Streiflichter von der Frankfurter Buchmesse 2006

Über 286.000 Menschen besuchten die diesjährige Frankfurter Buchmesse, viele von ihnen voller Erwartungen auf kulturelle Highlights und interessante Einblicke in die Welt der Literatur. Sie alle tauchten erst einmal in einen Riesenrummel von über 7.000 Ausstellern mit 350.000 Büchern und Tausenden Veranstaltungen und Events zu allen erdenklichen Themen ein, die von Politik, Literatur und Kunst über Kinderbücher und Esoterik bis hin zum Kochen reichten.

In diesen vier Tagen sei die Frankfurter Buchmesse das "intellektuelle, literarische, politische Zentrum der Welt", behauptete der hessische Staatsminister Stefan Grüttner bei der Eröffnung. In Wirklichkeit ist sie in erster Linie ein großes Geschäft, ein gigantischer Markt mit der Ware "Kultur", ein Kampf der Verleger und Grossisten um Rechte und Lizenzen, der Buchhändler und Investoren um Kunden und Absatzmöglichkeiten.

Die Konkurrenz hat sich in den letzten Jahren erheblich verschärft, was man an ständig neuen Fusionen sehen kann, zuletzt an der von Hugendubel und Weltbild zum größten Buchhändler Deutschlands. Entsprechend schwieriger wird es für die Tausenden kleineren Verlage und Buchhändler. Auf der Messe versuchten sehr viele Aussteller, mit möglichst auffälligen, spektakulären Mitteln die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was den durchschnittlichen Besucher nur verwirren und ermüden konnte.

Es war eine Messe des Kommerz’ und ohne großen Tiefgang. Schon die Eintrittspreise an den für das Fachpublikum reservierten Wochentagen ließen so manchen Autoren, Übersetzer, Lektoren oder kleinen Buchhändler schlucken: Der Eintritt kostete an der Tageskasse 32 Euro, für alle drei dem Fachhandel reservierten Tage 63 Euro.

Die Veranstaltungen erwiesen sich meist als oberflächlich und gaben die Mainstream-Meinungen wider, selbst wenn sie sich mit aktuellen und interessanten Themen befassten. Eine Diskussion über "Gemeinsamkeiten von China und Indien und ihre Beziehungen zu Deutschland" entpuppte sich als Versammlung knallharter globaler Geschäftsmanager nebst diplomatischem Personal der Bundesregierung.

Auf einer Arte-Veranstaltung wurde ein deutsch-französisches Geschichtslehrbuch für Gymnasialklassen namens "Histoire! Geschichte!" als "weltweit erstes binationales Geschichtsbuch" vorgestellt. Leider gingen die Autoren und Initiatoren - Pierre Monnet aus Frankreich, Horst Möller vom deutschen Institut für Zeitgeschichte und Rudolf von Thadden - mit keinem Wort auf die Proteste gegen Einseitigkeit und Schönfärberei in diesem Buch ein, zu denen es unter französischen Geschichtslehrern gekommen ist.

Erwähnt wurde jedoch, dass es beim Schreiben Konflikte gegeben habe, weil man zum Beispiel in Frankreich unter "Kommunisten" Widerstandskämpfer gegen die Nazis verstehe, in Deutschland aber sofort an Stalinismus und DDR denke, erklärte Möller. Was war die Lösung der Autoren? "Der Erfolg des Buches besteht im Relativieren" erklärte Monnet, was wohl bedeutet, dass sie den kleinsten gemeinsamen Nenner suchten, ohne die komplexen Prozesse wirklich zu erklären.

Eine Frage des Arte-Moderators machte deutlich, dass das Nein-Votum gegen die EU-Verfassung in Frankreich und Holland bewusst aus dem Buch ausgeklammert wurde, obwohl der Inhalt die Zeitspanne bis zu Merkels Amtsantritt umfasst. Diese Frage sei ja schließlich "noch offen", sagten die Herren.

Gastland Indien

Gastland der Buchmesse war dieses Jahr Indien: Auch hier gab es viel Folklore, Religion, Spiritualismus, Yoga, Tänze, indische Gerichte, etc. Ziemlich oberflächlich verglich Außenminister Frank-Walter Steinmeier in seiner Eröffnungsrede Indien mit Europa, weil es in letzterem zwanzig verschiedene Amtssprachen gebe. Dabei hat Indien, wie auf mehreren Ständen erklärt wurde, weit über vierhundert verschiedene Sprachen, und immer mehr Bücher werden in Hindi, Urdu, Punjabi oder einer andern indischen Sprache veröffentlicht. Noch immer erscheinen jedoch fünfzig Prozent der Bücher in Englisch, obwohl nur vier bis fünf Prozent der Bevölkerung englisch lesen können.

Eins der wenigen wirklichen Highlights der Buchmesse war die Präsenz von Günter Grass, der sein autobiographisches Werk "Vom Häuten der Zwiebel" vorstellte. Der fast achtzigjährige Grass beteiligte sich sehr lebendig an mehreren Veranstaltungen und Diskussionsrunden über Indien und erzählte von seinen Aufenthalten in Kalkutta. Es gelang ihm bei einer Podiumsdiskussion, die Atmosphäre zu vermitteln, auf die er inmitten großen Elends in Kalkutta gestoßen war, als ihn ein Spross einer alten feudalen Familie in einen halbverfallenen Palast mitnahm, wo er in der Bibliothek nicht nur einen großen Schatz indischer Literatur, sondern auch russische und amerikanische Werke vorfand, sogar einen Band von Rilke, wie er sagte.

Ein weiteres Highlight der Buchmesse, für das allein sich der Besuch der Messe schon gelohnt hätte, war die Vorführung des Films "Water" der indischen Regisseurin Deepa Metha. Der Film, der um 1938 vor dem Hintergrund von Indiens Unabhängigkeitskampf und dem Aufstieg Ghandis spielt, handelt vom Schicksal geächteter Witwen. Der Hinduismus billigte damals noch die Kinderheirat mit älteren Männern. Starben diese, wurden die Mädchen zu Kinderwitwen und mussten dem Leben entsagen. Der Film zeigt das Schicksal einer siebenjährigen Kinderwitwe, die in das so genannte Ashram, ein Witwenhaus, gebracht wird, wo sie ihr weiteres Leben verbringen soll. Sie lernt die wunderschöne Witwe Kaljani kennen, die als Prostituierte für den Unterhalt des Ashrams sorgen muss.

Der Film wurde beim Drehen von Hindu-Fundamentalisten heftig bekämpft, teure Kulissen zerstört und die Filmemacher mit dem Tod bedroht. Ein Glück, dass er dennoch vollendet wurde: Er vermittelt wundervolle Eindrücke, und der Titel "Water" wird auf vielfältige Weise umgesetzt: als breiter Fluss, der das Leben begleitet, als heiliges Wasser der von Religion geprägten Welt, als Monsunregen, der den Zuschauer völlig umfängt, als Tränen... Man ist mittendrin, und jede Einstellung ist ein wunderschönes Bild.

Der Film macht deutlich, dass das Unrecht gegen die Witwen im Grunde nicht wegen der Religion geschieht - es gibt sogar schon anderslautende Gesetze und Bestimmungen im Land - sondern aus wirtschaftlichen Gründen, wegen der Armut vieler Haushalte, für die ein Esser weniger, ein Bett weniger und mehr Platz im Haus große Bedeutung haben.

Offener Konflikt über Bootsflüchtlinge

Am Samstag wurde vor der Frankfurter Buchmesse eine Kundgebung gegen Abschiebung abgehalten. Es war der 7. Oktober, Jahrestag der Eskalation beim Sturm auf die Grenzzäune von Ceuta und Melilla, den spanischen Exklaven in Marokko. Die von Flüchtlingsinitiativen und der Lehrergewerkschaft GEW organisierte Protestaktion forderte einen Abschiebestopp und Bleiberecht für alle geduldeten Flüchtlinge in Deutschland.

An diesem Tag kam es bei einer Veranstaltung zum offenen Konflikt. Im Diskussionsforum des Auswärtigen Amtes auf der Buchmesse fand ein Podiumsgespräch über Bootsflüchtlinge statt, an dem zwei Autoren teilnahmen, der Marokkaner Mahi Binebine, Autor des Buches "Kannibalen" über nordafrikanische Einwanderer in Europa, und Klaus Brinkbäumer. Letzterer hatte mit einem Einwanderer gemeinsam dessen beschwerliche Reise übers Mittelmeer nachvollzogen und darauf seinen authentischen Bericht "Der Traum vom Leben - eine afrikanische Odyssee" geschrieben. Weiterer Gast war Carmen Romero López, spanische Parlamentarierin der Sozialistischen Partei PSOE. Diskussionsleiter war Samuel Schirmbeck vom Hessischen Rundfunk, der als ARD-Korrespondent zehn Jahre in Algier zugebracht hatte.

In den Berichten kamen wirklich schreckliche und entlarvende Einzelheiten über die Not der Tausenden afrikanischen Bootsflüchtlinge ans Licht, über die Verzweiflung und Stagnation in der Heimat, die sie auf die Reise treibt, wie über das ungewisse Schicksal und die ständige Todesbedrohung, die sie erwarten. Die von Otto Schily, früherer deutscher Innenminister, vorgeschlagenen Auffanglager in Nordafrika wurden korrekt als Stacheldraht-gesicherte Konzentrationslager bezeichnet.

Interessant waren die Informationen über die neue EU-Behörde namens Frontex, die in Warschau stationiert ist und die EU-Patrouillen und Marinetruppen vor den Küsten Westafrikas bei ihrer Jagd auf die Schlauchboote der Flüchtlinge koordiniert. Als Folge dieser Politik der EU weichen viele Einwanderer auf die wesentlich weiteren Routen über den Atlantik aus, was mit ungleich größeren Gefahren für die Flüchtlinge einher geht und die Zahl der Todesopfer stark in die Höhe treibt.

López und Schirmbeck forderten eine "humanitäre, nicht-polizeiliche Lösung" und beklagten das Fehlen einer Afrika-Behörde in Brüssel. Sie vermieden eine Antwort auf die Frage, warum denn in der Praxis immer zu "polizeilichen Lösungen" gegriffen wird. Allein in den letzten zwei Wochen hat Spanien, wie das Madrider Innenministerium bekannt gab, über 2.200 Afrikaner abgeschoben. In diesem Jahr wurden schon siebzehnmal so viele "Illegale" abgeschoben wie vor fünf Jahren.

Schirmbeck beteuerte, die europäischen Länder bräuchten ja eigentlich die Einwanderer für ihren wirtschaftlichen Aufstieg. Nur hätten leider der 11. September und der Terrorismus für wachsende Angst und Unsicherheit in den europäischen Staaten geführt. Dann kam er aus heiterem Himmel auf das Thema Islamismus zu sprechen und begann über Muslime zu schimpfen.

An dieser Stelle ging das Publikum, in dem unter anderen auch Angehörige von Flüchtlingsorganisationen und eine Reihe Afrikaner saßen, regelrecht auf die Barrikaden. Als Schirmbeck ausrief: "Wir haben ja nicht ein Ausländerproblem, sondern ein Islamismusproblem!" wurde ihm aus dem Publikum zugerufen: "Nein! Wir haben ein Moderatorenproblem!"

Die unerwartete Hetze über Moslems wurde allgemein als Ausdruck europäischer Arroganz den Afrikanern gegenüber aufgefasst. Mehrere Besucher meldeten sich zu Wort. Die Leiterin eines afrikanischen Frauenkomitees und Stadträtin in Erlangen, sagte, sie sei gerade aus Dakar zurückgekehrt, und fragte: "Glaubt ihr eigentlich, die Leute im Senegal machen sich keine Gedanken darüber, wenn ihre stärksten und am besten ausgebildeten Söhne alle wegziehen?" Der Schriftsteller Luc Degla fragte, warum auf dem Podium kein einziger schwarzer Sprecher sitze, erinnerte an den Ausverkauf afrikanischen Bodens an die europäischen Mächte und verteidigte die Einwanderer in Europa, die heute gar keine Alternative zum Auswandern haben.

Schirmbeck tat, was er konnte, um zu beschwichtigen. Am Schluss stand die Frage im Raum, wer denn eigentlich zuerst seinen Kontinent verlassen habe, um sich ein besseres Leben aufzubauen? Es waren die Europäer - "und sie brauchten kein Visum", wie jemand ergänzte.

Arbeiterpresse Verlag

Der Arbeiterpresse Verlag war mit einem eigenen Stand auf der Buchmesse vertreten und stellte unter zahlreichen marxistischen Werken den neu erschienenen Band von Leo Trotzki, "Verteidigung des Marxismus", vor. Er enthält Briefe und Artikel aus den Jahren 1939-40, in denen sich Trotzki mit der innerparteilichen Opposition in der amerikanischen Socialist Workers Party auseinandersetzt. In seiner Analyse der Sowjetunion und der Rolle der stalinistischen Bürokratie zu Beginn des zweiten Weltkriegs arbeitet Trotzki insbesondere die Bedeutung des dialektischen Materialismus heraus.

Außerdem präsentierte der Stand die deutsche Fassung von Wadim S. Rogowins Buch "Stalins Kriegskommunismus". Es ist der zweite Band der siebenbändigen Reihe "Gab es eine Alternative?", von der nun die Bände zwei bis sechs in deutscher Sprache vorliegen. Die Reihe untersucht anhand von Materialien aus den früher verschlossenen Archiven das Wesen der Opposition gegen den Stalinismus von links, aus den Reihen der Arbeiterklasse und der internationalen Linken Opposition. Diese wächst, wie der neue Band nachweist, trotz Isolation, Verbannung und zunehmender Repression in den Jahren 1928-32 noch an und wird erst Ende der dreißiger Jahre - durch den nackten Terror der "Säuberungen" - in der Sowjetunion zum Verstummen gebracht. Der Band enthält wertvolle Dokumente über diesen heroischen Kampf.

Viele Interessierte blieben zu einer kurzen Diskussion an dem Stand stehen, stellten Fragen über das politische Programm der PSG und nahmen sich Bücher und Handzettel mit. Am Arbeiterpresse-Stand gab es auch Handzettel über die WSWS -Kampagne zur Aufklärung des Mords an dem SEP-Anhänger Sivapragasam Mariyadas in Sri Lanka, die zu Protestbriefen an die srilankische Regierung auffordern.

Siehe auch:
Die SEP in Sri Lanka fordert vollständige Aufklärung des Mordes an Sivapragasam Mariyadas
(7. September 2006)
Stoppt die Angriffe der Hindu-Extremisten auf die indische Filmemacherin Deepa Mehta
( 14. März 2000)
The plight of widows in India: Water written and directed by Deepa Mehta
( 15. Mai 2006)
Erstes Flüchtlingslager der EU soll schon bald in Libyen entstehen
( 24. August 2004)
Verlagsprogramm des Arbeiterpresse-Verlags
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