Proteste in Ungarn

Deutsche Medien loben Gyurcsany

Die Reaktion der deutschen Medien auf die soziale Explosion in Ungarn zeigt, dass es sich hier keineswegs um eine rein ungarische Krise handelt. Das beschlossene Sparpaket der Regierung Gyurcsany hat weit reichende Auswirkungen auf die breite Masse der Bevölkerung und wird zu einer drastischen Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen führen. Und vor der Aufgabe, ähnliche und teilweise gleiche Maßnahmen gegen die Bevölkerung politisch durchzusetzen, stehen sämtliche Regierungen in Europa.

Die Tatsache, dass es sich um eine schwere politische Krise handelt, wird nicht bestritten. Die Süddeutsche Zeitung fragt provokativ, auch in Anspielung auf den 50. Jahrestag des Aufstandes in Ungarn: "Braut sich eine neue Revolution zusammen?" Die Berliner Zeitung stellt fest, dass Ungarn eine solche Welle des Unmuts seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. "Die politische Krise ist real" schreibt die taz. Und die Welt wertet die Proteste als Ausdruck einer tiefen "Missstimmung gegen die politische Klasse, die in Ungarn, wie in so vielen anderen Ländern, herrscht".

Es gibt auch völliges Einverständnis darüber, dass es sich um "das bisher grausamste Spar- und Steuerprogramm" (Süddeutsche) handelt, um "unpopuläre Reformen" mit "schmerzhaften Eingriffen" für die Bevölkerung, um eine "brutale Sparerei" (taz), die nur mit einem "Gewaltritt" (FAZ) gegen die Bevölkerung durchzusetzen ist.

In zynischer Weise wird dabei der Wunsch nach sozialer Sicherheit als "‚Umsonst’-Mentalität" (FAZ), als "irrationales, sozialstaatliches Zuckerzeug" (Süddeutsche), als Vorstellung von "einem Schlaraffenland rund um die Uhr für alle" (taz) verhöhnt. Aus der Tatsache, dass die rechtspopulistische FIDESZ und rechtsradikale Gruppen aus der politischen Krise ihren Nutzen ziehen wollen, leitet die taz ihre Ablehnung des Protestes auf der Straße ab.

Kein einziger Kommentar hielt das Eingeständnis von Gyurcsany, die Bevölkerung systematisch mit falschen Versprechungen belogen zu haben, für kritikwürdig. So schreibt die Süddeutsche, "der Wähler halte die Wahrheit doch nicht aus".

Noch deutlicher ist die taz. Der Protest gegen Gyurcsany sei "keiner gegen seine Nichtwahrheiten, auch nicht gegen die Hilflosigkeit, die Krise. Sondern einer gegen die Desillusionierung und die Drohung, sie nicht mehr zu kultivieren." Das heißt, die Leute gehen auf die Straße, weil man ihnen ihre Illusionen genommen hat.

Das den Grünen nahe stehende Blatt lobt die vulgäre und zynische Rede des ungarischen Regierungschefs sogar. Er habe in seiner "ehrlichen Rede nur ausgesprochen, was jeder wusste": "Die Lebenslüge, dass Ungarn den Übergang von der sozialistischen Plan- und Subventionswirtschaft zum westlichen Kapitalismus ohne schmerzhaften Eingriffe meistern würde, sie ist viel zu lange gewährt worden."

Auch alle anderen Zeitungskommentare unterstützen den Standpunkt, dass es keine Alternative zu dem Sparkurs gebe, den Gyurcsany in die Worte fasste: "Ihr irrt Euch, wenn ihr denkt, dass ihr die Wahl habt. Ihr habt sie nicht." Womit er "die Zaghaften in der eigenen Partei aufschrecken" wollte, "damit sie mit aller Kraft das Sanierungsprogramm tragen..." (Süddeutsche)

Das auch die Oppositionsparteien keine Alternative anzubieten haben, davon gehen die internationalen Investoren in Ungarn aus. Die FAZ zitiert den Sprecher der Deutsch-Ungarischen Industrie - und Handelskammer mit den Worten: "Kurzfristig haben die Ereignisse nichts an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geändert. Langfristig erwarten die Unternehmen vor allem eine verlässliche und berechenbare Wirtschaftspolitik, die die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen dauerhaft stärke."

Gyurcsanys "kathartische" (Welt), "erfrischende" (Frankfurter Rundschau) Ehrlichkeit, "wissend, dass ihn das sein Amt kosten könnte", (taz) wird als Vorbild für seine europäischen Amtskollegen bewertet. Er wurde zum "Hassobjekt, weil er nicht mehr lügen wollte (und) nur zugespitzt (hat), was seine europäischen Amtskollegen nicht mal andeutungsweise zugeben würden." (taz) Er wird unterstützt, weil er der Konfrontation mit der eigenen Bevölkerung nicht aus dem Weg geht.

Zugleich wird Verständnis für seine Kollegen gezeigt, die dies in der Weise nicht tun. "Merkel und Konsorten würden solche Ansprachen niemals halten - täten sie es, wäre Budapest nur der erste Ort eines europäischen Brandes. Was aus ihm folgt, ist offen." (taz) Denn angesichts "einer desorganisierten Ordnungsmacht" während der Ausschreitungen in Budapest, wird "beklommen gefragt, was die Polizei eigentlich unternehmen würde, wenn dieser Staat oder eine seiner tragenden Institutionen wirklich in Gefahr gerieten." (Süddeutsche)

Siehe auch:
Soziale Explosion in Ungarn
(21. September 2006)
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