Antikriegsstimmung in den USA wächst

Ex-Soldat verurteilt Bush-Regierung und ihre Kriege

Pat Tillman war ein Profisportler und Soldat der US-Armee, als er in Afghanistan durch so genanntes "friendly fire", d.h. Schüsse von der eigenen Seite, getötet wurde. Sein Bruder Kevin greift nun öffentlich die Bush-Regierung an und verurteilt die Kriege in Afghanistan und dem Irak ebenso wie die Angriffe auf demokratische Rechte in den Vereinigten Staaten selbst.

Die Tillman-Brüder hatten sich nach dem 11. September zum Dienst in der Armee gemeldet. Pat Tillmans Entscheidung, seine lukrative Karriere in der National Football League aufzugeben und ins Militär einzutreten, galt der Presse damals als Beispiel dafür, welch starke Unterstützung Bushs "Krieg gegen den Terror" in der Öffentlichkeit angeblich genoss.

Kevin und Pat wurden im Irak eingesetzt, dann in die Eliteeinheit Army Rangers aufgenommen und nach Afghanistan gesandt. Im April 2004 starb Pat durch Schüsse seiner Kameraden, nachdem seine Einheit geteilt worden war, die beiden Soldatentrupps irrtümlich aufeinander stießen und sich unter Beschuss nahmen.

Kevin diente zwar in der gleichen Einheit, war aber beim Tod seines Bruders nicht zugegen. Anfangs wurde ihm ebenso wie der amerikanischen Öffentlichkeit mitgeteilt, Pat sei in offener Schlacht mit Taliban-Kämpfern den Heldentod gestorben. Erst Monate später erfuhren Kevin und die Tillman-Familie, dass Pats Tod auf "friendly fire" zurückging. Zu diesem Zeitpunkt begann in der Armee auch eine Untersuchung zu den Todesumständen und der nachfolgenden Vertuschung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

Offenbar hat Kevin Tillman in den drei Jahren, seitdem er aus der Armee ausgeschieden ist, ernsthaft über den Charakter der Bush-Regierung und ihrer Kriege nachgedacht. Seine Erklärung ist die schärfste Kritik am Krieg, die in den amerikanischen Medien zu finden ist, auch wenn bisher nur wenige Bruchstücke daraus veröffentlicht wurden. Die ganze Erklärung ist auf der Website TruthDig nachzulesen (siehe: http://www.truthdig.com/report/item/200601019_after_pats_birthday/).

Kevins Kommentar trägt die Überschrift "Nach Pats Geburtstag", weil Pat Tillman am 6. November, einen Tag vor den bevorstehenden amerikanischen Kongresswahlen, dreißig Jahre alt geworden wäre.

Kevin Tillman führt die verschiedenen Begründungen an, die die US-Regierung für den Krieg im Irak gegeben hat: die angebliche Bedrohung der amerikanischen Bevölkerung; die vorgebliche Existenz von Massenvernichtungswaffen; die Behauptung, der Irak stecke hinter den Anschlägen vom 11. September; die Erklärung, Ziel des Kriegs sei die Verbreitung von Demokratie.

"Irgendwie gilt die illegale Invasion als umso legitimer, je mehr Soldaten sterben", schreibt er. "Die amerikanische Führung zeichnet sich nur dadurch aus, dass sie ihre Bevölkerung belügt und eine Nation widerrechtlich überfallen hat. Irgendwie hat man zugelassen, dass diese Regierung ihren Truppen vor Ort den Mut, den Charakter und die Ehre nimmt."

Im Mittelpunkt von Tillmans Kommentar steht eine leidenschaftliche Anklage der Bush-Regierung wegen ihrer Angriffe auf demokratische Rechte. Sie verdient, ausführlich zitiert zu werden:

"Irgendwie haben unsere gewählten Führer das Völkerrecht und die Menschlichkeit untergraben, indem sie auf der ganzen Welt Geheimgefängnisse errichtet, Menschen im Geheimen gekidnappt, sie im Geheimen nicht angeklagt, sie im Geheimen gefoltert haben. Irgendwie wurde die Schuld an dieser offenen Folterpolitik einigen wenigen ‚fauler Äpfel’ im Militär zugeschoben. [...]

Irgendwie wird die Unterhöhlung der Grundrechteerklärung und der Verfassung toleriert. Irgendwie ist die Außerkraftsetzung von Habeas Corpus [dem Recht auf Haftprüfung] angeblich nötig, um dieses Land sicher zu machen. Irgendwie wird Folter toleriert. Irgendwie wird Lüge toleriert. Irgendwie wird Vernunft durch Religion, Dogma und Unsinn ersetzt. Irgendwie schafft es die amerikanische Führung, die Welt gefährlicher zu machen. Irgendwie ist eine Erzählung wichtiger als die Realität."

Im Folgenden drängt Tillman die amerikanische Bevölkerung, etwas gegen den Krieg und die dafür verantwortliche Regierung zu tun: "Irgendwie wurde das politische Wissen, das Interesse, die Skepsis durch aktive Ignoranz in Apathie verwandelt. Irgendwie sind die gleichen inkompetenten, selbstverliebten, charakterschwachen, rückgratlosen und heimtückischen Kriminellen immer noch für dieses Land verantwortlich. Irgendwie wird das toleriert. Irgendwie wird niemand dafür verantwortlich zu machen. [...]

Zum Glück ist dieses Land immer noch eine Demokratie. Die Menschen haben immer noch eine Stimme. Die Menschen können immer noch was tun. Es kann am Tag nach Pats Geburtstag beginnen."

Die Schlussfolgerung, bei den Kongresswahlen müsse man den Kriegsgegnern unter den Kandidaten die Stimme geben, widerspiegelt die gewaltige und vollständig berechtigte Empörung von Millionen Amerikanern am Vorabend der Wahlen. Nutznießer einer solchen Mobilisierung wütender Antikriegswähler wird aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch die Demokratische Partei sein, die eine weitere amerikanische Besatzung im Irak und in Afghanistan bedingungslos unterstützt.

In diesem Sinne zeigt sich an Tillmans Erklärung das zentrale politische Problem, vor dem die arbeitende Bevölkerung der Vereinigten Staaten steht: Gegen den amerikanischen Imperialismus gibt es keine tatsächliche, konsequente und prinzipienfeste Opposition - ausgenommen nur die Socialist Equality Party und die World Socialist Web Site. Die Stimmung breiter Arbeitermassen findet im politischen oder medialen Establishment keinen ernstzunehmenden Widerhall.

Noch eine andere Stelle in Tillmans Erklärung zeigt, dass sein politisches Verständnis begrenzt ist. So schreibt er: "In einer Demokratie ist die Politik der Führer die Politik des Volkes." Dies lässt eine Grundtatsache der amerikanischen Gesellschaft außer Acht: Das "Volk" ist in Klassen gespalten, und die Klasse, die den Reichtum für sich beansprucht, kontrolliert die Regierung und die beiden politischen Parteien, Demokraten wie Republikaner.

Das Volk "wählt" die Führer nur in dem Sinn, als es alle zwei oder vier Jahre für Kandidaten stimmen darf, die ihm von der Finanzelite handverlesen serviert werden. Das Volk wählt nicht die Politik der Regierung. Diese wird durch die gesellschaftlichen Interessen der herrschenden Klasse bestimmt und von den Massenmedien dem amerikanischen Volk in schöner Verpackung verkauft.

Tillmans Anklage gegen den Irakkrieg und die Bush-Regierung erschien am 19. Oktober auf der Website TruthDig. Drei Tage lang wurde sie von der Presse ignoriert, bis am Sonntag eine Agenturmeldung darauf aufmerksam machte. Diese wiederum erschien am Montag in den großen Tageszeitungen, darunter die Washington Post und die New York Times, aber keine einzige Zeitung oder Fernsehsendung brachte einen weiterführenden Bericht dazu.

Dieselben Medien berichteten nach dem 11. September in aller Ausführlichkeit über die Entscheidung von Pat und Kevin Tillman, in die Armee einzutreten. Damals wurde ihre Bereitschaft, das höchste Opfer im "Krieg gegen den Terror" zu bringen, jedem jungen Amerikaner als beispielhaft vorgeführt. In den ersten Tagen nach Pat Tillmans Tod nahm das Medieninteresse sogar noch zu, als er einen patriotischen Märtyrer abgeben sollte, der angeblich bei der Verteidigung seines Landes den Tod gefunden hatte. Dagegen gab es nur kurze Berichte zu der Nachricht, dass Pats Tod auf "friendly fire" zurückging, und Kevins erbitterter Angriff auf die Bush-Regierung wird nun beinahe totgeschwiegen.

Bezeichnenderweise zitierte die Presse zwar Tillmans Angriff auf den Krieg und auf die "heimtückischen Kriminellen" in der Bush-Regierung. Aber seine Kritik an den Angriffen auf demokratische Rechte - verkörpert durch den Patriot Act, das Gesetz zur Einrichtung von Militärkommissionen oder die geheimen CIA-Foltergefängnisse - sind den Medien keine Erwähnung wert. Es ist leicht zu erkennen, dass hierdurch Tillmans Angriff auf das Gesamtgefüge des von beiden Parteien getragenen "Kriegs gegen den Terror" verfälscht werden soll, um die Antikriegsstimmung in kontrollierte Bahnen und auf die Mühlen der Demokratischen Partei zu lenken.

Siehe auch:
In Washington wird die Forderung nach einem "Kurswechsel" in der Irakpolitik immer lauter
(24. Oktober 2006)
Menschenrechtsgruppen verurteilen Einführung von Militärkommissionen
( 5. Oktober 2006)
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