Flüchtlinge strömen in den Südlibanon zurück

Israelischen Warnungen und Drohungen zum Trotz sind Hunderttausende Flüchtlinge im Libanon zu den Überresten ihrer Wohnungen zurückgekehrt. Mit einer Demonstration unverhüllter Opposition zur amerikanisch-israelischen Aggression forderten sie die Rückgabe ihres Landes und zeigten offen ihre Unterstützung für die Hisbollah.

Die Entwicklungen seit dem Inkrafttreten des von der UNO initiierten Waffenstillstands am 14. August haben erneut deutlich gezeigt, dass die USA und Israel ihre Kriegsziele nicht erreicht haben. Die Bush-Administration und die Regierung von Ministerpräsident Ehud Olmert wollten die Hisbollah-Miliz vernichten, den Libanon auf den Status eines halbkolonialen Protektorats zurückwerfen und die vorwiegend schiitische Bevölkerung aus einer israelisch besetzten "Pufferzone" im Süden vertreiben.

Nichts davon ist eingetroffen. Die libanesischen Flüchtlinge haben sich ihren Weg über zerstörte Straßen und Brücken gebahnt, um in ihr Land zurückzukehren, trotz der Gefahr, die von Blindgängern droht. Die Menschen haben Angst, dauerhaft Flüchtlinge zu bleiben und fürchten, dass Israel ihre Heimat annektiert. Sie wollen unter allen Umständen verhindern, dasselbe Schicksal wie die Palästinenser zu erleiden. Die libanesische Bevölkerung kennt die Vertreibung der Palästinenser durch die Israelis aus erster Hand - 1948 und erneut 1967 strömten Hunderttausende palästinensische Flüchtlinge in den Libanon.

Rückkehrende Flüchtlinge klagten zornig Israel und die USA für die während des 34-tägigen Bombardements angerichteten Schäden an. In den südlichen Vorstädten Beiruts wurde fast jedes Gebäude entweder zerstört oder schwer beschädigt. Über den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes brachte ein Bewohner ein Transparent an mit der Aufschrift: "Made in USA". Auf einem anderen Transparent in einem südlibanesischen Dorf war zu lesen: "Rice, man wird Ihren neuen Nahen Osten nicht erleben" - eine Anspielung auf die inzwischen berüchtigte Äußerung der amerikanischen Außenministerin am 22. Juli in Beirut, der Krieg stelle "die Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens" dar.

Beinahe eine Million Menschen, also ein Viertel der libanesischen Bevölkerung, mussten während der Kampfhandlungen fliehen. Nach libanesischen Schätzungen führten die israelischen Kampfbomber mehr als 4.500 Angriffe durch. Etwa 35.000 Häuser und Geschäfte wurden durch Raketen und Granaten zerstört, dazu ca. 650 Kilometer Straßen und Autobahnen sowie ca. 150, d.h. ein Viertel, aller Brücken und Autobahnkreuze des Landes.

"Südlibanon ist ein Reisebericht der Zerstörung: Stadt um Stadt ist von Bomben und Mörsergeschossen in Trümmer gelegt", schrieb die Los Angeles Times. Ganze Städte und Dörfer sind in Schutt und Asche gelegt worden. In Siddiqine beschrieb der ortsansässige Geschäftsmann Ali Bakri den Anblick: "Es ist wie nach einem Tsunami oder einem zweiten Hiroshima", sagte er gegenüber dem Chrisian Science Monitor.

Beinahe 1.200 Libanesen wurden getötet, und die Zahl wird sich wohl noch erhöhen, da bei den Aufräumarbeiten immer noch Tote aus den Trümmern geborgen werden. In Srifa, wo die Israelis zweimal ein Massaker an Zivilisten verübten, wurden weitere 32 Tote geborgen. Am 17. August ließen die Behörden in Tyrus mehr als 120 Opfer in einem Massengrab beisetzen. In Ainata fanden Mitarbeiter des Roten Kreuzes 18 Leichen, darunter auch Kinder. Der Leichengeruch zwang die Rettungsteams, bei ihren Einsätzen zwischen Ainata und Bint Jbeil, wo sich viele der heftigsten Kämpfe abspielten, Spezialmasken zu tragen.

Hisbollah-Kämpfer treten im Süden wieder offen auf und ihre Transparente und Fahnen sind für Israelis, die an der Grenze leben, wieder sichtbar. Flüchtlinge hissten Hisbollah-Fahnen an ihren Autos und Häusern und brachten ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, der israelischen Aggression zu trotzen. Zahlreiche Medienberichte haben bestätigt, dass die Hisbollah nun Massenunterstützung genießt. "Wir sind keine Terroristen", sagte Faras Jamil, ein 39-jährigerEinwohner von Aita Shaab zur Los Angeles Times. "Meine Frau ist für die Hisbollah, meine Kinder auch. Alle Bewohner dieser Stadt sind für die Hisbollah".

Die Demonstrationen widerlegten die amerikanisch-israelische Lüge, dass die Hisbollah nichts weiter als ein terroristischer Arm Syriens und Irans sei. Aus den Berichten geht hervor, dass die Organisation zum Anziehungspunkt der anti-imperialistischen und antizionistischen Gefühle der libanesischen und arabischen Massen geworden ist. Die Hisbollah genießt Massenunterstützung unter den libanesischen Schiiten, für die sie das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie weitere gesellschaftliche Dienstleistungen organisiert, und sie hat bei Sunniten, Christen und drusischen Libanesen durch ihren Widerstand gegen die israelische Offensive breite Unterstützung gewonnen.,

Die Hisbollah steht auch an der Spitze der Wiederaufbauarbeiten. Sie hat versprochen, jeder Familie, deren Haus zerstört wurde, ein Jahr lang die Miete zu zahlen und neue Möbel zur Verfügung zu stellen. Hunderte von Flüchtlingen in Beirut haben in den letzten Tagen Unterstützung beantragt. "Die libanesische Regierung ist hier nicht präsent", gab Hamed Harab, ein Beamter der Stadtverwaltung, zu. "Die Hisbollah kümmert sich um alles."

Im Süden ist die Situation ähnlich. "Die Regierung gibt es hier nicht", sagt Abdul Muhsen Husseini, ein Regierungsbeamter in Tyrus. "Wenigstens ist die Hisbollah da und hilft. Wenn man sie mitten in der Nacht anruft, kommen sie und helfen. Sie sind die Regierung."

Die Aussichten, dass die Hisbollah ihre Waffen abgibt und entsprechend der Forderung der USA und Israels sich aus dem Gebiet südlich des Litani zurückzieht, sind gering. Die israelische Armee konnte die Hisbollah-Kämpfer während des einmonatigen Kriegs nicht vernichten, und niemand erwartet, dass die libanesische Armee oder die 15.000 Mann starke multinationale Truppe, die vorbereitet wird, in der Lage sein werden, die israelischen und amerikanischen Diktate durchzusetzen.

Die libanesische Regierung hat zu verstehen gegeben, dass sie der Armee nicht die Entwaffnung der Hisbollah befehlen wird. Dies würde die Gefahr eines Bürgerkrieges im ganzen Land und einer Meuterei in der Armee bedeuten. "Die Schiiten stellen im Libanon beinahe 50 Prozent der Bevölkerung", meinte Yiftach Shapir vom Jaffee Centre for Strategic Studies dem israelischen Radiosender Arutz Sheva. "In der Armee, vor allem unter den Offizieren, ist der Anteil sogar noch größer, bei ungefähr 60 Prozent. Sie sind nicht alle Extremisten, doch die Frage ist, ob sie wirklich mit Waffen gegen die Hisbollah vorgehen wollen."

Die europäischen Länder, die Kontingente für die UN-Truppe bereitstellen wollen, haben betont, dass sie ihre Aufgabe nicht darin sehen, gegen Guerillakämpfer vorzugehen. "Es stimmt nicht, dass unsere Soldaten den Auftrag haben, gegen die Hisbollah vorzugehen", sagte der italienische Außenminister Massimo D'Alema am 17. August. Italien hat die Bereitstellung von 3.000 Soldaten zugesagt. Man hatte erwartet, dass Frankreich 5.000 Soldaten in den Libanon schickt und die UN-Mission leitet. Doch Präsident Jacques Chirac will nur 200 Mann bereitstellen, solange es keine klaren Vorgaben für den Umgang mit der Hisbollah-Miliz gibt.

Condoleezza Rice musste die Bedenken der europäischen Mächte einräumen. "Es wird wohl nicht erwartet, dass die UN-Truppe die Hisbollah wirklich entwaffnet", erklärte sie gegenüber der Zeitung USA Today. "Es gibt da ein kleines Missverständnis, was die Art und Weise angeht, wie man eine Miliz entwaffnet. Man muss zuallererst einen Plan zur Entwaffnung der Miliz haben, und dann darauf hoffen, dass einige ihre Waffen freiwillig niederlegen."

Der Rückschlag im Libanon hat die politische Krise in Washington und Tel Aviv verschärft. Klar ist allerdings jetzt schon, dass die Bush-Regierung ihre weitergehenden strategischen Pläne, den Nahen Osten zu unterjochen, weiterverfolgen will. Washington war stark beteiligt an den Planungen der israelischen Führung, in den Libanon einzumarschieren und widersetzte sich wochenlang den Forderungen nach einem Waffenstillstand. Wie der Journalist Seymour Hearsh im New Yorker enthüllte, begrüßte die Bush-Regierung den Krieg als Auftakt für einen Angriff auf den Iran.

Bei ihren Äußerungen in USA Today wies Rice mit unheilvollen Worten darauf hin, dass die UN-Resolution zu Libanon ein internationales Waffenembargo vorsieht, somit ein Verbot an andere Staaten, die Hisbollah mit Waffen zu beliefern. Die Klausel gibt der Bush-Regierung Vorwand genug für neue diplomatische und militärische Provokationen gegen Syrien und Iran.

In Israel veröffentlichte Haaretz einen Kommentar von Abraham Tal unter der Überschrift, "Jetzt den nächsten Krieg vorbereiten". "Ein Krieg ohne einen Sieger und ohne ein Abkommen zwischen den Kriegsparteien muss früher oder später wieder aufflammen", schrieb Tal. "Im Konflikt zwischen Israel und Iran, vertreten durch die Hisbollah, hat keine Seite ihr strategisches Ziel erreicht"...Man muss von der Annahme ausgehen, dass die nächste Konfrontation relativ bald stattfinden wird; nehmen wir an, als Basis unserer Überlegungen, zwei Jahre nach der letzten Konfrontation... in allen Fragen müssen wir so handeln, als ob dies mit absoluter Sicherheit eintreffen wird. Möglicherweise wird es erneut einen Waffengang in Form des zweiten Libanonkrieges geben, doch wir müssen uns auf Größeres und Gefährlicheres vorbereiten: einen umfassenderen Krieg mit regulären Armeen, auch der Armee einer Regionalmacht."

Der gegenwärtige Waffenstillstand bleibt brüchig, und Kampfhandlungen können schnell wieder aufflammen. Israel hat noch immer Tausende von Soldaten im Südlibanon stationiert und hält die illegale Seeblockade des Landes aufrecht. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht schwer für die Olmert-Regierung, mittels einer Provokation den Krieg mit der Behauptung wieder aufleben zu lassen, die Hisbollah hätte den Waffenstillstand verletzt.

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