Washington beunruhigt über zunehmendes Desaster in Afghanistan

In den herrschenden Kreise Amerikas wächst die Sorge über die verschlechterte Lage in Afghanistan. Dies kam in einem längeren Beitrag in der New York Times vom 23. August zum Ausdruck, dem am nächsten Tag ein Leitartikel mit der Überschrift "Afghanistan verlieren" folgte. Fast fünf Jahre nach der Invasion und Besetzung des Landes im Namen des "Kriegs gegen den Terror" gab die Zeitung unumwunden zu: "Es gibt keinen Sieg im Krieg um Afghanistan, und das ist zum großen Teil der gedankenlosen Hast der Bush-Regierung zu verdanken, den Irak anzugreifen und den ökonomischen Wiederaufbau in kurzsichtiger Weise zu vernachlässigen."

Der Leitartikel ist in seinen Zorn jedoch nicht in erster Linie gegen Bush und seine Regierung gerichtet, sondern gegen das Marionettenregime in Kabul mit Präsident Hamid Karzai an der Spitze. Karzai, der im Oktober 2004 eine manipulierte Wahl gewann, wird kritisiert, weil er es nicht geschafft hat, "Sicherheit, wirtschaftlichen Aufschwung oder eine effektive Regierungsarbeit" zu garantieren. Seine Regierung sei geschwächt durch "Klagen über die offene Korruption, die alles durchdringende Macht der Warlords und Drogenbosse sowie der eskalierende militärische Druck, den die zu neuem Leben erwachten und neu ausgerüsteten Taliban ausüben", heißt es in der Times.

Die offene Verurteilung Karzais könnte ein Hinweis darauf sein, dass die USA ihn loswerden wollen. Die Times -Korrespondentin Carlotta Gall berichtete im Artikel vom 23. August: "Afghanen und Diplomaten spekulieren, wer ihn ersetzen könnte." Der Oppositionspolitiker Abdul Latif Pedram erklärte: "Nie zuvor gab es in diesem Land eine derartige Korruption. Wir haben eine Mafiaökonomie und eine Drogenökonomie."

Dennoch ist Karzais Versagen den Besatzer des Landes zuzuschreiben, allen voran den USA. Der Exilpolitiker Karzai, dem jede wirkliche gesellschaftliche Basis in Afghanistan fehlt, wurde 2002 unmittelbar nach der US-Invasion als Präsident eingesetzt. Sein Regime war die ganze Zeit vollkommen und unmittelbar von Washington abhängig - wirtschaftlich, politisch und militärisch. Außerhalb der Hauptstadt fußt sein Einfluss auf einem unzuverlässigen Sammelsurium aus regionalen Warlords, Stammesführern und Milizkommandanten. Wer immer ihn ersetzen sollte, wäre mit den gleichen hartnäckigen politischen und sozialen Problemen konfrontiert.

Die Streitkräfte kämpfen unter Führung der USA gegen eine in den Bergen verschanzte und stärker werdende Guerilla. Der Sender Voice of America berichtete vergangene Woche: "Im ganzen Land nehmen die Angriffe jeder Art zu - von Straßenbomben und Selbstmordattentaten bis zu heftigen Überfällen auf Regierungsaußenposten, an denen mehrere hundert gut bewaffnete Aufständische teilnehmen." Während einige Guerillakämpfer Mitglieder der islamischen Taliban sind, gibt es Hinweise darauf, dass in vielen Gegenden lokale Stammesführer oder Drogenbarone den bewaffneten Widerstand anführen.

Afghanische Regierungsvertreter sagten gegenüber Voice of America, möglicherweise gebe es jetzt 40.000 Guerillakämpfer, die gegen die Besatzungstruppen und die afghanische Armee kämpften. Auch umfassende amerikanische und pakistanische Militäroperationen können nicht verhindern, dass aufständische Gruppen die Gebirgsregion an der afghanisch-pakistanischen Grenze als sicheres Zufluchtsgebiet nutzen, wo sie sich ausruhen, Nachschub fassen, trainieren und rekrutieren können. Große Teile der Paschtunen-Provinzen im Süden und Osten Afghanistans befinden sich außerhalb der Kontrolle Kabuls und werden immer wieder von Taliban-Verbänden eingenommen.

Die Nato-Truppen, die seit dem 31. Juli den Auftrag haben, die Kontrolle des Besatzungsregimes über die Südprovinzen durchzusetzen, treffen auf entschiedenen Widerstand. Nato-Kommandeur Generalleutnant David Richards sagte kürzlich gegenüber der BBC, dass die 4.000 britischen Soldaten in der Provinz Helmand in "ständige schmutzige Kämpfe niedriger Intensität" verwickelt seien, wie sie das britische Militär seit dem Koreakrieg oder dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt habe. Die 2.300 Mann starke kanadische Truppe in der Provinz Kandahar hatte allein im letzten Monat acht Tote und zig Verwundete zu beklagen.

Im August sind bisher 27 Soldaten der amerikanischen und alliierten Verbände umgekommen; für die Besatzungsarmeen in Afghanistan bedeutet dies die höchste monatliche Zahl an Toten in diesem Jahr und eine der höchsten seit Beginn der Besatzung. Die Zahl der Toten könnte im September sogar noch ansteigen. Die 1.400 holländischen und 400 australischen Soldaten, die sich im Moment in der Provinz Urusgan in Stellung bringen, werden vermutlich auch Verluste erleiden. Außerdem heizen die Aktivitäten der Besatzungstruppen die Feindschaft gegen die ausländischen Militärverbände weiter an.

Jüngst wurden bei einer Razzia in einem Haus, das angeblich einem Al Qaida-Anhänger gehörte, acht Menschen niedergeschossen, unter ihnen ein zehnjähriger Junge. Die Karzai-Regierung hat eine Untersuchung angeordnet, weil die afghanische Polizei behauptet, dass die Getöteten unschuldige Anwohner waren. Am Samstag töteten und verwundeten kanadische Soldaten afghanische Polizisten, die sich einem Checkpoint näherten. Nur 45 Minuten später eröffneten sie das Feuer auf zwei andere Polizisten, die auf einem Motorrad fuhren. Die Polizei wies die Behauptung der Kanadier zurück, die beiden hätten keine Uniformen getragen.

Empörung über ständige Durchsuchungen und Festnahmen sowie die Tötung von Zivilisten hat dazu beigetragen, die Reihen der Aufständischen zu stärken und die Taliban wiederaufleben zu lassen. Die Verbitterung über die anhaltende wirtschaftliche und soziale Katastrophe, die durch die Besatzung hervorgerufen wurde, tut ihr Übriges. Trotz der versprochenen Hilfsprogramme in Milliardenhöhe sind Arbeitslosigkeit und Armut noch immer allgegenwärtig und die Grundversorgung unzureichend. Drei Millionen Menschen sind zum Überleben auf Lebensmittelhilfe angewiesen.

In weiten Teilen der Hauptstadt Kabul fällt regelmäßig tagelang der Strom aus. Die Bewohner werden bestenfalls fünf Stunden am Tag mit Elektrizität versorgt. Der Bau neuer Kraftwerke und der Import von Strom aus Zentralasien haben kaum begonnen. Wohlhabende Afghanen, von denen viele für die Besatzer arbeiten, erhalten kontinuierlich Strom.

Die Washington Post berichtete Anfang des Monats: "Die Bewohner von Karte Nau, einem der dunkelsten und ärmsten Stadtteile von Kabul, fühlen sich doppelt benachteiligt. Eine Reihe neuer Strommasten und Leitungen laufen durch ihr Viertel, für die einige Familien bis zu 250 Dollar Anschlussgebühren gezahlt haben. Aber niemand wird bislang mit Elektrizität beliefert. Wenn sie des Nachts aus ihren Hütten die Straße hinunter schauen, dann blicken sie auf eine Reihe feiner neuer Häuser abseits der Hauptstraße, die beleuchtet sind wie bei einer Gartenparty."

In den ländlichen Gebieten Südafghanistans ist so gut wie nichts getan worden, um das elende Los der seit Jahrzehnten vom Krieg geschundenen Menschen zu erleichtern. Zehntausende Kleinbauern sind mangels Alternative zum Mohnanbau zurückgekehrt, worin sie von regionalen Warlords bestärkt werden, die nach der Vertreibung der Taliban durch die USA wieder hochgekommen sind. Etwa 90 Prozent des Heroins, das weltweit konsumiert wird, kommt mittlerweile aus Afghanistan.

Der Drogenhandel findet unter den Augen der afghanischen Staatsbeamten, der Armee und der mit den US-Truppen zusammenarbeitenden Polizei statt, die für ihre Korruption und Brutalität berüchtigt ist. Marvin Weinbaum, ein ehemaliger Afghanistan-Experte im US-Außenministerium, sagte vergangene Woche gegenüber Agence France Press: "Viele glauben, dass die Drogenverbindungen bis in die Spitzen der Provinzregierungen, bis zu den Gouverneuren und sogar bis ins Kabinett der Zentralregierung reichen. Karzai wagt nicht, dieses Problem anzugehen, weil das sein eigenes politisches Überleben gefährden könnte."

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das Opium eine wichtige Einnahmequelle der Taliban-Kämpfer und anderer US-feindlicher Milizen. Sie erheben Steuern auf den Opiumhandel und garantieren im Gegenzug, den Handel nicht zu stören. Es wird angenommen, dass in Südafghanistan 180.000 Hektar Land mit Mohn bebaut ist, aus dem 4.000 Tonnen Opium im Wert von 2,7 Milliarden US-Dollar gewonnen werden. Taliban-Kämpfer kaufen angeblich mit dem Drogengeld bessere Ausrüstung und Waffen ein.

In diesem Zusammenhang bekommt der Schluss des Artikels in der New York Times vom 24. August eine erschreckende Bedeutung. Das Blatt schreibt: "Die Amerikaner kommen immer mehr zur Einsicht, dass der Irakkrieg nichts mit dem Kampf gegen einen Terrorismus zu tun hat, wie er am 11. September erlebt wurde, sondern vielmehr eine Ablenkung davon ist. Der Krieg in Afghanistan war immer ein entscheidender Teil dieses übergeordneten Kampfs. Deswegen kann es sich Amerika nicht leisten, diesen Krieg zu verlieren."

Wenn den Krieg in Afghanistan "gewinnen" bedeutet, die Kontrolle der Besatzungsmacht über das gesamte Land durchzusetzen, dann erfordert das notwendigerweise eine massive Ausweitung der Gewalt gegen die afghanische Bevölkerung.

Siehe auch:
Struck will Bundeswehreinsatz in Afghanistan ausweiten
(2. September 2005)
Bundeswehr soll US-Truppen in Afghanistan entlasten
( 9. Februar 2005)
Afghanistan: "Demokratie" nach dem Diktat der USA
( 9. Januar 2004)
Bundestag beschließt Ausweitung des Bundeswehrmandats in Afghanistan
( 1. November 2003)
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