Vize-Kulturstaatsminister Schäfer in Weimar:

Affront gegen die Opfer des Nazi-Regimes

Veränderungen in der Außenpolitik gehen nicht selten mit einer Neuinterpretation der Geschichte einher. Die Verbrechen des Nazi-Regimes haben lange Zeit eine zurückhaltende deutsche Außenpolitik begründet, die auf Großmachtallüren und Militäreinsätze verzichtete. Nun, da die Bundeswehr wieder zu Kampfeinsätzen in die ganze Welt geschickt, Deutschland am Hindukusch verteidigt und Interessenpolitik groß geschrieben wird, werden diese Verbrechen zwar nicht geleugnet, wohl aber relativiert.

Vor diesem Hintergrund muss man den Skandal sehen, der die Eröffnung des diesjährigen Weimarer Kunstfestes begleitete.

Der stellvertretende Kulturstaatsminister Prof. Hermann Schäfer hielt dort die Eröffnungsrede zum Thema "Gedächtnis Buchenwald". In dem nahe Weimar gelegenen Konzentrationslager Buchenwald - heute eine Gedenkstätte - waren zwischen 1937 und 1945 250.000 Menschen aus 36 Ländern gefangen gehalten worden. 56.000 starben infolge der Haft oder wurden ermordet. In Schäfers Rede kamen die KZ-Opfer, von denen einige Überlebende im Publikum saßen, allerdings nicht vor. Stattdessen gedachte der Vertreter der Bundesregierung ausschließlich der deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung in Folge des Zweiten Weltkrieges, ohne an die nationalsozialistischen Verbrechen zu erinnern und die Opfer der faschistischen Völkermordpolitik zu würdigen.

Das Publikum ließ sich derartiges nicht bieten. Durch lautes Husten und Rufen störte es den Redner und zwang ihn schließlich mit lautem Klatschen zum Aufhören.

Der Präsident des Internationalen Buchenwaldkomitees Bertrand Herz, der als 14-jähriger Junge in das Lager Buchenwald verschleppt wurde, wo seine Eltern ermordet wurden, nannte einen derartigen Missbrauch einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des Faschismus ohne Beispiel. In einer Presseerklärung zeigte er sich tief bestürzt und verletzt, dass in der Rede weder das KZ Buchenwald noch die Opfer erwähnt, geschweige denn gewürdigt wurden. Herz war besonders beunruhigt, weil Schäfer Mitglied des Stiftungsrates der Gedenkstätte ist. Er frage sich, ob nunmehr der frühere Konsens bei der Beurteilung der nazistischen Verbrechen zwischen den Überlebenden und den für die Gedenkstätte Verantwortlichen aufgekündigt sei.

Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, sprach von einem Skandal wegen des politischen Signals, das von Schäfers Rede ausgehen könne. Knigge fragte offiziell nach, ob Verdrängung inzwischen konsensfähig sei, und forderte die Bundesregierung zu einer Klarstellung ihres Geschichtsbildes auf. Ansonsten müsste man die Festrede als neues Geschichtsbild der Bundesregierung interpretieren, in dessen Mittelpunkt nicht der Holocaust und seine Opfer sondern Flucht und Vertreibung stünden.

Einige Politiker von SPD, Grünen und der Linkspartei forderten Konsequenzen, um weiteren Schaden im In- und Ausland zu verhindern. Sie verlangten eine klare Stellungsnahme von Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU), Schäfers unmittelbarem Vorgesetzten.

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckhard (Grüne) sagte, die Rede sei zu Recht als Provokation empfunden worden. Der SPD-Politiker Thierse bemerkte, dass hier nicht nur "mangelnde Sensibilität für den Anlass und die Adressaten vorliege, sondern eine Akzentverschiebung in den Gewichten unserer Erinnerungskultur."

Weimars Oberbürgermeisters Stephan Wolf (SPD) will sich in aller Form bei der Organisation der ehemaligen KZ-Häftlinge für den Vorfall entschuldigen, und Ulla Jelpke, die innenpolitische Sprecherin der Linkspartei, forderte die Bundesregierung auf, "ihre geschichtspolitischen Energien nicht auf die Inszenierung einer deutschen Opferrolle, sondern auf die vergessenen und noch nicht entschädigten Opfer deutscher Gewaltpolitik zu konzentrieren".

Schäfer zeigte sich anfangs uneinsichtig. Er habe sich thematisch genau an die Vorgaben der Leiterin der Festspiele, Wagner-Urenkelin Nike Wagner gehalten, rechtfertigte er seinen Beitrag. Es sei von einem Vortrag zur "Erinnerungspolitik in allgemeiner Hinsicht" die Rede gewesen. Sollte dies zu "Missverständnissen" oder "Unzufriedenheit beim Publikum" geführt haben, bedaure er dies, habe es "allerdings nicht zu vertreten". Außerdem sei das Publikum unruhig gewesen, weil es die auf dem Programm stehende neunte Sinfonie Mahlers habe hören wollen und nicht verstehen konnte, warum es "mit Reden auf die Folter gespannt wird".

Schließlich ließ Schäfer eine laue Entschuldigung folgen. In einer Kultursendung des Fernsehsenders 3sat bedauerte er, dass er die Opfer des Nationalsozialismus in seiner Rede nicht erwähnt habe.

Forderungen nach einem Rücktritt von seinem politischen Amt ließ Schäfer unbeachtet und wusste dabei Staatsminister Neumann hinter sich. Dieser bedauerte offiziell die Äußerungen seines Stellvertreters. Da dieser sich jedoch entschuldigt habe, sei die Sache für ihn erledigt.

Der medienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Wolfgang Börnsen hält die Reaktion auf die Rede für überzogen. Wegen eines "Missverständnisses" sei es absurd, eine Debatte über das Geschichtsverständnis der Bundesrepublik anzustoßen.

Dass die Bundesregierung aus Schäfers Fehltritt keine Konsequenzen zieht, kann nur als politisches Signal verstanden werden. Der 1942 geborene Historiker ist zwar kein verkappter Neonazi. Das schiere Unverständnis, mit dem er auf den durch seine Rede ausgelösten Eklat reagiert, ist aber typisch für die konservativen Kreise, die seit dem Historikerstreit der 1980er Jahre immer kecker ihr Haupt erheben. Sie wollen die Verbrechen der Nazis nur als eines unter vielen, letztlich als eine Folge der "Verbrechen des Kommunismus" sehen.

Der Bonner Geschichtsprofessor Schäfer ist in der Ära Kohl zu einer Art Staatshistoriker geworden. Er leitete das 1987 gegründete Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und war in jüngster Zeit für die in Bonn und Berlin gezeigte Ausstellung "Flucht - Vertreibung - Integration" verantwortlich, deren Schwerpunkt die Vertreibung von Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs bildet. Schäfer ist Mitglied zahlreicher Gremien, darunter auch des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung "Zentrum gegen Vertreibungen" vom notorisch rechtslastigen Bund der Vertriebenen.

Wie sehr die Vertriebenenfrage benutzt wird, um das Geschichtsbild zu revidieren, zeigt auch eine Anordnung des Bundesinnenministeriums, zum "Tag der Heimat" am 2. September alle Dienstgebäude des Bundes zu beflaggen. Am ersten Sonntag im September wird alljährlich der deutschen Heimatvertriebenen gedacht. Diese Anordnung wurde von der Kulturabteilung Neumanns und Schäfers an alle KZ-Gedenkstätten weitergeleitet, die demnach ebenfalls zum Andenken der Heimatvertriebenen hätten Flagge zeigen müssen. Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass es in Deutschland keinen Tag der KZ-Opfer gibt und dass zu deren Andenken auch keine Flagge gehisst wird.

Offenbar begleitet man die Vorbereitung auf weitere und umfangreichere Militäreinsätze der Bundesrepublik im Ausland auch ideologisch. Die Deutschen sollen wieder eingeschworen werden auf die Durchsetzung so genannter nationaler Interessen.

Die uneingeschränkte Verurteilung der Kriegspolitik der Nazis, der Unterdrückung und Liquidierung politisch Oppositioneller, der Euthanasie und des Völkermordes und das Gedenken an die Opfer steht offenbar im Widerspruch zu den aktuellen Interessen der herrschenden Klasse in Deutschland, wo man im Schulterschluss mit der US- Administration eine Neuordnung der Welt, die Aufteilung der Rohstoffquellen und Absatzmärkte anstrebt.

Deutsche Großmannssucht und Aggression gegenüber anderen Völkern führten im vergangenen Jahrhundert schon zweimal in die Katastrophe. Nicht mehr daran zu erinnern, bereitet die nächste weltweite Katastrophe ideologisch vor.

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