Wahlversammlung der PSG in Berlin

Die politische Degeneration der Labour Party

Am 16. September führte die Partei für Soziale Gleichheit in Berlin die abschließende Veranstaltung ihres Wahlkampfs zur Abgeordnetenhauswahl durch. Wir veröffentlichen hier die Rede von Chris Marsden. Er ist Vorsitzender der britischen Socialist Equality Party und Mitglied der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site .

Zu Beginn möchte ich den Genossen der PSG und allen heute Anwesenden die herzlichsten Grüße überbringen.

Ein Blick auf Großbritannien hilft, die heutige Entwicklung in Deutschland besser zu verstehen. Damit meine ich nicht bloß einen Vergleich zwischen der Regierung Merkel und der Regierung Thatcher. Zwar ist dieser Vergleich durchaus hilfreich, um die Folgen einer neoliberalen Marktoffensive, wie sie heute gegen den deutschen Sozialstaat und die Arbeitsschutzgesetze geführt wird, für die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung zu verstehen. Aber die britische Politik erfüllt noch in anderer Hinsicht eine Vorreiterrolle. Mit Recht kann man sagen, dass in Großbritannien die politische Degeneration der Sozialdemokratie ihre vollendetste Form erreicht hat.

Die Zuhörer werden schon von dem erbitterten Fraktionskampf gehört haben, der seinen Grund darin hat, dass die Labour Party keine Wahl mehr gewinnen wird, solange Tony Blair Premierminister ist. Es handelt sich jedoch um mehr als ein vorübergehendes Problem, das dadurch gelöst werden könnte, dass Blair durch Schatzkanzler Gordon Brown ersetzt wird. Wir sind Zeuge der anhaltenden Desintegration nicht nur Blairs und des Blairismus’, sondern der Labour Party selbst.

Mitte der 1990er Jahre wurde Blair zum Kopf des politischen Projekts, Labour in eine rechte Unternehmerpartei zu verwandeln. Dabei musste er nicht am Nullpunkt anfangen. Machen wir uns nichts vor: der Sozialreformismus war lange tot, bevor Blair eine Führungsposition erlangte.

Die Tage ernsthafter Reformen zugunsten der arbeitenden Bevölkerung sind für die Labour Party lange vorbei. Die letzte Reformoffensive der Partei fand in den frühen 1970er Jahren statt und endete damit, dass die Callaghan-Regierung auf Geheiß des Internationalen Währungsfonds Sparmaßnahmen einführte. Dies provozierte eine Massenstreikbewegung gegen Labour und endete damit, dass 1979 Thatcher an die Macht kam.

Achtzehn Jahre lang waren die Konservativen hauptsächlich deswegen in der Lage, ihr monetaristisches Wirtschaftsprogramm zu verwirklichen, weil Labour und die Gewerkschaften sämtliche Kämpfe gegen Thatcher sabotierten. Sie selbst drifteten dabei immer stärker nach rechts ab. Diese politische Wende war ein internationales Phänomen, das seinen wichtigsten Ausdruck in der Liquidierung der Sowjetunion fand, die wiederum Anlass gab, den "Tod des Sozialismus" zu proklamieren. Diese Theorie wurde von der Labour-Führung begeistert übernommen.

Nicht wegen seiner politischen Überzeugungen stieg Blair in die Führung auf, sondern weil er keine hatte. Er war ein leeres Blatt, bereit, sich den neuen politischen Realitäten, die die Wirtschaft verlangte, voll und ganz anzupassen. Seine Aufgabe bestand nicht nur darin, Labours endgültigen und offiziellen Bruch mit dem Reformismus zu vollziehen, indem er den Verstaatlichungs-Paragraphen der Parteisatzung strich. Er musste die Partei als alternatives politisches Instrument der Großkonzerne neu erfinden, die sich nicht darauf verlassen wollten, dass die konservative Regierung Bestand haben würde.

Nach dem Sturz der Sowjetunion hatten die Tories den Vorteil, dass niemand auf der so genannten Linken ihrer Glorifizierung der Marktwirtschaft entgegentrat. Dennoch wollten Millionen Arbeiter, die unter ihrem brutalen sozialen Experiment am meisten gelitten hatten, sie nach achtzehn Jahren loswerden. Blair erklärte, er werde Labour regierungsfähig und gleichzeitig "wählbar" machen, d.h. akzeptabel für die Finanzoligarchie, die im Lauf der 1980er Jahre weltweit aufgestiegen war.

Darum ging es bei Blairs New-Labour-Projekt und der Propagierung eines "dritten Weges". Dieser bestand im Wesentlichen aus einer Kombination von Wirtschaftspolitik à la Thatcher und Maßnahmen, die angeblich dem Schutz der Schwächsten und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt dienten. Angesichts der weit verbreiteten, Tory-feindlichen Stimmung reichte dies aus, um Blair an die Macht zu bringen. Er genoss dabei die Unterstützung von Rupert Murdoch und zahlreicher weiterer prominenter Kapitalisten. Am Ende verkörperte New Labour jedoch nicht die Wiedergeburt der Labour Party, sondern ihren Schwanengesang.

Blair konnte die Feindschaft gegen die Tories ausbeuten und sich gleichzeitig vollkommen auf die ideologische Verwirrung stützen, die das Ergebnis jahrzehntelanger Desorientierung durch Stalinismus und Sozialdemokratie war. Aber das konnte nicht lange vorhalten. Auch die beste Propagandamaschine kann selbst mithilfe willfähriger Medien nicht alle Menschen für immer an der Nase herumführen. Die Wahrheit wird schließlich ans Licht kommen, nicht zuletzt durch bittere persönliche Erfahrungen.

Weder Labour noch eine bürgerliche Partei kann von diesem von führenden Schichten der Bourgeoisie diktierten Wirtschafts- und Gesellschaftsprogramm abweichen. Blairs Kritiker, die sich in der Partei um Brown scharen, haben ebenfalls deutlich gemacht, dass sie "unversöhnliche Modernisierer" sind, und das Projekt "New Labour" retten wollen, indem sie sich von seinem verhasstesten Repräsentanten verabschieden. Ein neuer Kurs kann nur von einer Partei eingeschlagen werden, die eine vollkommen andere Gesellschaftsordnung aufbauen und das Privateigentum einer superreichen Elite an den Produktionsmitteln abschaffen wird.

Dies ist der wesentliche Hintergrund der Krise, in deren Klauen sich die Blair-Regierung befindet. Sie wurzelt im Wegbrechen ihrer sozialen Basis. Diese Krise drückt sich am schärfsten in der Massenopposition gegen Blairs Teilnahme am Krieg gegen den Irak und in den schrecklichen Konsequenzen seiner Allianz mit der Bush-Regierung aus. Auch in dieser Frage verfolgt Blair entschlossen die Interessen einer Finanzoligarchie, auf deren Befehl die Vereinigten Staaten nach der Herrschaft über die ölreichen Weltregionen greifen.

Ein Aspekt am Fraktionskrieg in der Labour Party ist besonders interessant: Einerseits sind Blairs Gegner verzweifelt bemüht, die Partei vor einem Wahldebakel zu bewahren, und sind zu dem Zweck auch bereit, Blair politisch die Kehle durchzuschneiden. Andrerseits können sie jedoch kaum offen über die eigentliche Frage sprechen, derentwegen Blair zum bestgehassten Politiker der britischen Geschichte geworden ist.

Blairs Tage sind gezählt, seit er Großbritannien auf der Grundlage von Lügen und unter Missachtung der starken Antikriegsstimmung in den Irakkrieg geführt hat. Genau wie Aznar in Spanien und Berlusconi in Italien hat auch er sich niemals davon erholt.

Er hoffte, ein Sieg - und ein Anteil an der Kriegsbeute - werde seine Gegner zum Schweigen bringen. Stattdessen ist der britische Imperialismus im blutigen Morast versunken. Das betrifft nicht nur den Widerstand gegen die Besatzung im Irak und sein Abgleiten in den Bürgerkrieg. Die Situation in Afghanistan ist genau so schlimm, und so ist der ganze Nahe und Mittlere Osten gegen die Vereinigten Staaten und Großbritannien aufgebracht worden. Schließlich haben Israels krimineller und letztlich katastrophaler Angriff auf den Libanon und seine üble Kriecherei vor Bush Blair das politische Rückgrat gebrochen.

Ich möchte hier nur ein Urteil über Blair zitieren, nämlich das des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter. Ende vergangenen Monats sagte er dem Daily Telegraph : "Ich war von Tony Blairs Verhalten überrascht und außerordentlich enttäuscht.... In vielen Ländern, in denen ich mit Politikern und Privatleuten zusammengetroffen bin, wird die Politik Großbritanniens mit der amerikanischen gleichgesetzt, wobei Großbritannien offensichtlich eine untergeordnete Rolle spielt. Wir haben jetzt die Situation, dass Amerika im Ausland so unpopulär ist, dass selbst in Ländern wie Ägypten und Jordanien unsere Zustimmungsrate unter fünf Prozent liegt. Es ist ein schändlicher und erbarmungswürdiger Zustand, und ich bin der Meinung, dass Ihr Premierminister durch seine gefällige und servile Art wesentlich dafür verantwortlich ist."

Aber trotz der Massenopposition und sogar trotz immer lauterer Forderungen der Bourgeoisie nach einem außenpolitischen Kurswechsel ließ Brown mit keinem Wort die Absicht erkennen, Labour von der gleichermaßen unpopulären und krisengeschüttelten Bush-Regierung zu distanzieren.

Anatole Kaletsky, Mitherausgeber der Times, sah sich zu der Frage gezwungen: "Hat Gordon den Elefanten im Raum entdeckt? Wenn nicht, hat er ein Problem."

Der Irak "hat Tony Blairs Popularität zerstört und überschattet die vielen Erfolge seiner Regierung", fuhr er fort. "Genau gesagt war der ‚Elefant’ nicht der Krieg selbst, sondern die Tatsache, dass der Premierminister in seiner blinden Hörigkeit gegenüber Präsident Bush die nationalen Interessen Großbritanniens aufgegeben hat. Aber der seltsamste Aspekt der Katharsis der letzten Woche in der Labour Party bestand darin, dass es gar kein reinigendes Gewitter war. In der ganzen Agonie der letzten Woche hat niemand das Trauma zu erwähnen gewagt, das die eigentliche Ursache ist, nämlich dass fast alle Labour-Aktivisten und die meisten Wähler mittlerweile Mr. Blair wegen seiner Unterstützung für die amerikanische Außenpolitik verachten und ihm misstrauen, und das nicht nur in Bezug auf den Irak, sondern auch den Libanon, Israel und den Iran."

In der Labour Party, schloss er, sollte eine Debatte "über die Außenpolitik, die USA und den Irak" geführt werden. "Wenn Gordon Brown an Mr. Blairs Außenpolitik festhält, wird er die nächsten Wahlen verlieren."

An einer solchen, verspäteten Kritik an Blair ist nichts progressiv. Sie kommt von bürgerlichen Elementen, die gezwungen sind, einzusehen, dass die Politik, die sie vollkommen unterstützt haben, Schiffbruch erlitten hat. Kaletsky beschwert sich: "Mr. Rumsfeld und Mr. Cheney haben Amerika aus einer militärischen Supermacht zu einem Papiertiger gemacht" und fordert "eine neue Außenpolitik, die nicht antiamerikanisch, nicht einmal Anti-Bush ist, sondern Präsident Bushs Fehler klar ablehnt".

Die ganze Labour Party hängt an den Rockschößen der amerikanischen Neokonservativen, nicht nur Blair. Dies zeigt sich daran, dass von Tory-Parteiführer David Cameron mehr kritische Äußerungen über die britische und amerikanische Außenpolitik stammen als von jedem wichtigen Herausforderer Blairs in seiner eigenen Partei.

Cameron stellte seine Version des britisch-amerikanischen Projekts unter dem Namen "Ein neues Herangehen an die Außenpolitik: Liberaler Konservatismus" vor. Darin distanziert er sich von Bush und den Neokonservativen, nicht jedoch von Amerika.

Der Neokonservatismus habe versucht, die Terrorgefahr mithilfe "der Überzeugung zu bannen, dass präventive Militäraktionen" angebracht und notwendig und dass "Freiheit und Demokratie durch Regimewechsel die beste Garantie für Sicherheit" seien. Das habe "eine unbeabsichtigte und beunruhigende Konsequenz" gehabt. Es habe "in Großbritannien und auf der ganzen Welt das Feuer des Antiamerikanismus angefacht".

Um amerikanische und britische Interessen zu wahren, müsse die "besondere Beziehung" zwischen Großbritannien und den USA aufrechterhalten werden, aber "wir werden weder unsern eigenen Interessen nützen, noch denen Amerikas, noch denen der Welt, wenn wir bei jedem Abenteuer als Amerikas bedingungsloser Verbündeter gesehen werden... Wir sollten in unserer Freundschaft fest, aber nicht sklavisch zu Amerika stehen."

Cameron forderte "eine Wiederbelebung des Multilateralismus", der sich auf "internationale Einrichtungen und internationale Bündnisse" stützt. Er kritisierte besonders die Missachtung demokratischer Rechte in Guantanamo Bay, die "übertrieben lange Haft ohne Urteil" in Großbritannien und die "unverhältnismäßige Bombardierung des Libanon durch Israel".

Der Guardian, eine Labour-nahe Zeitung, kommentierte Camerons Erläuterungen: "Es ist ein weiteres Anzeichen der Führungskrise in der Labour Party, dass Gordon Brown diese Art von sensibler, klarer und zukunftsweisender außenpolitischer Rede, wie sie der konservative Führer David Cameron gestern hielt, nicht hätte halten können, selbst wenn er es gewollt hätte."

Dass Labour so abscheulich rechts ist, ist natürlich noch lange kein Grund für Arbeiter, sich einem solchen Lob für Cameron anzuschließen. Was bedeuten seine Bemerkungen?

Bestimmte Schichten der europäischen Bourgeoisie sorgen sich ernstlich um die Konsequenzen der im Nahen Osten angerichteten Katastrophe. Sie versuchen jedoch in erster Linie, die resultierende Schwäche der Bush-Regierung für ihre eigenen imperialistischen Interessen auszubeuten.

Die europäischen Mächte werden freiwillig keinen offenen Konflikt mit Washington riskieren, aber sie gehen davon aus, dass der Versuch der Vereinigten Staaten, das Öl und andere lebenswichtige globale Ressourcen und Märkte zu monopolisieren, einen Rückschlag erlitten hat. Sie werden mit unabhängigen politischen und militärischen Schritten und mit harten Verhandlungen mit Washington reagieren, um sich einen Anteil an der kolonialistischen Neuaufteilung der Welt zu sichern.

Auch die britische Bourgeoisie wird ähnlich reagieren. Das ist der Grund, warum Cameron eine etwas selbständigere Beziehung zu Washington fordert und gleichzeitig betont, Großbritannien könne in der Weltpolitik nichts ohne Amerika erreichen, und der Einsatz militärischer Gewalt, einschließlich präventiver Kriege, sei notwendig.

Obwohl sich die Spannungen zwischen Europa und Amerika verschärft haben, ist die Kriegsgefahr um nichts geringer geworden. Ganz im Gegenteil: Dies wird die Entwicklung des europäischen Militarismus vorantreiben und das Bedürfnis nach noch härteren Angriffen auf soziale und demokratische Rechte verstärken. Der Kampf gegen Krieg hängt genauso von der unabhängigen politischen Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive ab, wie der Kampf gegen die wachsende soziale Ungleichheit, die im Weltmaßstab das Leben von Millionen fordert.

Der Einbruch der Unterstützung für die Labour Party in Großbritannien schafft die besten Bedingungen für eine solche grundlegende, politische Neuorientierung der Arbeiterklasse. Darin ist er durchaus vergleichbar mit der berechtigten Feindschaft der Berliner Arbeiter und Jugendlichen gegen die "rot-rote Koalition".

Das ist die Bedeutung der Kampagne unserer Genossen der PSG. Ihr Ziel ist die Vereinigung der Arbeiter Europas, der Vereinigten Staaten und weltweit durch den Aufbau ihrer eigenen Partei, des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

Siehe auch:
Wahlversammlung der PSG in Berlin: Die Dringlichkeit einer sozialistischen Perspektive
(21. September 2006)
Wahlversammlung der PSG in Berlin: Politische Lehren aus dem Bankrott der rot-roten Landesregierung
( 22. September 2006)
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