-jähriger Berufseinsteiger, der heiratet und Kinder bekommt, muss in den ersten 20 Berufsjahren zusammengenommen auf über 70.000 Euro verzichten. Ohne Kinder sind es noch knapp 50.000 Euro. Auf einen 40-jährigen Berufseinsteiger bzw. -wechsler kommen Einbußen von 94.000, ohne Kinder 71.000 Euro zu.

Das gleiche gilt für die übrigen Bestandteile des "ärztespezifischen Tarifvertrages" des Marburger Bundes, bei denen die Regelungen des TVöD von Verdi nahezu vollständig übernommen wurden. So wurden auch hier der Wegfall der verschiedenen Zulagen, wovon vor allem Beschäftigte mit Familien betroffen sind, die Abschaffung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld, die Erhöhung der Arbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden und die verschiedenen Verschlechterungen in der Gehaltstabelle festgeschrieben.

Besonders schwerwiegend ist hierbei die Streichung des so genannten Senioritätsprinzips, das mit steigendem Lebensalter automatisch steigende Vergütungen vorsah. Jetzt zählen nur noch die Jahre im aktuell ausgeübten Beruf. Die Berliner Ärztekammer schreibt dazu: "Wer zum Beispiel als Doppelfacharzt für Chirurgie und Orthopädie bislang orthopädisch tätig war und nun in die chirurgische Abteilung eines Krankenhauses wechselt, kann im Gehaltsgefüge des TVöD wieder von vorne beginnen."

Auch die Gehaltssteigerungen für Beschäftigte mit vielen Berufsjahren werden erst nach längeren Wartezeiten und in geringerem Maße gewährt. Besonders für Ärzte, die infolge ihrer langen Ausbildung erst mit rund 30 Jahren ins Berufsleben eintreten, bedeuten diese Veränderungen schwere Einkommenseinbußen.

Mit der Einführung von Öffnungsklauseln wurde für weitere Angriffe Spielraum geschaffen. Die umstrittene "Zukunftssicherungsklausel", gegen die sich der Marburger Bund im vergangenen Jahr entschieden verwahrt hatte, findet, wie der Marburger stolz verkündet, "keine Anwendung!" mehr. Doch unter der Überschrift "Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft" wurde beschlossen, dass aufgrund von wirtschaftlichen Notlagen Reduzierungen bei den Gehältern vereinbart und die Regelungen zur Arbeitszeit aufgebrochen werden können. In zynischer Weise wurde somit die Beschränkung der Zukunftssicherungsklausel, die Lohnkürzungen von nur 6 Prozent pro Jahr erlaubte, für noch größere Lohnkürzungen bei "Notlagen" von Krankenhäusern aufgehoben.

In mindestens zwei weiteren Punkten fällt der Abschluss des Marburger Bundes hinter den TVöD zurück. Bei den Bereitschaftsdienstzeiten wurden maximale Tagesdienste von 18 Stunden und Wochendienste von 58 Stunden im Jahresdurchschnitt vereinbart. Im TVöD sind es maximal 13-16 Stunden pro Tag und pro Woche vier Schichten von zwölf Stunden. D.h. der Marburger und hat weit längere Wochenarbeitszeiten als Norm festgeschrieben.

Auch in Bezug auf die Besitzstandswahrung liegt der Vertrag des Marburger Bundes unter den Bestimmungen des TVöD. Diese Frage ist von besonderer Bedeutung, weil 92 Prozent der kommunalen Ärzte noch nach BAT bezahlt werden. Für sie gilt nun auch die von 38,5 auf 40 Stunden verlängerte Arbeitszeit. Wollen sie bei 38,5 Stunden bleiben, werden sie als Teilzeitkräfte mit einem Minus von 4 Prozent eingestuft.

Im TVöD wird das im BAT verankerte Aufrücken in der Gehaltsgruppe nach Lebensjahren mit Strukturausgleichszahlungen auch zukünftig gewährt. Diese wurden vom Marburger Bund nicht ausgehandelt, so dass die noch im BAT eingestuften Ärzte jährliche Einbußen von 500 bis 1.000 Euro hinnehmen müssen. Auch die Familienzuschläge für künftige Kinder entfallen. Insgesamt erleiden diejenigen, die von der Besitzstandswahrung profitieren sollen, durch Mehrarbeit und versteckte Gehaltsabsenkungen Kürzungen von 10 bis 15 Prozent.

Ein Komplott gegen die Ärzte

Als sich Verdi Anfang August mit den kommunalen Arbeitgebern auf einen vergleichbaren Vertrag einigte und damit den streikenden Ärzten in den Rücken fiel, brandmarkte der MB-Vorsitzende Montgomery diesen Abschluss als "Frechheit" und "gefällig verpackte Täuschung". Die Allianz von Verdi und VKA erinnere ihn an "mafiöse Beziehungen".

Montgomery rechnete vor, dass dieser Vertrag den Ärzten nicht die angepriesene Steigerung von zehn Prozent, sondern "zwölf Prozent minus" bringe, und entlarvte, dass Verdi den Abschluss mit der seit Oktober 2005 geltenden ursprünglichen Fassung des TVöD verglich und nicht mit dem noch für die Ärzte geltenden Bundesangestelltentarifvertrag (BAT).

Doch davon ist jetzt nichts mehr zu hören. Im Gegenteil. Seit sich der Marburger Bund mit seinem Abschluss auf das Niveau des Verdi-Vertrages begeben hat, hört man von seiner Seite keinerlei Vergleiche mit dem BAT mehr. Montgomery hat sich der Kampagne von Arbeitgebern, Verdi und Medien angeschlossen und preist seinen Abschluss als Erfolg der Ärzte.

Anstatt die Wahrheit über den aktuellen Abschluss auszusprechen, haben Regierung, Medien, Verdi und auch der Marburger Bund ein regelrechtes Komplott geschmiedet, das als Ausgangspunkt für weitere, massive Angriffe auf die Beschäftigten in den Krankenhäusern dienen soll. Alle stimmen überein, dass es zu den geplanten Kürzungen keine Alternative gibt.

So werden auf Krankenhäuser ab nächstem Jahr Kürzungen des Budgets von jährlich 750 Millionen Euro infolge der Gesundheitsreform und von weiteren 500 Millionen Euro infolge der Mehrwertsteuererhöhung zukommen, von der die Krankenhäuser nicht ausgenommen sind.

Die gegenwärtige Kampagne dient auch dazu, die Ärzte zum künftigen Sündenbock zu machen. Die Schuld für die kommende Kürzungspolitik soll den "maßlosen" und "egoistischen" Ärzten angelastet werden, um die übrigen betroffenen Gruppen in den unvermeidlich kommenden Auseinandersetzungen darüber gegen sie aufhetzen zu können.

Siehe auch:
Der Streik der Klinikärzte wirft grundlegende politische Fragen auf
(2. August 2006)
Loading